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Titel
Dokumentarische Genres. Gattungsdiskurs und Programmpraxis im DDR-Fernsehen


Autor(en)
Prase, Tilo
Erschienen
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 27,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joan Bleicher, Institut für Germanistik II, Hans-Bredow-Institut / Universität Hamburg

Die Wissenschaftler der Forschergruppe zur Programmgeschichte des DDR-Fernsehens publizieren in ihrer Publikationsreihe MAZ (Materialien Analysen Zusammenhänge) eine Vielzahl wichtiger Untersuchungen, die bisherige Lücken der fernsehhistorischen Forschung schließen. Der kürzlich verstorbene Leipziger Medienwissenschaftler Tilo Prase befasst sich anhand einer Vielzahl von Sendungen mit der historischen Entwicklung dokumentarischer Genres im DDR-Fernsehen und berücksichtigt dabei auch die Fernsehverwertung von Kinoproduktionen. Seiner Darstellung legt er ein eigenes Phasenmodell der Geschichte des DDR-Fernsehens zugrunde, das er mit der bisherigen Phasenbildung der Fernsehgeschichte von Knut Hickethier und Peter Hoff vergleicht und dem er die jeweils vorgestellten Produktionen zuordnet. Prase unterscheidet dabei nicht nur zwischen Experimentier-, Formierungs- und Etablierungsphasen, sondern er bezieht auch die Entwicklung der Senderorganisation und die Konkurrenz mit dem westlichen Fernsehangebot ein (S. 10).

Da über die 1970er- und 1980er-Jahre bereits publiziert wurde, beendet Prase seinen Überblick mit dem Beginn der 1970er-Jahre. 1 Die Ursprünge des Dokumentarfernsehens sind zunächst von einer „Übernahme der Kinofilme und Anlehnung an dessen Rezeptionsprozess“ (S. 20) geprägt. „Domiziliation heißt, der Kinodokumentarfilm findet Platz und Aufenthaltsort im Fernsehprogramm und behält seine Integrität als „Fremder“, sprich seine mediale Spezifik und ist Gast im sich allmählich füllenden Haus.“ Ausführlich werden die Kinodokumentarfilm-Produktionen aufgelistet, die in den 1950er-Jahren im Fernsehen zu sehen waren (S. 21). Auch bei der Darstellung weiterer Entwicklungsphasen wird eine Vielzahl von Sendungsbeispielen integriert.

In der zweiten Phase, der „Experimentier- und Formierungssphase“ bildeten sich redaktionelle Strukturen heraus. Erprobt wurden Formen wie die „Fernsehlifereportage“, die Magazinform, Porträts, Wirtschafts- und Wissenschaftsreportagen und die filmische Auslandsberichterstattung vorzugsweise aus der Sowjetunion (S. 42). Ein nun eher analytisch ausgerichtetes Grundkonzept der Dokumentationen des DDR Fernsehens wird in der Bezeichnung von Filmen als „Untersuchung“ erkennbar (S. 43). Auf der Ebene der Programmstrukturen zeichnet sich eine Serialisierung ab. Doch auch die Entwicklung dokumentarischer Formen in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren ist aus Prases Sicht in die politischen Kontexte des Kalten Krieges eingebunden. „Die Anklage der ‚renazifizierten’ BRD wurde auch zu einem Fernsehauftrag.“ (S. 43) Mit „der Parallelkonstruktion von Roter Optik und Schwarzem Kanal“ entstand ein „Prototyp des Klassenkampfes im Äther“ (S. 47). Und selbst gegen Peter von Zahns „Bilder aus der Neuen Welt“ setzte das DDR-Fernsehen Reihen wie „Report aus der Neuen Welt“ (1969), in der natürlich über „die Sowjetunion als die eigentliche Neue Welt“ (S. 47) berichtet wurde. Als weitere thematische Linien sieht Prase den Aufbau in Stadt und Land, die Vorbilder für Arbeit und Jugend und die materielle Produktion in aktuellen Reportagen (S. 55). Natürlich werden auch private Themen wie Ehe und Familie oder aktuelle wissenschaftliche oder technische Entwicklungen zum Gegenstandsbereich von Dokumentationen (S. 72ff.).

Prases historische Darstellungen enthalten viele informative Details zu Teilbereichen wie etwa allgemeine politische Zielsetzungen, Konzepte der Programmplanung, Redaktions- und Programmstruktur-Veränderungen, thematische und formale Entwicklungen, die vereinzelt auch von politisch gefärbten Wertungen begleitet werden. Zu den Konzepten des DDR-Dokumentarfilms zählte unter anderem die „intensive Beobachtung“ etwa der Gesichter von Arbeitern (S. 32), aber auch die Abgrenzung von westdeutschen Entwicklungen (S. 34). Formale Darstellungselemente etwa im Bereich der Kameraführung werden von Prase vor allem dann erwähnt, wenn sie von der Norm abweichen oder neue Trends etwa im beobachtenden Dokumentarismus einleiten. Die Ausführungen zur Programmpraxis verwenden senderinternes Archiv-Material und orientieren sich an den jeweils verantwortlichen Mitarbeitern, deren Biografien kurz vorgestellt und die auch in Zeichnungen des Fernsehdienstes porträtiert werden. Protokollierte Erinnerungen von Mitarbeitern illustrieren die Zusammenhänge in den Produktionsabläufen zusätzlich. Prase befasst sich auch mit den jeweiligen Botschaften von Filmen, die im engen Bezug zur politischen Lage des Landes stehen (S. 30). Für künftige Forschungsarbeiten liegt es nahe, die Ergebnisse Prases noch stärker und detailgenauer in Beziehung zu den Entwicklungen des bundesdeutschen Fernsehdokumentarismus zu setzen.

Der zweite Teil des Bandes widmet sich der Theoriegeschichte und beschreibt den „Diskurs zur Gattung der dokumentarischen Formen“, der in Berlin, Potsdam-Babelsberg und Leipzig geführt wurde. Im Zentrum stehen die Arbeiten von Peter Wuss, da sein Ansatz der einzige in der DDR war, „der künstlerischen Dokumentarfilm und Fernsehjournalistik zusammenschauend fasste.“ Sein probalistisches Gattungs- und Genremodell habe sich als „flexibel und elastisch über Zeitengrenzen hinweg“ erwiesen und berge einigen heuristischen Wert (S. 12). Prase fasst die von ihm untersuchten Sendungsbeispiele in einem eigenen Genremodell zusammen, das die spezifischen Merkmalsdimensionen berücksichtigt (S. 270, S. 274).

Prases Rückblick bietet einen ebenso informativen wie anschaulichen Einblick in frühe Entwicklungen des Fernsehdokumentarismus in der DDR und ist daher ein unverzichtbarer Bestandteil künftiger medienhistorischer Forschungsarbeiten.

Anmerkungen:
1 Prase, Tilo; Schier, Corinna, Der dienstbar gemachte Dokumentarfilm. Zu Funktion und programmstruktureller Rolle dokumentarischer Formen zwischen 1981 und 1985, in: Dittmar, Claudia; Vollberg, Susanne (Hrsg.), Alternativen im DDR-Fernsehen? Die Programmentwicklung 1981 bis 1985. Leipzig 2004 (=MAZ 13).

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