Fomin, Valerij I. (Hrsg.): Kino na vojne. . Moskau 2005 : Materik, ISBN 5-85646-137-1 941 S.

Anderson, K. M.; Maksimenkow, L. W.; Koschelewa, L. P.; Rogowaja, L. A. (Hrsg.): Kremljowski kinoteatr 1928-1953. . Moskau 2005 : Rosspen, ISBN 5-8243-0532-3 111 S.

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guenter Agde, Berlin

Die beiden hier annoncierten Bände bieten insgesamt 770 Dokumente, die für die Geschichtsschreibung der sowjetischen Kinematografie von außerordentlichem Wert sind. Sie stellen eine enorme Publikationsleistung dar, die auch für außer-russische Interessenten von erheblichem Belang ist. Beide Quellenpublikationen verdanken sich im Grunde dem 2005 verstorbenen Moskauer Politiker Alexander Jakowlew, der die „Kommission zur Rehabilitierung der Opfer aus der Stalinzeit“ leitete. 1 In dieser Funktion hat er eine historisch außerordentlich wertvolle Publikationsstrategie initiiert und maßgeblich gestützt: Aus den Moskauer Archiven (insbesondere aus dem ehemaligen KPdSU- Archiv) sind unter seiner Ägide jeweils umfängliche Sammelbände mit bislang geheimen Dokumenten zu vielerlei politischen Feldern veröffentlicht worden. Zur Qualität dieser Publikationen gehören nüchterne Kommentierung, ordentliche Register und wissenschaftlich fundierte Anmerkungen, Nachweise und Personalia. All dies trifft auch auf die beiden vorliegenden Bände zu.

Die dort abgedruckten Dokumente spiegeln in außerordentlich vielen Facetten und Details, wie durch Stalins Regime die gesamte sowjetische Filmproduktion und Filmindustrie über die Jahre hin formiert wurde, um die propagandistischen Ziele der Sowjetunion mit den reichen Möglichkeiten des seinerzeit modernsten und flexibelsten Massenmediums zu stützen und zu propagieren. Insbesondere in den 1930er-Jahren – zeitgleich mit dem „Großen Terror“ – installierte das Regime entscheidende Mechanismen der Produktion und Distribution von Film als Mittel der Machtfestigung und Stabilisierung. Man liest mit großer Spannung, wie ein zentrales Werkzeug dieser Instrumentalisierungen, die Zensur, auf den vielen und oft nicht einfach zu durchschauenden Funktionärsebenen funktionierte. Insbesondere wird die geradezu ziselierte Feinmaschigkeit plastisch, ebenso wie die gegenseitigen Abhängigkeiten innerhalb des Restriktions- und Anleitungsapparates. Kenntlich wird auch, wie sich sukzessive die Selbstzensur innerhalb der Filmproduktion als durchaus opportune, aber auch selbstzerstörerische Reaktion auf die Restriktionen „von oben“ in die Filmemacher „einfraß“.

Die sogenannte Kinofizierung (Kinofikazija) des Landes Mitte der 1930er-Jahre hatte die flächendeckende Versorgung mit Kinotheatern zum Ziel und erreichte mit der kostspieligen, aber letzten Endes rentablen Umrüstung der Kinos von Stumm- auf Tonfilm eine neue Qualität. Damit gewann der Film in der Sowjetunion endgültig den Status eines ideologiebildenden und -prägenden Mediums, den es bis zum Ende der Sowjetunion innehielt, mit diversen, auch historisch bedingten Graduierungen, die in „Kremljowski kinoteatr“ nachzulesen sind. Bei Lichte besehen entstand in der Sowjetunion kein Film ohne – zuweilen erhebliche – Eingriffe von außen. Gewiss, diese Vorgänge waren hierzulande in ihrem Wesen bereits bekannt. Die Arbeit Eberhard Nembachs und der von Christine Engel herausgegebene Band „Geschichte des sowjetischen und russischen Films“ haben solide, informative Vorarbeiten geleistet.2 Jedoch ist es etwas anderes, nun im dokumentarischen Original die Details dieser Vorgänge zu studieren.

Ein Schlüsseldokument sind die Schumjazki-Notate („Kremljowski kinoteatr“, S. 919ff): Boris Schumjazki (1886-1938), ein Stalin ergebener Parteifunktionär, leitete bis zu seiner Verhaftung 1937 die Hauptabteilung für Film beziehungsweise Filmwesen (GUK bzw. GUKF, Glavnoje Upravlenije Kinematografii bzw. Kinofotopromyschlennosti) und hat sich energisch und durchaus einfallsreich dafür eingesetzt, dass der Film zu einem Hauptmittel der Propaganda wurde, ohne den Unterhaltungs- und Zerstreuungswert von Filmen zu unterschätzen. Schumjazki verantwortete auch die nächtlichen Filmvorführungen für Stalin und seine Entourage im Kreml. 3 Dort ließ sich Stalin sehr oft auch einheimische Filme vorführen, sah sich jedoch nicht nur fertige Filme an, sondern auch Teile von noch unfertigen Streifen (Muster) oder auch nur einzelne Sujets der Wochenschau Sojuskinoshurnal. Schumjazki hat die anschließenden Gespräche der „obersten Genossen“ sofort für sich protokolliert: Heißer sind Meinungen über Filme aus der Moskauer Diktaturzentrale nicht formuliert und überliefert worden! Trotz seiner Stalin-Nähe notierte Schumjazki ohne Beschönigungen, auch wenn die Urteile letztendlich in seine Arbeit eingriffen. 4

Durchgehend deutlich wird eher simpel biedere, unintelligente Kino-Geschmack Stalins und der anderen Funktionäre. Ihr Kunstverständnis könnte man als banal und kleingeistig abtun, wäre da nicht die politische Dimension: Nach Diktatorenart griffen sie fortwährend in Arbeitsprozesse ein, verlangten Änderungen (was oft kostspieliges Nachdrehen verursachte), machten Auflagen für den Kinoeinsatz, ohne mit den Filmemachern zu sprechen, prognostizierten Rezensionen. Sie waren einem Realismus der unteren Stufe verpflichtet: Lineare Abbildung der Realität vermischt mit dem strikten Wunsch nach Idealisierung und Heroisierung. Anderes verstanden sie nicht, verachteten, beschimpften und unterdrückten sie. 5 Allenfalls die Kunstfertigkeit des Theaterstils Stanislawskis ließen sie gelten. Über allem stand der Film „Tschapajew“(1934, Georgij und Sergej Wassiljew), den Stalin nicht genug rühmen konnte und den er sich im Verlauf eines Jahres 14 mal ansah. An dem Film gefiel Stalin, was man seinerzeit demagogisch revolutionäre Romantik nannte: das Illusionär- Propagandistische des draufgängerischen Revolutionärs und makellosen Helden, die Reduzierung von Konflikten auf militärische Antipoden, die Vereinfachung von Personenprofilen auf attraktive Klischees. Ähnliches erwartete er auch von anderen Filmen.

An den Schumjazki-Papieren kann man aber auch studieren, wie Stalin direkt in die Filmarbeit eingriff, zwar nicht unmittelbar in Dreharbeiten, aber doch in Stoff- und Sujetauswahl, in Montage und sogar Musikuntermalung bei Dokumentarfilmen. Hier legte er den gleichen Eifer und die gleiche Rigorosität an den Tag wie Goebbels, der bekanntlich die NS-Kriegswochenschauen selbst zusammenstellte und redigierte. 6 Und auch ideell sind beide hier nicht weit voneinander entfernt: alles Heldische, Verklärende gehörte ins Kino und war damit für ein Millionenpublikum bestimmt. So detailliert und konkret wie sie hier erkennbar wird, war Stalins „Filmarbeit“ bislang noch nicht bekannt.

Walerij Fomin begrenzt seine Dokumenten-Auswahl auf die Kriegsjahre (und hier fügen sich die Hauptteile beider Publikationen gut zusammen). Folglich bevorzugt er Dokumente über die Arbeit der Frontkameraleute, die an den Fronten des Krieges drehten – meist Sujets für die Wochenschau, aus denen später oft längere Dokumentarfilme kompiliert wurden. Zur generellen Zensur kam nun die Militärzensur hinzu. Innerhalb dieser Grenzen – so zeigen die Dokumente und Fomins knappe Kommentare – haben die Frontkameraleute und Dokumentarfilmregisseure erheblich zur Mobilisierung der Bevölkerung für den Krieg beigetragen, und sie haben am Bildergedächtnis dieses Krieges, das bis heute wirkt, deutlich mitgeschrieben.

Informativ sind auch die Dokumente, die Fomin über die Filmarbeit in den Jahren der Evakuierung publiziert: die Filmstudios von Moskau und Leningrad waren während des Krieges komplett in die asiatischen Republiken verlagert worden und produzierten dort weiter. Fomin druckt noch autobiografische Erinnerungen von Frontkameraleuten ab, über die sein Moskauer Institut offenbar in reichem Maß verfügt, so dass sein Buch stellenweise auch wie ein Gedenkbuch wirkt.

In beiden Publikationen fehlen Dokumente aus den Archiven des KGB. Freilich: Man vermisst sie nicht, und vermutlich könnten sie auch nichts sensationell Neues bieten. Die Wirkungskraft der Partei- und Apparatschik-Dokumente ist groß genug.

Anmerkungen:
1 Leider berichtet Jakowlew in seinen Lebenserinnerungen „Die Abgründe meines Jahrhunderts“, Leipzig 2003, nur am Rande über diese Arbeit, die jedoch den freien oder doch weitgehend freien Zugang zu den bis dahin streng verschlossenen Archiven zur Voraussetzung hatte.
2 Nembach, Eberhard, Stalins Filmpolitik, Der Umbau der sowjetischen Filmindustrie 1929-1938, St. Augustin, 2001; Engel, Christine (Hrsg.), Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart, Weimar 1999.
3 Andrej Kontschalowski hat 1991 darüber den Spielfilm „Der innere Kreis“ gedreht, der diese Veranstaltungen aus der Sicht des Filmvorführers behandelt.
4 Das Dossier aus dem Stalin-Sekretariat war seit längerem bekannt. Nun wurde es endlich veröffentlicht, eine deutsche Ausgabe wäre sehr zu wünschen.
5 Vgl. Stalins rüde Äußerungen über avantgardistisch anmutende Szenen in Erwin Piscators Exilfilm „Der Aufstand der Fischer“ von 1934 nach der Novelle von Anna Seghers, Kremljowski kinoteatr, S. 924 und S. 926.
6 Moeller, Felix, Der Filmminister, Goebbels und der Film im Dritten Reich, Berlin 1998.

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