A. Schuhmann: Kulturarbeit im sozialistischen Betrieb

Cover
Titel
Kulturarbeit im sozialistischen Betrieb. Gewerkschaftliche Erziehungspraxis in der SBZ/DDR 1946 bis 1970


Autor(en)
Schuhmann, Annette
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jerome Bazin, Bologne

„Kulturarbeit“ steht für die Aktivitäten der regierenden Partei in der DDR und der Massenorganisationen, insbesondere des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), den Arbeitern einen erweiterten Zugang zum kulturellen Leben zu ermöglichen. Die so genannte „kulturelle Massenarbeit“ umfasste den Aufbau von betrieblichen Kulturhäusern, die Entwicklung von Betriebsbibliotheken, den organisierten Theaterbesuch, das Zusammentreffen zwischen Künstlern und Arbeitern oder die Vorführung von Filmen in den Betrieben. Die vorliegende Arbeit trägt zu einer Richtung der Sozialgeschichte der DDR bei, die sich für die Grenzen der sozialistischen Diktatur im Betriebsalltag interessiert. Gefragt wird nach den Unterschieden zwischen den Ansprüchen und Selbstdarstellungen des Regimes einerseits und der sozialen Realität andererseits. Die kulturellen Aktivitäten in den ostdeutschen Betrieben wurden in diesem Zusammenhang bisher noch nicht systematisch untersucht. 1 Die wichtigste Quellengrundlage der Arbeit bilden die Akten des FDGB-Bundesvorstandes. In einer systematischen Auswertung des Inhalts der Akten berichtet die Autorin über die festgelegten Richtlinien und beleuchtet einige Fälle, die die Situation an der Basis der Betriebe erfassen. Außer dem ersten Kapitel des Buchs, das die chronologische Entwicklung nachzeichnet, folgt die Gliederung danach systematischen Aspekten und widmet sich den Kulturfunktionären, den Kulturhäusern, der Literatur-, Theater- und Kinokampagne sowie den soziologischen Analysen der 1960er-Jahre.

Annette Schuhmann zeigt, dass die Kulturarbeit unter sozialistischen Vorzeichen nicht neu erfunden wurde, sondern es sich durchweg um eine Fortsetzung der Aktivitäten früherer Arbeiterorganisationen handelte, auch der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront (DAF). In der Zeit der SBZ bemühten sich die Kulturfunktionäre vor allem, auf die kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung zu reagieren. Anfang der 1950er-Jahre (nach dem 3. FDGB-Kongress 1950) kam es jedoch zunehmend zu einer immer stärkeren Ideologisierung der kulturellen Aktivitäten. Der so genannte „Nachterstedter Brief“ von 1955 ist ein gutes Beispiel für die Politisierung des kulturellen Lebens durch den FDGB: Dieser Brief einer Nachterstedter Belegschaft an Schriftsteller appellierte an die Künstler, für die Schaffung eines neuen Menschen zu kämpfen.

Ende der 1950er-Jahre begann eine wichtige neue Etappe in der Kulturarbeit. Zwar blieb die Rhetorik der politischen Mobilisierung unverändert, aber der FDGB passte sich an die Vorbehalte der Bevölkerung an und verzichtete stillschweigend auf eine ständige politische Agitation. Die Schaffung der „Brigade der sozialistischen Arbeit“ (1959) begleitete diese Tendenz zur Depolitisierung und Privatisierung des kulturellen Lebens. „Nicht nur, wenn eine Ausstellung besucht wurde, sondern auch wenn im Rahmen der Brigade ein Fest gefeiert oder eine Dampferfahrt organisiert wurde, konnte das als Kulturarbeit gelten.“ (S. 295)

Innerhalb dieser Chronologie konstatiert Annette Schuhmann den andauernden Misserfolg der kulturellen Massenarbeit. Der stark ideologisch aufgeladene Inhalt der Aktivitäten traf auf starke Ablehnung, denn die Arbeiter zogen es vor, die kulturellen Veranstaltungen als Unterhaltungs- und Erholungszeit zu betrachten. Eine Anfrage des Bundesvorstands an alle Abteilungen „Kulturelle Massenarbeit“ des FDGB 1955 zeigt dies: Nur wenige Arbeiter nahmen an den Theaterbesuchen teil, „eine Erneuerung der sozialen Zusammensetzung des Theaterpublikums im Sinne des Bundesvorstands ließ sich offenbar in den fünfziger und sechziger Jahren auch mit Hilfe des Theateranrechts nicht bewerkstelligen“ (S. 249). Kino-Kampagnen, wie zum Beispiel die Popularisierung des Films „Lied der Ströme“, kamen erst gar nicht zustande. Die Leserzahl in den Betriebsbibliotheken stagnierte nach einem anfänglichen Anwachsen sehr bald. Die soziologischen Arbeiten in den 1960er-Jahren über das Leseverhalten, Theater- und Kinobesuche oder die künstlerische Selbstbestätigung der Beschäftigten bewiesen die Vorbehalte der meisten Arbeiter.

Zu den besonderen Verdiensten des Buches gehören die Vorstellung der Akteure der Kulturarbeit und die Darstellung des finanziellen Hintergrunds. Unter den zahlreichen engagierten Akteuren war der FDGB diejenige Organisation, die von der Vereinheitlichung der Kulturarbeit am meisten profitierte. Schuhmann beschreibt ausführlich die Ausbildung von Kadern in FDGB-Schulen und deren allmähliche Professionalisierung in den 1960er-Jahren. Im Betrieb gab es so genannte Kulturfunktionäre (Leiter der betrieblichen Kulturhäuser, Bibliothekar), die ihre Ämter jedoch meist nur ehrenamtlich ausübten. Entsprechend sekundär blieben diese Aktivitäten für die betreffenden Arbeiter.

Nicht zuletzt durch die Kulturarbeit war der FDGB den Arbeitern in den Betrieben viel näher als die SED. Annette Schuhmann interpretiert ihn zwar als „Transmissionsriemen der Macht“ auf politischer Ebene, zugleich habe er sich aber eine gewisse Eigenständigkeit auf kultureller Ebene bewahrt. Die Autorin unterstreicht die Konflikte zwischen dem FDGB und dem Kulturministerium, zum Beispiel über die Verwaltung von Kulturhäusern. Aber solche Konflikte waren anscheinend bloß auf der organisatorischen Ebene angesiedelt, die Politik des Regimes stellten sie nicht in Frage. Von einer Eigenständigkeit der Kulturarbeit des FDGB zu sprechen ist deshalb fraglich. Wichtiger erscheinen die anderen Akteure des kulturellen Lebens, die immer präsenter wurden: Kinos außerhalb des Betriebs, Bezirkbibliotheken, das Fernsehen. Schon sehr früh, von Mitte der 1950er-Jahre an, hatten die Betriebe nicht mehr das Monopol im Bereich kultureller Angebote. Parallel zu dieser Pluralisierung kultureller Angebote öffneten sich die betrieblichen Veranstaltungen für nicht-betriebliche Teilnehmer wie Jugendliche und die gesamte Wohnbevölkerung: Aus betrieblichen Kulturhäusern wurden Volkshäuser. Der Betrieb bildete also nicht mehr das kulturelle Zentrum, trotz des Diskurses über die Verbetrieblichung der Gesellschaft.

Einen weiteren Schwerpunkt der Analyse bilden die ständigen materiellen Schwierigkeiten der Kulturarbeit. Der staatliche Kulturfonds finanzierte die kulturellen Veranstaltungen teilweise, aber er privilegierte große Betriebe, zum Schaden von kleineren und mittleren. Außerdem wurden die Fonds für kulturelle Veranstaltungen zugunsten der Sozialversorgung oft zweckentfremdet. Anlässlich der Reformen des „Neuen ökonomischen Systems (NÖS) Mitte der 1960er Jahre (1963) und der Anstrengungen zu Rationalisierung und Sparsamkeit wurde die Frage nach den Kosten der Kultur gestellt. Das Problem der Rentabilität und des Wertes von Kultur im Staatsozialismus blieb ein Dauerthema: Die Frage nach den Bewertungsmassstäben für die Kulturarbeit durchzog die Diskussionen des Bundesvorstandes und der Klubleitertagungen in der Mitte der sechziger Jahre und wurde nie beantwortet“ (S. 100). Die Depolitisierung des kulturellen Angebots in den 1960er-Jahren bedeutete keineswegs eine Regulierung der Nachfrage: „Festgestellt wurde, dass die Betriebsarbeiter in der Regel keinen bzw. wenig Einfluss auf die Gestaltung des Kulturangebots ihres Betriebs hatten“ (S. 290). Die fehlende Kongruenz zwischen Angebot und Nachfrage auf kulturellem Gebiet blieb ein ungelöstes Problem. Neben der Analyse der Grenzen der Diktatur erscheint die Betrachtung der (nicht vorhandenen) kulturellen Regulierung als wichtigstes Thema des Buches.

Insgesamt bestätigt das Buch die These von den Grenzen der Diktatur. Es zeigt, dass der angestrebte totale Herrschaftsanspruch der Partei sich in einem dialektischen Sinne zugunsten einer Vielzahl von Akteuren auflöste; im vorliegenden Falle zugunsten des FDGB, dessen Eigenständigkeit gleichwohl fragwürdig bleibt.

Anmerkungen:
1 Vgl. konzeptionell zu dieser Thematik: Kott, Sandrine, Zur Geschichte des kulturellen Lebens in DDR-Betrieben. Konzepte und Praxis der betrieblichen Kulturarbeit, in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 167-195.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension