C. Goehrke; S. Gilly (Hgg.): Transformation und historisches Erbe

Cover
Titel
Transformation und historisches Erbe in den Staaten des europäischen Ostens.


Herausgeber
Goehrke, Carsten; Gilly, Seraina
Reihe
Geist und Werk der Zeiten 93
Erschienen
Anzahl Seiten
741 S.
Preis
€ 50,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dagmar Langenhan, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam/ FIT Universität Viadrina Frankfurt/Oder

Die Euphorie über den Zusammenbruch des sozialistischen „Ostens“ und die damit verknüpften Erwartungen an eine stringente Transformation seiner Systeme hin zu liberalen, marktwirtschaftlichen Demokratien westlichen Zuschnitts ist spätestens seit Ende der Neunzigerjahre der Ernüchterung gewichen. Im deutschsprachigen Raum beschäftigt sich eine Vielzahl von Überblicksdarstellungen und lokalen Fallstudien mit dem - unerwarteten - Verlauf dieser gesellschaftspolitischen Innovationsprozesse und deren Ursachen. Theoriegeleitete und komparative Untersuchungen, die die historischen Konditionierungen und auch die Bestimmungsfaktoren der Transformationsprozesse in einem so ausgedehntem Forschungsfeld systematisch in den Blick nehmen, gehören jedoch noch immer zu den Desiderata. So zählt es zu den besonderen Verdiensten der hier vorgestellten umfangreichen Publikation (741 Seiten), dass sie Tradierungen und Quervergleiche der Staaten des europäischen Ostens in den Mittelpunkt der Darstellung rückt.

Seraina Gilly bietet im einführenden Beitrag einen fundierten theoretischen Rahmen für den verwendeten Transformationsbegriff, der unterschiedliche Varianten von Transformation bzw. Transition einschließt. Sie stellt ihn in den Zusammenhang übergreifender analytischer Kategorien wie Moderne - Modernisierung, Nation - Nationalismus, civil society - Globalisierung. Dieses Modell stützt ihre zentrale Frage nach der Einordnung der untersuchten Transformationsprozesse als „Systemwechsel in den einzelnen Staaten“ oder Bestandteil eines (weltweiten) „Epochenumbruchs“ (S.15) durchaus; offen bleibt, ob sich alle Spielarten der osteuropäischen Transformation in dieses Raster fügen lassen.

Im Hauptteil präsentiert der im Ergebnis einer Veranstaltungsreihe am Historischen Seminar der Universität Zürich entstandene Sammelband einzelne Länderporträts. Dabei nähert er sich seinem Gegenstand aus einer für den (ost)deutschen Leser eher ungewöhnlichen Perspektive. Die Länderauswahl, so wird in der Einleitung betont, folgt nicht dem Kriterium der Vollständigkeit, sondern der angemessenen Berücksichtigung „jeder historischen Großregion des östlichen Europa“ (S. 8): Russland, Ostmitteleuropa, Übergangszone zwischen lateinischem und orthodoxem Europa sowie Südosteuropa. Kontrastiv gehen zwei weitere Beiträge zu Polen und Serbien auf besondere „kulturelle Phänomene“ ein. Alle Aufsätze gliedern sich jeweils in eine Analyse der Ursachen, Verläufe und Problemlagen des Transformationsprozesses sowie in eine Darstellung der historischen Voraussetzungen. Besonders deutlich erschließt sich der konzeptionelle Zusammenhang dieser einzelnen Länderstudien in der Zusammenschau mit dem dritten Teil der Publikation, welcher sich speziell dem Einfluss des gesamteuropäischen historischen Erbes zuwendet.

Ein Defizit ist dagegen das ausdrückliche Ausblenden der DDR. Unzweifelhaft nimmt der Transformationsprozess in Ostdeutschland auf Grund des vereinigungsbedingten Institutionen- und Personaltransfers eine Sonderstellung ein. Die aktuellen Problemlagen verweisen jedoch auch hier nicht nur auf die Beharrungskraft präsozialistischer mentaler Prägungen, sozialer Milieus und Institutionenbindungen, sondern gleichfalls auf die Wirkungsmächtigkeit der über Jahrzehnte andauernden Einbindung in das „real-sozialistische“ System.

Russland steht als Großregion im Sammelband für sich. Dem ‚Initiator‘ der Transformationsprozesse im östlichen Europa gilt mit 80 Seiten der umfassendste Aufsatz der Länderstudien. Theoretisch untersetzt von Merkels ‘Mehrebenenmodell der demokratischen Konsolidierung‘‚ untersucht er vor allem „das Verhalten der wichtigen Akteure im Prozess der Institutionenbildung“ (S. 49) und identifiziert das Legitimitätsdefizit des politischen Systems als Hindernis der ökonomischen Transformation (Stefan Wiederkehr).

Für Ostmitteleuropa widmen sich die Aufsätze dem Verhältnis von Erwartung und Realität im weit fortgeschrittenen Transformationsprozess Ungarns (Marcel Hinziger/ Viviane Niederegger); verfolgen den noch immer vom Modernisierungsbruch Mitte des vergangenen Jahrhunderts beeinflussten Entwicklungsweg der Tschechoslowakei bzw. Tschechiens zurück nach Europa (Daniel Jetel/Mirjam Schram) und gehen der Frage nach, ob die wirtschaftsstarke, aber fortwirkend russisch beeinflusste ehemalige Sowjetrepublik Lettland eine Brückenfunktion zwischen Ost und West übernehmen kann (Kaspar Näf).

Die Unentschiedenheit der ukrainischen Entwicklung zwischen Beharrung und Wandel (Stefanie Jud) und das Verharren Weißrusslands im „kulturell-zivilisatorischen Orientierungsrahmen der Sowjetunion“ (S. 329) sowie das Verhältnis von Transformation und nationaler Identität im historischen Vergleich der Ukraine und Weißrusslands (jeweils Christophe von Werdt) beleuchtet der Sammelband für die als ‘Übergangszone zwischen lateinischem und orthodoxem Europa‘ gekennzeichnete Region.

Stellvertretend für Südosteuropa werden der mit tiefen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verwerfungen einher gehende und sich nur in Etappen vollziehende Transformationsprozess in Bulgarien (Zdravko Ružičič/Igor Spaček), Modernisierung und Reformen im Spannungsfeld evolutionärer und revolutionärer Konzepte Rumäniens (Daniel Ursprung), Makedoniens schwierige Situation zwischen erfolgreicher politischer und weitgehend auch ökonomischer Transformation und den Eigeninteressen des Auslands (Nada Boškova), sowie Ursachen und Hintergründe für die äußerst verzögerte Transformation in Albanien (Natalie Amman/Lorenzo Sguaitamatti) untersucht.

Abweichend von dieser Herangehensweise bilden zwei Beiträge zu „typischen Phänomenen“ der politischen Kultur den Abschluß des Hauptteils. Am Beispiel des Entstehens der Gewerkschaftsbewegung ‘Solidarność‘ und deren - gravierenden Veränderungen unterliegendem - Einfluss auf den Systemwechsel werden „Grundcharakteristika der polnischen politischen Kultur“ (S. 529) aufgezeigt (Lukas Imhof). Der zweite Beitrag beschreibt vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund den Aufstieg Slobodan Milošević zur Macht und - aus modernisierungstheoretischer Perspektive - die „strukturellen Probleme der serbischen Gesellschaft“, die eine zivilgesellschaftliche Alternative behinderten (S. 601).

Die aktuelle politische Entwicklung in Serbien rückt nachdrücklich die Tatsache ins Bewusstsein, dass die große Stärke des Sammelbandes nicht in seiner Zeitnähe zum Transformationsgeschehen, (er führt bis zum Jahr 1998) liegen kann, sondern zunehmend in den differenzierten Ausführungen zur Rolle des historischen Erbes besteht. Diese „historische Bilanz“ ist Gegenstand des dritten Teils. Carsten Goehrke gelingt es eindrucksvoll, die Wechselwirkungsweise von Transformationschancen und historischem Erbe zu analysieren. Vor einem bis zur Spätantike zurückverfolgtem „Hintergrund europäischer Geschichtslandschaften“ (S. 741), hinterfragt er dezidiert die verbreiteten Forschungsansätze. Dabei weitet er den Untersuchungsraum noch über die in den Einzelporträts berücksichtigten Länder aus.

Der Gewinn des Sammelbandes besteht zweifelsfrei auch in der Interpretation der historisch bedingten politischen, wirtschafts- und gesellschaftsstrukturellen sowie mentalen Voraussetzungen der Transformation als Bestimmungsfaktoren für die Ziele und Handlungsoptionen der beteiligten Akteure. Die in den Länderporträts – zumindest teilweise – repräsentierten Ergebnisse empirischer Forschung, die, ebenso wie die Abhandlung von Carsten Goehrke, abgebrochene Traditionen und nicht weiter verfolgte Entwicklungen berücksichtigen, verweisen auf die Scharnierfunktion der historischen Voraussetzungen in den osteuropäischen Transformationsgesellschaften. Interessant ist vor allem die von den Autoren ausgemachte Kausalität zwischen Transformationserfolg und soziokulturellen bzw. sozialökonomischen Prägungen. Sie konstatieren zwei grundlegende europäische Entwicklungspfade: den des erfolgreicheren, weil vielgestaltigeren und politisch wie wirtschaftlich ‚freieren‘ lateinischen Europas und den des weniger erfolgreichen, durch eingeschränkte Entfaltungs- und Differenzierungsmöglichkeiten gekennzeichneten orthodoxen Europas (S. 738f.). Diese Befunde werden mittels der vorhandenen Karte zur Intensität der Transformation, nach Staatengruppen geordnet, sehr benutzerfreundlich illustriert.

Anzumerken ist, dass das fehlende Sach- und Personenregister die Handhabung des inhaltlich sehr gelungenen Band leider einschränkt. Auch die von den üblichen Schreibweisen stark abweichende Transliteration osteuropäischer Orts- und Personenbezeichnungen erschwert teilweise das Verständnis. Das Buch bietet insgesamt eine solche Fülle an theoretischen und methodischen Anregungen, dass es nicht nur den historisch Interessierten, sondern insbesondere allen ganz praktisch mit der Transformation der osteuropäischen Staaten befassten Akteuren, ausdrücklich empfohlen sei.

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