S. R. Suleiman: Crises of Memory and the Second World War

Cover
Titel
Crises of Memory and the Second World War.


Autor(en)
Suleiman, Susan Rubin
Erschienen
Cambridge, Mass./London 2006: Harvard University Press
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 25,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Bauer, University of Portsmouth, School of Languages and Area Studies

Blickt man auf die sanfte pastellfarbene Tönung des Buchumschlags, die sich dem Thema einer allgegenwärtigen Erinnerungs- und Gedächtniseuphorie ziemlich perfekt anverwandelt, könnte sich angesichts der suggestiven Darstellung eines ja äußerst grausamen Themas eine Aversion aus Überdruss einstellen. Werden doch Gedächtnis und Geschichte allzu häufig miteinander vermengt oder gehen oft genug mit Verallgemeinerungen und auch Relativierungen einher.1

In ihrer Einleitung der neun zusammenhängenden und aufeinander verweisenden Aufsätze scheint Suleiman ihr Buch zunächst in der Richtung der übergreifenden Debatten über die Vergangenheit und das Gedächtnis verorten zu wollen. Sie spricht über die Frage des Verhältnisses von Holocaust und Zweitem Weltkrieg als Problem von individuellem und sozialem Gedächtnis, das auch die Historiker herausfordern müsse. Doch addiert sie zu dieser allgemeinen Fragestellung eine ethische Dimension mit der Auseinandersetzung um die politische und moralische Funktion eines allgegenwärtigen Gedächtnisdiskurses hinzu. Dabei entgehen ihr aber keinesfalls die zunehmend kritischen Stimmen gegenüber einer Vermengung von Gedächtnis und Geschichtsschreibung und einer den Kitsch streifenden Verharmlosung des historischen Geschehens in einer globalen Evozierung von „Gedächtnis“.

Was Suleiman zunächst vor allem interessiert, ist zum einen die innerhalb des Diskurses valente Frage nach dem Zusammenfallen von individuellem und kollektivem Gedächtnis. Zum anderen sind dies Fragen nach den Folgen für die Geschichtsschreibung. Als Romanistin geht sie diesem Konnex zunächst an den Beispielen der Selbststilisierung Jean Paul Sartres zum Résistance-Heros kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, der Affäre Aubrac und den Filmen Marcel Ophuls’ nach. Sartres Manipulation von Texten und seiner Biografie (die ja erst sehr spät und nur eher lose mit der aktiven Résistance zu tun hatte) wertet Suleiman weniger als idiosynkratische Hervorhebung des eigenen Egos, sondern vielmehr als eine in der kollektiven ‚Psyche’ kurz nach der Befreiung angelegte Identifikation mit einem bestimmten Teil der Vergangenheit, die anderes erfolgreich ausblendete. Sartre sprach für viele und in seinen Texten sprach sich aus, was viele lesen wollten.

In der Konzentration auf ästhetische Merkmale und ihre Bedeutung für das Verständnis der Vergangenheit zeigt sich bereits in den ersten Aufsätzen die außerordentliche Meisterschaft Suleimans, ihre Eingangsfragestellungen an den ausgewählten Fällen zu vertiefen und zu bemerkenswerten Beiträgen um individuelles Gedächtnis und die kollektive Funktion der Geschichtsschreibung weiter zu entwickeln. Hervorgehoben sei etwa der einer engeren historischen Diskussion vielleicht am nächsten kommende Beitrag über die Aubrac-Affäre. Denn fast schon symptomatisch trafen forensische Faktenerhebung, historischer Diskurs, öffentliche Meinung und individuelle Teilnahme aufeinander, als 1997 in Frankreich im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den hohen Beamten der Vichy-Regierung, Maurice Papon – und in Erinnerung an den Prozess um den Gestapo-Folterer Klaus Barbie ein Jahrzehnt davor – die persönlichen Erinnerungen des prominentesten und von vielen verehrten Résistance-Paares Lycie und Raymond Aubrac zum Gegenstand vielfach medialisierter Missverständnisse und Anschuldigungen wurde. Eine auf knappem Raum kaum zu übertreffende Präzision in der Entfaltung der Problematik dieser „Affair of Memory“ zeigt die außerordentliche Fähigkeit Suleimans zur Darstellung eines komplexen theoretischen Sachverhalts in allgemein verständlicher Formulierung. Zugleich findet sich nicht nur in diesem Aufsatz eine schlagende Bestätigung der dem Bande zugrundeliegenden These, dass ästhetische Fragen mit denen der politischen Bewertung und vor allem auch der historischen Reflexion zusammenfallen. Es wird so der Boden bereitet für ein kulturalistisch-kontextuelles Verständnis von Gedächtnis und Geschichte, das überzeugender kaum ausfallen könnte. Im Falle der Aubracs waren es Fragen nach der Gattung der Memoiren als historischer Quelle und des Suleiman besonders interessierenden Problems des „Augenzeugen“ innerhalb der Historiografie, die eine immense Rolle für die öffentliche Diskussion um das Selbstbild Frankreichs gewannen. Nebenbei: Die Funktion der Fachhistoriker war in diesem Prozess der Konstruktion keineswegs immer die führende oder auch überzeugendste.

Den Kontrast individuellen Erlebens und individueller Erinnerung zur Formung von Darstellungen, die eine repräsentative Gültigkeit beanspruchen, untersucht Suleiman weiterhin in André Malraux’ Rede zur Pantheifikation des Résistance-Helden Jean Moulin, der von Barbie zu Tode gefoltert worden war, sowie in Marcel Ophuls’ filmischen Dokumentationen zu Barbie und dem Vergessen derjenigen, die an dessen Verbrechen beteiligt waren. Die Frage der Authentizität nimmt hier die Frage nach der Form der gattungsimmanenten rhetorischen Regeln an, nach denen Inszenierung ein Teil der Darstellung werden kann oder Wiederholungen zu Veränderungen der Darstellung führen. Das herausragende literarische Beispiel für dieses Problem ist für Suleiman das Werk des von ihr bewunderten Jorge Semprun, an dessen wiederholter Neuformulierung eines Details – seine Ankunft im KZ Buchenwald – die literarisch-ästhetische Freiheit und der Gewinn für das Verständnis des Lagersystems demonstriert werden. Angesichts jüngerer Generationen, die – wenn überhaupt – nur fragmentarisch in der Schulausbildung oder durch die Medien Informationen über die Vergangenheit erhalten, fragt Suleiman in ihrer reflektierten Analyse scheinbar naiv: „Do Facts Matter in Holocaust Memory?“, um an der Gegenüberstellung des „Falles Wilkomirski“ und eines Textes von Elie Wiesel die Spannung zwischen literarischer Gestaltung der Erinnerung und falscher Vorspiegelung von biografischer Authentizität zu problematisieren. Die in den Eingangskapiteln dominierende Analyse gesellschaftlicher Prägungen individueller Zeugnisse erweitert sich hier um die Gewichtung des von den Künsten oder dem Material vorgegebenen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit historischem Geschehen.

Mit der Analyse von István Szabós filmischer Erkundung der Geschichte mehrerer Generationen einer jüdischen Familie in Ungarn begibt sich Suleiman, ohne es zu erwähnen, in ihre eigene Geschichte, da ihre Familie, vom Holocaust betroffen, in kommunistischer Zeit aus dem Land geflohen ist.2 In überzeugender Hinführung zur die postkommunistische Öffentlichkeit kennzeichnenden Erinnerungskultur Ungarns widmet sich Suleiman einem scheinbar kleinen Detail: Am Ende des Films „Sonnenschein“ nimmt der dem Judentum längst entfremdete letzte Überlebende der Familie aus freien Stücken den Namen seiner Vorfahren wieder an. Dies führte in der ungarischen Öffentlichkeit zu weitreichenden Diskussionen über die Erinnerungspolitik gegenüber dem Holocaust sowie über die aktuelle Position der jüdischen Bevölkerung Ungarns. Es ist ein Zeichen von Suleimans stupender Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit, wenn ihr etwa die Musikgestaltung von Szabós Film zu erhellenden Ausführungen über den psychologischen Hintergrund der jüdischen Entwicklung in Ungarn sowie zur Reflexion von Szabòs Filmtheorie der Erinnerung dienen.

Der philologischen Herkunft Suleimans entsprechend gerät das große Kapitel über die Literatur der Holocaust-Überlebenden Georges Perec und Raymond Federman zu einer intensiven Lektüre avantgardistischer literarischer Formen als Echos traumatischer Gedächtniszerstörung. Hatte Suleiman im Kapitel über Semprun und Wiesel das Unabschließbare der Geschichtsschreibung des Holocaust in der Figur der Wiederholung untersucht, so geht es in dieser Lektüre der beiden Avantgardisten um die ‚Suspendierung’ von Aussagen, ein zwischen Sprechen und Schweigen sich herstellender Abdruck der erlebten Traumata, den Suleiman in brillanter Exegese mit der Frage der Historiografie und der Kultur der Erinnerung verbindet. Das abschließende Kapitel „Amnesia and Amnesty“ fasst die in dem Band immer mitschwingende moralische Problematik des Vergessens und der Vergebung in weiterführenden Reflexionen über Hannah Arendt und Jacques Derrida zusammen. Suleimans Buch scheint dem Rezensenten einer der überzeugendsten und am besten geschriebenen Beiträge zur Diskussion um den Gedächtnisdiskurs und den Zweiten Weltkrieg zu sein.

Anmerkungen:
1 Zur aktuellen europäischen Dimension der Geschichtsschreibung und Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust vgl. den umfassenden Aufsatz von: Evans, Martin, Memories, Monuments, Histories: The Re-thinking of the Second World War since 1989, in: National Identities 8 (2006), No. 4, S. 317-348.
2 Vgl. Suleiman, Susan Rubin, Budapest Diary: In Search of the Motherbook, Lincoln 1996.

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