Titel
"Not the Horse We Wanted!". Postsocialism, Neoliberalism, and Eurasia


Autor(en)
Hann, Chris
Reihe
Halle Studies in the Anthropology of Eurasia 10
Erschienen
Münster 2006: LIT Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Die Formulierung „Not the Horse We Wanted!“ ist die englische Übersetzung einer ungarischen Redewendung, mit der umgangssprachlich die Enttäuschung von Erwartungen benannt wird: Die zahlenmäßig relativ starke rurale Bevölkerung Ungarns hatte sich vom Ende des Staatssozialismus mit seinen vielfältigen Behinderungen effizienter Landwirtschaft einen agrarwirtschaftlichen Aufschwung samt steigender Einkommen erhofft. Bekommen hat sie verschärften globalen Wettbewerb, dramatische soziale Differenzierung, hohe Arbeitslosigkeit und den rapiden Abbau sozialer Sicherungssysteme – nicht eben das, was man erwartet hatte. Der britische Sozialanthropologe Christopher M. Hann, seit 2000 Ko-Direktor des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle an der Saale, hat im Sommer 2001 das in Zentralungarn gelegene Weinbaudorf Tázlár besucht, in dem er bereits in den Jahren 1976 und 1977 Feldforschung für seine als Buch veröffentlichte Dissertation Tázlár: A Village in Hungary (Cambridge 1980) unternommen hatte. Ergebnis ist das Kapitel „,Not the Horse We Wanted!’ Procedure and Legitimacy in Postsocialist Privatisation in Tázlár” (S. 43-90) im vorliegenden Band – eine zwangsläufig nostalgisch eingefärbte ethnologische Mikroanalyse sozioökonomischer Veränderungen samt fotografischer Dokumentation. Zusammen mit drei stärker theoretisch und synthetisierend ausgerichteten Beiträgen bildet dieses Kapitel den mit „Property, Work, Exploitation“ überschriebenen ersten Teil des Buches, in dem der Autor sein Augenmerk vor allem auf die konfliktträchtige Umwandlung von kollektiven Formen des Eigentums in Privateigentum richtet.

Behandelt dieser erste Teil des Buches gleichsam das Fundament postsozialistischer Gesellschaften, so widmet sich der zweite, mit „Religion, Ethnicity, Citizenship“ überschriebene Teil dem „Überbau” – bei Schwerpunktsetzung auf zwei weiteren Hannsche regionalen Forschungsschwerpunkten, nämlich auf dem Südosten Polens und dem Nordosten der Türkei. Wie bereits im Falle Tázlárs greift der Autor auch hier auf rurale Regionen zurück, in denen er bereits vor dem Epochenjahr 1989 ausgiebig Feldforschung betrieben hat, was ihm aufschlussreiche Vorher-Nachher-Einblicke ermöglicht. Sein wiederum erstklassig fotografisch dokumentierter Beitrag „Greek Catholicism Today“ (S. 177-194) fokussiert auf das Beskiden-Gebirge in Polen, in dem nahe der Kleinstadt Komańcza das von ethnischen wie religiösen Spannungen gekennzeichnete Dorf Wisłok Wielki liegt, welches bereits „Schauplatz“ von Hanns fesselnder Monografie A Village Without Solidarity: Polish Peasants in Years of Crisis (New Haven, CT, 1985) gewesen war.1 Die 1946 in Polen und der Sowjetunion verbotene Griechisch-katholische Kirche Ostmitteleuropas – auch unter der Bezeichnung „unierte Kirche“ bzw. „Unierte“ bekannt – hat 1989/91 zwar ihre Betätigungsmöglichkeiten, nicht hingegen zur Gänze ihren Besitz wiedergewonnen. Dieser theologisch und rituell zwischen Katholizismus römischer Prägung und östlicher Orthodoxie stehenden Kirchenorganisation kommt zugleich ethnokulturelle und politische Bedeutung zu. Denn große Teile der im historischen Galizien lebenden griechisch-katholischen Gläubigen ordnen sich nicht den heutigen Titularnationen von Polen, Ukrainern, Weißrussen oder Slovaken zu, sondern nationalen Minderheiten wie Lemken, Russinen, Bojken, Huzulen und anderen, ja haben – wie etwa die Russinen – neue slavische Standardsprachen kodifiziert.

Der Beitrag „History and Ethnicity in Anatolia“ (S. 195-212) im selben Teil knüpft an das Buch Turkish Region: State, Market and Social Identities in the East Black Sea Coast (Oxford 2000) an, das Hann gemeinsam mit seiner Frau, der Turkologin und Ethnologin Ildikó Bellér-Hann, verfasst hat. Erneut steht die Region diesseits wie jenseits der türkisch-georgischen Grenze im Blickpunkt, also das postsozialistische Adžarien im Norden und die nicht-(post)sozialistischen Regionen Trabzon, Rize und Artvin im Süden – sämtlich ehemalige Bestandtteile des Imperiums der Sultane. In Abgrenzung zur neuesten ethnologischen Forschung zur modernen Türkei sowie unter Einbeziehung der Literatur zu den nicht-türksprachigen Lazen und Mingrelen der Region kommt Hann zu dem Ergebnis, dass Ethnizität an der östlichen Schwarzmeerküste zwar ein wichtige, aber keineswegs die dominierende Projektionsfläche individueller wie kollektiver Identität ist. Vielmehr sei der Bezugsrahmen der von ihm als „unmarked Turks“ bezeichneten Bevölkerungsmehrheit ein staatlich-historischer mit „Atatürk“ und „Osmanischem Reich“ als zentralen Orientierungspunkten.

Von besonderem Interesse ist das Regionalisierungskonzept, das Hann seinen Forschungen zum Postsozialismus unterlegt und im Schlusskapitel „Conclusion: Anthropological Approaches to Eurasia“ näher ausführt (S. 241-256). Ausgehend von dem, was der der Autor enigmatisch „MLM socialism“ nennt – dieses Kürzel steht für „Marxist-Leninist-Maoist socialism“, wie er seit 1917 bzw. 1944/49 in Teilen der nördlichen Hemisphäre dominierend war –, kartiert er auf dem Buchumschlag eine vormals „sozialistische“ und heute „postsozialistische“ Welt, die vom Eichsfeld bis ins Mekong-Delta, von Tibet bis Kamčatka reicht. Dabei stellt sich ihm die Frage, ob dieser im 20. Jahrhundert staatssozialistisch geprägte Teil Eurasiens Bestandteil einer gleichnamigen Weltzivilisation ist, deren Wurzeln auf die agrarischen Imperien früherer Jahrtausende, gar bis ins Paläolithikum zurückgehen (S. 3f.). Sein Eurasien-Begriff ist dabei ein weiter, wie ebenfalls der Buchumschlag visualisiert: Er reicht von England über Südeuropa und Nordafrika zur Türkei, Nordiran und Indien nach Indochina – unter Ausschluss sowohl des Celtic Fringe und Fennoskandiens als auch der arabischen Welt. Allerdings handelt es sich hier um eine dynamische, keine statische Konzeption, wie Hann mit Verweis auf Kommunitäten wie Frankophonie und Britischem Commonwealth oder chinesische und iberische Diasporagruppen anmerkt (S. 243f.). Wie bereits mit dem von ihm edierten Sammelband Postsocialism: Ideals, Ideologies and Practices in Eurasia (London 2002 – deutsch als: Postsozialismus. Transformationsprozesse in Europa und Asien aus ethnologischer Perspektive, Frankfurt am Main 2002) gelingt es Chris Hann, seinen Neologismus „postsozialistisches Eurasien“ zum einen als erkenntnisträchtigen Untersuchungsrahmen und für ethnologische Forschung zu propagieren, diesen zum anderen aber auch als Korrektiv zu eurozentrischer Ahistorizität einzusetzen: „More attention to the ,big history’ of the landmass should help us to see the parochialism of such claims and to expose the hubris behind them“ (S. 245).

Chris Hanns ethnologoisch begründete Eurasien-Konzeption als ganze mit ihrer longue durée-Komponente wie vor allem seine gegenwartsbezogene Untergliederung eines postsozialistischen Teils bieten vielversprechende Perspektiven auch für andere sozial- und kulturwissenschaftliche Disziplinen. Neben Wirtschaftswissenschaften, Politologie und Soziologie ist hier gerade auch die Geschichtswissenschaft zu nennen. Sowohl die entstehende Europa-Historiografie als auch die weiter auf der Suche nach einer neuen, postsowjetischen raison d’être befindliche historische Osteuropaforschung sind hier zu nennen.

Anmerkung:
1 Dem polnisch-ukrainisch-slowakischen Grenzgebiet sind auch die illustrierenden Beispiele zu Chris Hanns in der „Teach Yourself“-Reihe des Verlages Hodder & Stoughton erschienenen Einführung Social Anthropology entnommen (London 2000). Diese bebilderte Beispielsammlung mit dem Titel Discovering Social Anthropology in Galicia ist unter URL <http://era.anthropology.ac.uk/Teach-yourself/hann3.pdf> einsehbar.

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