Titel
"Im Geiste der Gemordeten...": Die "Weiße Rose" und ihre Wirkungen in der Nachkriegszeit.


Autor(en)
Schüler, Barbara
Erschienen
Paderborn 2000: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
548 S.
Preis
€ 35,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sönke Zankel, Universität München

Schon der Titel der Dissertation zeigt, dass sich Barbara Schüler ein ehrgeiziges Ziel gesetzt hat: Nicht nur die Prägungen der Jugend des Kreises um die Geschwister Scholl versucht sie nachzuzeichnen, sondern auch die Geistes- und Ideengeschichte der sogenannten "Weißen Rose" soll analysiert werden. In einem dritten Schritt wird dann nach der Rezeption dieser Ideen durch die Überlebenden bei der Gründung der Volkshochschule Ulm und der Hochschule für Gestaltung nach dem Krieg gefragt. Den Nachweis einer solchen ideengeschichtlichen Verbindung zu erbringen, wurde bis heute nicht unternommen. Selbst der philosophische Hintergrund der Geschwister Scholl wurde bis jetzt nur partiell bearbeitet. Zurückzuführen ist dies auf die erstaunliche Tatsache, dass die historische Wissenschaft sich nicht in dem Maße um den studentischen Widerstand gekümmert hat, wie es die Thematik vermuten ließe. Vielmehr wurde das Thema hauptsächlich von Journalisten, Publizisten und Nachkommen der Gerichteten besetzt. Mit Barbara Schüler hat sich nun jedoch eine der wenigen Historiker wissenschaftlich mit der Thematik auseinandergesetzt und während der Nachkriegsjahre aufgebaute Mythen offengelegt.

Eindrucksvoll macht sich Schüler auf den Weg und hinterlässt dem Leser knapp 500 Seiten. Zahlreiche bisher unbekannt gebliebene Quellen konnte sie dabei heranziehen. Hier sind vor allem die Briefnachlässe von Frido Kotz und Willi Habermann zu nennen. Beide verfügen über einen umfangreichen Bestand an Briefen von Inge Scholl und Otl Aicher, die sich gerade für den ersten Teil der Arbeit, die Zeit des Ulmer Freundeskreises bis 1941, als ein nicht zu unterschätzender archivalischer Schatz herausgestellt haben. Zu diesem Freundeskreis, der von Schüler durchgehend als - zurückgehend auf Inge Scholl - "Scholl-Bund" bezeichnet wird, gehörten neben den fünf Scholl-Kindern die genannten Aicher, Habermann, Kotz und wahrscheinlich noch Ernst Reden und Fritz Hartnagel, der "Verlobte" Sophie Scholls und spätere Mann Elisabeth Scholls. Schüler zeigt die Annäherung der Katholiken Aicher, Habermann und Kotz an die evangelischen Geschwister Scholl auf und arbeitet heraus, welche Bedeutung gerade der freundschaftliche Aspekt für die Beteiligten hatte. Miteinander ging man durch den "Garten der Kultur", diskutierte über Literatur und versuchte dabei, mit den anderen den eigenen Weg zu finden. Der spätere Gestalter Otl Aicher formulierte es so: "Der Freund ist das Außenmodell der eigenen Person, an ihm artikuliert man sein Wachstum und die Kontrolle über sich selbst. Der Freund lässt es zu, dass man mit sich selbst in Korrespondenz bleibt."1

Aber nicht nur die freundschaftliche Verbundenheit verband die Ulmer miteinander, sondern auch das gemeinsame geistige Interesse an philosophischer und theologischer Literatur. Man machte sich auf die Fährte der großen Gottes- und Wahrheitssucher der Weltgeschichte, las gemeinsam u.a. Plato, Aristoteles, Thomas von Aquin, Kierkegaard und Morus. Während anfangs die Philosophie eher hinderlich war, einen Glauben zu finden, ermöglichte sie allmählich ein Erfassen eines persönlichen Gottes. (S. 65)

Aber nicht nur der unmittelbar religiöse Aspekt der theologisch-philosophischen Literatur zog die Ulmer Jugendlichen an, sondern auch das darin vorhandene weltliche Gemeinschaftsideal. Nach Schüler resultierte hieraus auch der Eintritt in die nationalsozialistischen Organisationen. Während das Ziel war, das dialektische Verhältnis der beiden Persönlichkeitssäulen der Ulmer - Gemeinschaft und Individuum - in einer Synthese aufzulösen bzw. auf eine höhere Stufe zu heben, war ein solcher Ansatz innerhalb nationalsozialistischer Organisationen nicht realisierbar. Durch die "'braune' Pervertierung" des Gemeinschaftsideals, das "die völlige Gleichschaltung des Einzelnen statt Freisetzung der jeweiligen Qualitäten des Individuums durch die Erfahrung der Gemeinschaft zum Ziel hatte", mußte es, so Schüler, "fast zwangsläufig zur Abkehr vom Nationalsozialismus" kommen. (S. 73).

Die aus einem protestantischen Elternhaus stammenden Scholl-Kinder wurden dabei wesentlich von dem, so könnte man den Eindruck gewinnen, "Radikalkatholiken" Otl Aicher beeinflusst. Er brachte nach Schüler dem Freundeskreis die Schriften der literarischen Bewegung des "Renouveau Catholique" näher, u.a. die Werke von Leon Bloy, Paul Claudel und Jacques Maritain. Diese Autoren versuchten die bestehenden Kirchenstrukturen aufzubrechen und den Katholizismus zu erneuern. Dabei sollte den Werten der christlichen Religion in einer dechristianisierten Gesellschaft zu einer Renaissance verholfen werden. In Deutschland gab es eine ideengeschichtliche vergleichbare Bewegung, die sich wie in Frankreich auch größtenteils aus Konvertiten zusammensetzte. Personen wie Max Scheler, Werner Bergengruen und Theodor Haecker arbeiteten auf den unterschiedlichsten Ebenen für die katholische Erneuerung Deutschlands. Schüler versucht den Einfluss der reformkatholischen Schriften auf den Ulmer Kreis, die "Weiße Rose" und letztlich auf die Gründung der Ulmer Volkshochschule und der Hochschule für Gestaltung nachzuweisen. Für diese Beweisführung greift sie sich die Person Jacques Maritains und seinen "christlichen Humanismus" heraus. "Hier fanden sie einen dritten Weg zwischen Individuum und Kollektiv, Glauben und Verstehen, Denken und Handeln."(S. 151) Dabei hatten nach Schüler gerade die von Maritain dargelegten Handlungsmöglichkeiten auf die Scholls und ihre Freunde eine ungeheure Wirkung.

Die Aufforderung zum aktiven Handeln, die Möglichkeit, Gewalt anzuwenden und auch das Martyrium hatten, so Schüler, weitreichende Konsequenzen. Die Schriften Maritains werden so allmählich zu einer Schablone, mit der Schüler durchgehend arbeitet. Auch die Flugblätter der "Weißen Rose" werden auf diese Weise untersucht. Dieser durchaus interessante Ansatz steht jedoch auf tönernenden Füßen. Schüler stützt ihre Argumentation vor allem auf schriftliche Zeugnisse von Inge Scholl und Otl Aicher. Gerade dies ist aber nicht unproblematisch, denn der Ulmer Freundeskreis bestand eben auch, wie Schüler anfangs selbst schreibt, aus Individuen. Dass Maritain folglich denselben Einfluss auf Hans und Sophie Scholl gehabt haben muss, wie auf Otl Aicher und Inge Scholl, bleibt zumindest äußerst fraglich, schließlich sind diesbezügliche Nachweise in den Quellen der beiden Widerstandskämpfer annähernd nicht vorhanden. Schon aus diesem Grunde ist die Fokussierung auf Maritain mehr als problematisch. So ist es charakteristisch für die Schüler-Arbeit, dass sie schnell zu Verallgemeinerungen gelangt. Anfangs geäußerte Bedenken, auch in Bezug auf die Wertigkeit von Quellen, verlieren sich Seite um Seite. So greift sie einen Aspekt heraus, betont anfangs das Exemplarische, um dann in Verallgemeinerungen zu versinken. So ist es auch im Falle Maritains: Anfangs steht er "für viele andere Autoren und die Auseinandersetzung mit einer ideengeschichtlichen Strömung" (S. 79), dann stehen die Flugblätter hauptsächlich "auf den Schultern Maritains" (S. 225) und der Widerstand der Geschwister Scholl wurde von seinen Ideen "maßgeblich getragen" (S. 354). Vielleicht hätte Schüler doch die gesamte neuere Literatur heranziehen sollen.2

Auch die einseitige Perspektive auf die Ulmer Wurzel der "Weißen Rose" ist nicht unproblematisch. Zwar kann man durchaus einen Zweischritt der Ideengeschichte vom Ulmer Freundeskreis bis zu den Nachkriegsaktivitäten Inge Scholls und Otl Aichers tätigen, ein Dreischritt, der die Zeit des Münchner Widerstands miteinbezieht, ist jedoch mehr als gewagt. Denn schließlich waren es nicht allein Hans und Sophie Scholl, die das intellektuelle Zentrum der "Weißen Rose" ausmachten. Vielmehr ruhte die inhaltliche, fern von logistischen Aspekten sich befindende Arbeit in erster Linie auf Hans Scholl und Alexander Schmorell. Letzterer bleibt bei Schüler gänzlich unberücksichtigt. Dabei ist gerade die Tatsache, dass er bei der redaktionellen Arbeit mit Hans Scholl annähernd gleichberechtigt war, ein deutlicher Hinweis auf einen breiteren ideengeschichtlichen Hintergrund der "Weißen Rose". Zwar sind Quellen zu Schmorell nur äußerst begrenzt vorhanden, einen Hinweis auf die große Bedeutung des Mediziners hätte man aber erwarten dürfen. Statt dessen tappt Schüler in die Falle, die sie zuvor scheinbar so gut lokalisiert hatte: Durch die Konzentration auf Inge Scholls Überlieferungen - auch wenn hier ein unveröffentlichtes Manuskript herangezogen wurde - muss sich die Perspektive der Betrachtung des eigentlichen Widerstandes mehr oder minder zwangsläufig auf die Geschwister Scholl beschränken. Am Schluss scheint sich Schüler dieser Problematik gar nicht mehr bewusst zu sein, wenn sie schreibt, dass Hans und Sophie Scholl die Flugblätter "verfasst" hätten. (S. 467) So wird lapidar in einem Nebensatz die höchst umstrittene und bis jetzt nicht belegte These aufgestellt, dass Sophie Scholl inhaltlich Einfluss auf die Flugblätter genommen habe.

An manchen Stellen der Studie hätte sich der Leser einen kritischeren Umgang mit den Quellen gewünscht. Auch wenn der Fußnotenbereich der Arbeit zahlreiche weiterbringende und erstmals getätigte Nachweise erbringt, so finden sich trotzdem immer wieder Mängel, und dem eigenen Anspruch der modernen Geschichtswissenschaft wird Schüler nicht immer gerecht. Nicht nur der Bezug auf die Sekundärliteratur wird nicht immer nachgewiesen 3, sondern auch die angegebene Literatur ist augenscheinlich nicht in jedem Falle herangezogen worden. Denn wenn bewiesen werden soll, dass sich die Scholl Geschwister allmählich zu "Leseratten" entwickelt haben und ganz oben auf der "Lesehitliste" u.a. die "Wurzelkinder" von Sibylle von Olfers stand, wirkt dies schon ein wenig merkwürdig: Die "Wurzelkinder" ist eher ein Bilderbuch, das man nach maximal zwei Minuten gelesen hat.

Viel gewichtiger ist jedoch, dass mehrere Aussagen im luftleeren Raum schweben. Beispielsweise wird immer wieder ein gewisser konspirativer und abgeschlossener Charakter des Ulmer Freundeskreises betont, was sogar soweit führt, dass Schüler für alle Beteiligte unterstellt, sie suchten ihre Freunde ausschließlich nach politisch-weltanschaulichen Gründen aus. So fand angeblich der Offiziersanwärter Fritz Hartnagel zusehends in den Augen des engeren Ulmer Kreises "keine Gnade mehr", da er als Offiziersanwärter "doch ein 'Bündnispartner' Hitlers" sei (S. 150) - ein Nachweis für diese Behauptung sucht man vergeblich4. Hatte Schüler dabei etwa die innige Beziehung Hartnagels zu Sophie Scholl vergessen? Und wie sah es in München aus? Die Gestapoverhörprotokolle belegen, dass auch die letzte Freundin Hans Scholls, Gisela Schertling, mit relativer Sicherheit nicht politisch-oppositionell eingestellt war. Gut gelungen ist Schüler das Herausarbeiten der Mentorenrolle Carl Muths. Er spielte für die Scholl Geschwister eine bedeutende Rolle, und gerade die phasenweise tägliche Anwesenheit Hans Scholls im Hause Muths deutet auf einen starken Einfluss des "Hochland"-Herausgebers auf den Medizinstudenten hin. Zwischen den Scholls und Muth hatte sich mit der Zeit eine tiefe persönliche Beziehung entwickelt.

Ein kritischer Geist lässt sich bei Barbara Schüler jedoch sicher nicht leugnen. Trotz eines gewissen Respektes zeigt sie immer wieder ihre – gut belegten und scheinbar begründeten - Kritikpunkte an der Person Otl Aichers auf. Aicher scheint zwar ein großes Energiepotential gehabt zu haben, aber in letzter Konsequenz konnte er seinen eigenen liberalen und toleranten Idealen allem Anschein nach nicht gerecht werden. Er duldete nach den Recherchen der Historikerin keine Kritik und Widersprüche (S. 436) und auf seinem Weg liegen, wie ein unbekannt bleibender Zeitzeuge Schüler mitteilte, "Leichen". (S. 470) Trotzdem war er neben seiner späteren Frau Inge Scholl die treibende Kraft beim Aufbau der Ulmer Volkshochschule und der Hochschule für Gestaltung. Die im "Geiste der Gemordeten" aufgebaute Volkshochschule konnte sich jedoch nur schwer von den gesellschaftlichen Bedürfnissen lösen und entwickelte sich mit der Zeit immer mehr von einer im Zeichen des "christlichen Humanismus" bzw. "christlichen Sozialismus" stehenden Bildungseinrichtung zu einer ganz normalen Volkshochschule.

In der Summe steht trotz allem eine lesenswerte Arbeit, die leider das zu bearbeitende Feld ein wenig weit abgesteckt hat. Konsistent wirkt vor allem der Nachweis der ideengeschichtlichen Verbindung zumindest eines Teils des Ulmer Freundeskreises zu den nach dem Krieg gegründeten Ulmer Bildungsstätten. Dies ist auf Grund der personellen Überschneidungen jedoch auch nicht besonders verwunderlich. Den Widerstand der "Weißen Rose" hier ohne eine Betrachtung der Vielfältigkeit der Protagonisten einzureihen, ist hingegen mehr als fraglich.

Anmerkungen:
1 Otl Aicher, innenseiten des kriegs, Frankfurt am Main 1985, S. 39; Schüler, S. 63.
2 Siefken, Hinrich, Die Weiße Rose und ihre Flugblätter, Dokumente, Texte, Lebensbilder,
Erläuterungen, Manchester und New York 1994.
3 Hier sei auf die Passage über den Einflusses Kurt Hubers auf die Studenten verwiesen. Schüler, S. 210. Siehe hierzu fast wörtlich: Schneider, Michael C. und Süß, Winfried, Keine Volksgenossen. Studentischer Widerstand der Weißen Rose, München 1993, S. 35.
4 Daß nach dem Krieg von Seiten Otl Aichers bei dem versuchten Wiederaufbau des Freundeskreises auf Fritz Hartnagel zurückgegriffen wurde, scheint Schülers These zumindest zu widersprechen.

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