M. Nieden: Die Erfindung des Theologen

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Titel
Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung


Autor(en)
Nieden, Marcel
Reihe
Spätmittelalter und Reformation N. R. 28
Erschienen
Tübingen 2006: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
298 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anja Moritz, Universität Potsdam

Der Theologe Marcel Nieden legt mit dieser Monographie seine im Jahr 2004 bei Wolfgang Sommer abgeschlossene und für den Druck geringfügig überarbeitete Habilitationsschrift vor. Ziel seiner Studie ist die Analyse des durch die Wittenberger Theologieprofessoren in den „Anweisungen zum Theologiestudium“ bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts propagierten Bildungsideals des lutherischen Geistlichen. Mittels eines ideen- und theologiegeschichtlichen Zugriffs, so Marcel Nieden im Vorwort, soll das historische Selbstverständnis der neuen Sozialgruppe der evangelischen Geistlichkeit studiert werden. Denn entscheidend für die soziale Verortung des Pfarrerstandes sei weniger die Aufgabe des Zölibates oder das reformatorische Verständnis des Priesteramtes sondern vielmehr die zunehmende akademische Bildung. Insofern ordne sich seine Studie über den „geistigen Formierungsprozess“ (S. 4) der Geistlichkeit in die sozial- und bildungsgeschichtlichen Forschungen zur evangelischen Geistlichkeit ein und damit auch in die Debatten um die Konfessionalisierung und deren Verhältnis zum Humanismus. Die Frage nämlich, ob und inwiefern der Humanismus einer Konfessionalisierung der Theologenausbildung Grenzen zu setzen vermochte, hänge auch, so der Autor, vom „Urteil über die Modernität der neuen Sozialgruppe“ ab (S. 6).

Die „Anweisungen zum Theologiestudium“, die Quellengrundlage der vorliegenden Studie’, wurden durch Theologieprofessoren der Universität Wittenberg zwischen 1529 bis 1662 verfasst. Der Begriff dieser Quellengruppe wird als Sammelbezeichnung erst im 18. Jahrhundert geprägt. Während die Anweisungen im Umfang durchaus differieren, weisen sie doch einige gemeinsame Charakteristika auf: Sie sind an Studenten oder Interessierte gerichtet und widmen sich in präskriptiver Form der Darstellung des Studiums. Die Konzentration auf die Leucorea begründet der Autor zum einen mit der Notwendigkeit der Materialbegrenzung, zum anderen methodisch mit der Möglichkeit, den universitätsrechtlichen Kontext berücksichtigen und einen Vergleich „der von den Theologieprofessoren entwickelten Formierungsvorstellungen mit denjenigen des Staates“ vornehmen zu können (S. 14f.).

Nach einleitenden Bemerkungen zu Forschungsstand, Quellenkorpus und Fragestellung gibt Nieden einen kurzen Überblick über die spätmittelalterlichen Reformdiskussionen des geistlichen Standes (Kap. 2) und über strukturelle, personelle und inhaltliche Aspekte der Theologenausbildung an der Universität Wittenberg in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens (Kap. 3). Da für die Jahre zwischen 1560 und 1610 keine Studienanweisungen aus Wittenberg bekannt sind, werden die Quellentexte in zwei zeitlichen Gruppen abgehandelt: 4 Texte entstammen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Kap. 4) und 5 Texte sind zwischen 1613 und 1652 angesiedelt (Kap. 7). Zwischen beiden Quellenkapitel sind Abschnitte zum universitätsrechtlichen Hintergrund in Gestalt der kursächsischen Universitätsgesetze der 1580er-Jahre einerseits (Kap. 5) sowie zur ‚konfessionellen Folie’ in Gestalt der jesuitischen „Ratio studiorum“ und der reformierten „Praecognitorum theologicorum libri duo“ des Johann Heinrich Alsted andererseits (Kap. 6) geschaltet. Die Studie beschließt eine Zusammenfassung der Ergebnisse unter systematischen Gesichtspunkten.

Als Resultat seiner Untersuchung präsentiert Marcel Nieden ein Bild des Wandels. In den gut eineinhalb Jahrhunderten habe sich mit dem Bildungsideal des Theologen auch dessen Selbstverständnis geändert. Während fast alle Texte des 16. Jahrhunderts das Selbststudium, auf das übrigens alle Anweisungen ausgerichtet seien, durchaus ohne Anbindung an eine Bildungsinstitution thematisierten, sei im 17. Jahrhundert für die Ausbildung der Theologen der Besuch einer Universität vorausgesetzt worden. Denn nicht nur sollte die Ausbildung durch approbierte Universitätslehrer erfolgen, das häusliche Studium selbst sei zudem einer verstärkten Reglementierung unterzogen worden, die sich sowohl auf das Lektüreverfahren (Loci-Raster) als auch auf die Leseinhalte erstreckt habe. Diese Tendenz gründete offenbar in der Befürchtung der Professoren, das Selbststudium könne den einheitlichen Bekenntnisstand gefährden und korrespondierte mit der ebenfalls im 17. Jahrhundert deutlich formulierten Erwartung an das Studium der heterodoxen Autoren, das jedoch ausschließlich auf der Basis der Kenntnis der lutherischen Lehrtexte zu erfolgen habe. Ebenso sei die Tendenz einer Professionalisierung zu konstatieren, die den autopraktisch tätigen Gelehrten des 16. Jahrhunderts ausblende zugunsten des theologischen Experten. Gerade die neuaristotelisch inspirierte Uminterpretation der Theologie als habituelle Praxis, die stets auf den Anderen gerichtet war, habe zu einer funktionellen Ausrichtung der Ausbildung sowie zu einer Relativierung der insbesondere bei Luther und Melanchthon noch stark betonten eigenen Frömmigkeit des Theologen geführt. Das Selbstverständnis des Theologen, so der Autor, wandelte sich im Verlaufe des 17. Jahrhunderts von einem „frommen Gebildeten“ hin zu einem „professionellen Seelenarzt“ (S. 243).

Marcel Nieden weckt mit dem Titel: „Die Erfindung des Theologen“ große Erwartungen, die er leider nicht zu erfüllen vermag. Ohne Frage gebührt ihm Dank dafür, dass er mit seiner Studie die Quellengruppe der „Anweisungen zum Theologiestudium“ für die Bildungsgeschichtsforschung erschlossen hat. Die Ergebnisse jedoch, die er präsentiert, bestätigen zumeist eher den Stand der Geistlichkeitsforschung der letzten zehn Jahre, als dass sie wirklich grundsätzlich Neues beizutragen hätten. Dies könnte unter anderem an der eng begrenzten Fragestellung liegen, die in Teilen einem nicht mehr ganz aktuellen Forschungsstand folgt.

Forschungsleitende Begriffe, wie Erfindung, Ideal, Selbstverständnis, hätten zumindest einer methodischen Grundierung bedurft, die leider fehlt. Der methodische Ansatz, dem die Studie folgt, findet sich gewissermaßen konzentriert in dem Satz, der der „Erfindung des Theologen“ ein konstruktives Moment in den Ausbildungsdebatten zuschreibt (S. VIII). Wenig überzeugend ist meines Erachtens die Auswahl der Quellen. Die Erklärung, die Konzentration auf die Leucorea ermögliche einen Vergleich der Formierungsvorstellungen der Professoren mit denjenigen der Kurfürsten, schließt erstens eine Einbeziehung der Universität Leipzig nicht aus und lässt zweitens eine Vorannahme des Autors über die Einheit der Konfessionalisierungsintentionen von Theologen und weltlicher Obrigkeit erahnen, die letztlich in den Ergebnissen bestätigt wird. Zudem unterbleibt jeglicher Hinweis auf die Problematik normativer Quellen, um die es sich bei der Quellengruppe der Studienanweisungen schließlich handelt. Auch die Fragestellung nach der Modernität der neuen sozialen Gruppe mag verwundern, wird doch nach Troeltscher Tradition der ‚moderne Humanismus’ gegen eine konfessionalisierte Wissenschaft ausgespielt. Damit werden hier anachronistische Maßstäbe appliziert, die der frühneuzeitlichen Geistlichkeit nicht gerecht werden. Ärgerlich ist die unkritische Verwendung des Begriffes „Staat“ für die weltliche Obrigkeit oder das kursächsische Territorium. Begriffe wie Staat, Intellektuelle, Beamtenapparat sollten, werden sie in einer Studie zur frühen Frühneuzeit verwendet, ausreichend reflektiert werden. Insgesamt sind die Ausführungen zu den Quellen selbst wie ihrer Auswertung zu kurz geraten. Als Exempel dafür mag das ‚Kapitel über die reformatorischen Anweisungen zum Theologiestudium’ dienen, das als Folie für die Texte des 17. Jahrhunderts konzipiert ist. (S. 69-97). Die Abhandlung einer systematischen Zusammenschau der „Theologenkonzeptionen“ nach verschiedenen Gesichtspunkten auf lediglich 12 Seiten vergibt einiges an Potential, das die Texte durchaus bieten. Schließlich wird meines Erachtens auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Idealbild, das die Professoren vom Theologiestudium zeichnen und dem Selbstverständnis der sozialen Gruppe der Geistlichkeit insgesamt, nicht befriedigend beantwortet. Denn zum einen kann weder direkt von diesem Studienideal der Wittenberger Professoren auf das Selbstverständnis der Theologen und schon gar nicht auf das der gesamten sozialen Gruppe der lutherischen Geistlichen geschlossen werden. Und zum zweiten stellt sich dem Leser unwillkürlich die Frage, wie sich dieses Selbstbild zu dem vom Autor erwähnten Hinweis (S. 3), dass ein Universitätsstudium in den meisten Territorien erst im 18. Jahrhundert von den angehenden Geistlichen gefordert wurde, verhält. Trotz der angesprochenen methodischen, analytischen und konzeptionellen Defizite der Studie bleibt das Forschungsfeld der Theologenausbildung in der Frühen Neuzeit von großem Interesse.

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