G. Fürmetz (Hrsg.): "Schwabinger Krawalle"

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Titel
"Schwabinger Krawalle". Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre


Herausgeber
Fürmetz, Gerhard
Erschienen
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Aribert Reimann, Historisches Seminar, Universität zu Köln

„München – Weltstadt mit Schmerz“ – so betitelte Dieter Hanitzsch im Juni 1962 eine seiner Karikaturen für die Münchner Abendzeitung zu den Vorfällen rund um die Leopoldstraße, die als „Schwabinger Krawalle“ in das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingegangen sind. Bislang wurden diese Ereignisse immer wieder zitiert, aber noch kaum genauer untersucht. Der Hauptverdienst des neuen Sammelbandes ist damit zuallererst die gründliche wissenschaftliche Aufarbeitung jener unruhigen Nächte sowie ihres juristischen und publizistischen Nachspiels. Gerhard Fürmetz hat ein Autorenteam versammelt, das die komplexen Zusammenhänge sowohl der Ereignisse selbst als auch der sozialen und kulturellen Strukturen offenbart, in deren Kontext die „Schwabinger Krawalle“ gesehen werden müssen. Das Hauptproblem der historischen Einordnung ist schnell ausgemacht: Im – protestgeschichtlich gesehen – „luftleeren Raum“ zwischen den so genannten „Halbstarkenkrawallen“ der Jahre 1956–1958 und den Revolte-Jahren 1967/68 sind die „Schwabinger Krawalle“ von der Jugendprotestforschung als verspätetes Halbstarken-Aufbegehren eingemeindet worden, während die politische Ahnenforschung der Studentenprotestgeneration die Schwabinger Ereignisse als „Mutter der Revolte“ aufzubauen versucht hat. Nach der Lektüre dieses materialgesättigten Sammelbandes können beide Interpretationen ad acta gelegt werden.

Nach Fürmetz’ Einführung in den Forschungsstand arbeitet Stefan Hemler „Protestbeteiligte, Verlauf und Aktionsmuster“ heraus. Er bietet einen differenzierten Blick auf moralische Motive, spezifische Teilnehmergruppen, „halbstarke“ Protestelemente und eine tendenzielle Akademisierung der Proteste. Die Wochenend-Situation nach Fronleichnam spielte dabei ebenso eine Rolle wie die soziale und publizistische Mobilisierung, die immer wieder neue Schaulustige auf die Leopoldstraße zog. Hemler bilanziert das Geschehen als eine Lebensstil-Revolte, die sich nicht – wie der damalige Bürgermeister Hans-Jochen Vogel zu beobachten glaubte – gegen die Modernisierung, sondern für einen hedonistischeren Stil des metropolitianen Lebens engagierte.

Michael Sturm widmet sich der Rolle der Polizei, die sich im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen als „wildgewordene Obrigkeit“ bezeichnen lassen musste. Zunächst erinnert Sturm an die direkte Vorgeschichte der „Schwabinger Krawalle“, die Auseinandersetzungen um ein polizeilich beendetes Jazz-Konzert in der Universität Anfang Juni und die Zusammenstöße am Wedekindplatz am Vorabend der Schwabinger Proteste. Wichtige Einflussfaktoren für den Polizeieinsatz waren demnach die äußerst heterogene Struktur der eingesetzten Einheiten aus verschiedenen Schutzpolizeien und unerfahrenen Polizeischülern sowie die vollkommen veralteten Einsatztaktiken aus der Weimarer Republik, die zudem auf einer Gesetzeslage fußten, die selbst von damaligen Richtern als antiquiert gekennzeichnet wurde. Der konkrete Ablauf der Polizeieinsätze lässt sich nach Sturm am besten mit dem Attribut „chaotisch“ umschreiben. Langfristig feierte die Münchner Polizei die Einführung der „Münchner Linie“, die auf größere Kommunikation und Deeskalation setzte, als großen Lernerfolg der folgenden Jahre.

Andreas Voith bietet eine umfassende Presseanalyse regionaler und überregionaler Blätter während der letzten Juni-Woche. Im Gegensatz zu den traditionellen „Halbstarken-Krawallen“ der 1950er-Jahre lässt sich eine durchweg kritische, teilweise mit den Protestierenden solidarische Presseberichterstattung konstatieren. Lediglich das konservative „8-Uhr-Blatt“ stellte eine obrigkeitstreue Ausnahme dar; es bezeichnete zum Beispiel die voranstürmende Polizei als „Himmlische Heerscharen“. In ungewohnter Deutlichkeit kritisierten dagegen andere Blätter das Vorgehen der Polizei, die den Kampf um die Öffentlichkeit auf ganzer Linie verloren zu haben schien. Mit zunehmender geografischer Distanz verwandelte sich das Presse-Echo allerdings in ungläubiges Staunen ob der ungewohnt hitzigen Krawall-Nächte im Amüsierbezirk Schwabing. Die Leserbriefspalten der Lokalpresse taten ein Übriges, um die Krawalle in eine veröffentliche Meinungsschlacht zu verwandeln.

Als Folge der polizeilichen Übergriffe formierte sich in München eine „Interessengemeinschaft zur Wahrung der Bürgerrechte“, die Esther Arens untersucht hat. Münchner Bildungsbürger organisierten angesichts der anrollenden Prozesswelle eine Anlaufstelle für Augenzeugen, die sich um den Rechtsanwalt Till Burger versammelte. Wer mag, kann hier eine erste „Bürgerinitiative“ oder eine Vorform der „Justizkampagnen“ der späten 1960er-Jahre erblicken. Margit Fürmetz widmet sich demgegenüber einem unbeteiligten Opfer der Polizei, dem Stadtjugendamtsleiter Kurt Seelmann, dem die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Jugend und Obrigkeit immer am Herzen gelegen hatte. Von allen Seiten geachtet, geriet der 62-Jährige dennoch mehrmals unter die Knüppel der Polizei und sah sich veranlasst, daraufhin umfangreiche Vorschläge für die zukünftige Polizeiarbeit zu erstellen. Seine tiefe Besorgnis um die Demokratiefähigkeit jener Polizisten, die ihn und andere verprügelten, bewegt auch heute noch.

In weiteren Beiträgen liefern Hemler und Sturm vertiefende Überlegungen zu ihren ersten Aufsätzen nach. Dabei gelingt es Hemler im Blick auf die Münchner Universität recht überzeugend, den Mythos von den Schwabinger Krawallen als Urform des Studentenprotests zu begraben. Das studentische Interesse scheint uneinheitlich und kaum über die Semesterferien hinaus von Dauer gewesen zu sein. In einer Miszelle weist Hemler auch darauf hin, dass die führenden Köpfe der späteren „Subversiven Aktion“ die Krawalle im eigenen Stadtteil schlicht und einfach verschliefen. Eindrucksvoll ist Sturms Blick auf die Prozesse, in denen „Unruhestifter“ mit teilweise empfindlichen Strafen und erheblichen persönlichen Nachteilen zu rechnen hatten, während die Beweisführung gegen angeklagte Polizisten allzu oft am Korpsgeist und einem seltsamen Kameradschaftsbegriff unter den Beamten scheiterte. Auch dubiose richterliche Urteilsbegründungen bringen die heutigen Leser/innen zum Staunen. Sturms Beitrag ist ein Lehrstück für all jene, die bereits die frühe Bundesrepublik für einen erfolgreichen demokratischen Rechtsstaat halten. Fürmetz bilanziert schließlich die Rolle der „Schwabinger Krawalle“ in der öffentlichen Erinnerung. Da von vielen Seiten zu unterschiedlichsten Zwecken auf jene Juni-Tage zurückgegriffen wurde, gibt es erst seit kurzem Raum für eine wissenschaftliche Betrachtungsweise.

Die Stärken des Bandes liegen in der materialreichen Präsentation, die den Leser/innen mit zahlreichen Fotos, Augenzeugenberichten und anderen Primärquellen einen vielseitigen Eindruck vermitteln und schon als Sammlung ausgewählter Quellen nützlich ist. Die Beiträge leisten darüber hinaus eine umfassende Analyse der historischen Kontexte und schließen überzeugend an die einschlägige Forschung etwa zur Jugendkultur und zur Nachkriegspolizei an. Leider sind bei der gründlichen lokalhistorischen Arbeit einige weiterführende Aspekte der Kulturgeschichte der Bundesrepublik zu sehr in den Hintergrund getreten. Zu denken wäre an die vielversprechenden Reflexionsmöglichkeiten der Körper- und Geschlechtergeschichte, die leider nur am Rande gestreift werden.1 Zudem hätten die Kontinuitätslinien polizeilicher Praxis konsequenter bis in die Weimarer Republik zurückverfolgt werden müssen. Eine systematische Auswertung etwa der Lebensläufe der verantwortlichen Polizeioffiziere und ihrer Ausbildung in den vorangegangenen Jahrzehnten hätte bereits vorliegende Untersuchungen zur Struktur der bundesrepublikanischen Nachkriegspolizei konkretisiert.2 Der Anschluss an die gegenwärtige Generationenforschung hingegen misslingt wohl auch deshalb, weil ein eindeutiges Generationen- oder Kohortenschema in den Schwabinger Nächten umso weniger auszumachen ist, je genauer man sich mit den zur Verfügung stehenden Daten beschäftigt. Implizit hat das wohlfeile Hantieren mit dem Generationenbegriff mit diesem Band einen empirischen Dämpfer bekommen, was durchaus zu begrüßen ist.3 Die „Schwabinger Krawalle“ werden im Ergebnis aller Beiträge stärker als bisher als eigenständiges Phänomen kenntlich, das den frühen 1960er-Jahren als einer historischen Gelenkstelle der Nachkriegszeit neues Gewicht verleiht.

Anmerkungen:
1 Einschlägig: Maase, Kaspar, „Lässig“ contra „Zackig“. Nachkriegsjugend und Männlichkeiten in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Christina Benninghaus; Kerstin Kohtz (Hgg.), „Sag’ mir, wo die Mädchen sind...“. Beiträge zur Geschlechtergeschichte der Jugend, Köln 1999, S. 79-101.
2 Vgl. Weinhauer, Klaus, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und innerer Sicherheit: Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn 2003; Fürmetz, Gerhard; Reinke, Herbert; Weinhauer, Klaus (Hgg.), Nachkriegspolizei. Sicherheit in Ost- und Westdeutschland 1945–1969, Hamburg 2001.
3 Vgl. hier z.B.: Fischer-Kowalski, Marina, Halbstarke 1958, Studenten 1968. Eine Generation und zwei Rebellionen, in: Ulf Preuss-Lausitz (Hg.), Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, Weinheim 1991, S. 53-70.

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