Cover
Titel
Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation


Autor(en)
Yurchak, Alexei
Erschienen
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 53,98
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Noack, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die historiographische Aufarbeitung der sowjetischen Zeitgeschichte nach 1945 hat begonnen: Allmählich rückt auch die Breschnew-Zeit ins Blickfeld der Forschung. Alexei Yurchaks Studie über die letzte sowjetische Generation ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine Pionierstudie. Sie setzt den Schwerpunkt zeitlich auf die siebziger und achtziger Jahre, sie stellt die Frage, ob und inwieweit die Breschnew-Zeit tatsächlich als eine "Periode" in der sowjetischen Geschichte verstanden werden kann, und schließlich wird dieser Versuch unter anregendem kulturgeschichtlichen Blickwinkel unternommen.

Für die späte Sowjetunion sei eine weitgehende Entpolitisierung des Alltags und eine Verfestigung, ja Verknöcherung von Macht- und Herrschaftsbedingungen ("Stagnation") typisch gewesen. Für Yurchak spiegelten sich diese Tendenzen in der zeitgenössischen Erfahrung der "Ewigkeit" und "Unveränderlichkeit" der Verhältnisse wieder. Nichtsdestoweniger, so suggeriert der Titel des Buches und führt Yurchak einleitend aus (S. 1-4), war der Systemzusammenbruch für viele Sowjetbürger einerseits völlig unerwartet, andererseits aber problemlos nachvollziehbar, nachdem er einmal begonnen hatte. Zentrale Frage ist für Yurchak deswegen nicht, wodurch der Kollaps ausgelöst wurde, sondern welche Besonderheiten ihn gleichzeitig unvorhersehbar und möglich machten.

Chruschtschow und Breschnew hatten ihre Herrschaft nach dem Verzicht auf das Terrorsystem durch eine (im Vergleich zum kapitalistischen Westen) überlegene Sozial- und Konsumpolitik neu zu legitimieren gesucht, ohne dabei den ideologischen Begründungszusammenhang in Frage stellen zu wollen. Ersterer hatte den neuen Kurs noch durch direkte Rückgriffe auf die Ideologie motiviert und das Land politischen Kampagnen überzogen, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringen sollten. Der Machtwechsel zu Breschnew vollzog sich als Abkehr von dieser sprunghaften Interventions- und Erziehungspolitik. Diese Verschiebung ist als eine Art neuer sowjetischer Gesellschaftsvertrag, als Breschnews "little deal" begriffen worden: "Die da oben taten, als ob sie regierten und die da unten taten, als ob sie arbeiteten".1

In der Forschung entstand eine Fülle von binären Beschreibungsmodellen der neuen Verhältnisse: Dichotomische, häufig moralisierende Gegenüberstellungen von Politischem und Privatem, Unterdrückung und Widerstand, Repression und Freiheit, Staat und Volk, Ökonomie und Schattenwirtschaft, Kultur und Gegenkultur, totalitärer Sprache und Untergrundsprache, Wahrheit und Lüge, Realität und "Dissimulation", Moral und Korruption. Diese dichotomischen Befunde, so schreibt Yurchak mit einiger Berechtigung, konnten in der Regel weder methodisch befriedigend abgesichert werden, noch entsprachen sie zeitgenössischen Wahrnehmungen der Sowjetbürger. Vielmehr wurzelten sie in der Wissensproduktion über diese Zeit, die entweder extern von ausländischen Wissenschaftlern unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz oder von beteiligten sowjetischen "Insidern" geleistet wurden. (S. 5-8)

Mit diesen binären Beschreibungsmodellen konnten aber weder die Dynamik noch die Reichweite der Veränderungsprozesse präzise gefasst werden. Zudem ignorierten sie, dass "viele fundamentale Werte, Ideale und Realitäten des sozialistischen Lebens (wie Gleichheit, Gemeinschaft, Selbstlosigkeit, Altruismus, Freundschaft, ethische Beziehungen, Sicherheit, Bildung, Arbeit, Kreativität und Sorge um die Zukunft ) wirkliche Bedeutung besaßen, auch wenn sie häufig in der Routine des Alltags bestimmte Normen und Regeln der offiziellen sozialistischen Staatsideologie überschritten, reinterpretierten oder zurückwiesen" (S. 8). Deshalb sucht Yurchak nach einem Ansatz, um ‘Sozialismus‘ auch als System menschlicher Werte und Alltagsrealitäten eines normalen Lebens jenseits von 'Staat' oder 'Ideologie' fassen zu können.

Für Yurchak war es in erster Linie die Restrukturierung des diskursiven Raumes, die Spielräume für Unbestimmtheit, Kreativität und die Artikulation von "Eigensinn" in der spätsowjetischen Gesellschaft schuf. Der Verzicht auf die verbindliche Deutung durch einen außerhalb stehenden Meisterinterpreten unterschied demzufolge die Sowjetunion der Breschnew-Zeit von derjenigen Stalins. Der ideologische Diskurs wurde so berechenbarer, verlor aber seine Qualitäten als Quelle der Deutungshoheit im politischen Feld und verkam zu einem Diskurs, dessen Grammatik unveränderlich blieb, der aber gleichzeitig alle anderen Diskurse strukturierte (S. 14-15). Dies, so Yurchak in Anlehnung an die Sprechakt-Theorie, führte zu einer tiefgreifenden Transformation aller Arten sowjetischer ideologischer Diskurse: Es war nun weniger wichtig, die ideologische Repräsentation der buchstäblichen (referentiellen) Bedeutung zu lesen, als vielmehr ihre Struktur (Form) zu reproduzieren (S. 25-26). In der performativen Dimension schuf dies Raum für individuelle Aneignungen, mithin für nicht antizipierte Botschaften im Kontext strikt formelhafter ideologischer und politischer Rituale bzw. Institutionen (S. 27-29).

So anregend Yurchaks Ausgangsthese von einer unmittelbaren Wechselbeziehung zwischen der Verkrustung der referentiellen Dimension von Diskursen und Ritualen einerseits und der Entstehung performativer Spielräume andererseits in heuristischer Perspektive ist, so problematisch erweist sich deren methodische Operationalisierung. Im Mittelpunkt der Untersuchungen Yurchaks stehen die Aktivitäten von Komsomolfunktionären, die zu den diskursiven und rituellen Vorgaben des Systems in Widerspruch zu stehen scheinen (Kapitel 2). Dabei rekurriert Yurchak anhand einzelner Biographien gerade auf die Vereinbarkeit, ja gegenseitige Bedingung von ideologischen Überzeugungen, Systemkonformität und gesellschaftlicher wie kultureller Dynamik – und damit auf die gegenseitige Durchdringung der vorher binär, ja sogar dichotomisch gedachten Sphären.

In der Tat überzeugen vor allem die Beispiele des Komsomolfunktionärs und Rock-Impressarios Andrei und des langjährigen, zwischen weltanschaulichen Fragen und alltagspraktischen Anliegen oszillierenden Briefwechsels zweier ehemaliger Schulkamaraden, Nikolai und Leonid (Kapitel 5 und 6). Hier gelingt es Yurchak besonders eindrücklich, diskursive Schablonen, individuelle Aneignungen und Praktiken von Komsomolfunktionären im Gegensatz zum offiziellen Diskurs, aber eben nicht zur persönlichen ideologischen Überzeugung der Funktionäre nachzuzeichnen.

Als übertragbar erweist sich Yurchaks Ansatz ebenfalls hinsichtlich einer vertieften Untersuchung von bereits an anderer Stelle beschriebenen "Zwischenräumen".2 Hier ist vor allem von der Entstehung und Aneignung von offiziell geduldeten, ja geförderten Foren freundschaftlicher und offenherziger Diskussion die Rede, etwa archäologischen oder geologischen Expeditionen oder Lese- oder Wissenschaftszirkeln. Eine eher konventionelle Perspektive auf die Massenflucht der Gesellschaft in Räume, die als "außerhalb" des Politischen gedacht werden, spiegeln andere Passagen der Studie wieder, die beispielsweise die kulturellen Nischen sowjetischer Großstädte am Beispiel Leningrads (Cafés, Literaturzirkel, Aktionskünstler und Rockszene) ausloten (Kapitel 4). Yurchak argumentiert hier mit der mehrdimensionalen Semantik der russischen Präposition "vne", die zugleich etwas als "außerhalb", aber eben doch als "Teil von etwas" bezeichne. Die behauptete intrinsische Verbindung belegen seine Beispiele jedoch nur insofern, als die Sphäre des "Außerhalb" vom Diskurs des Politischen mitstrukturiert wird (etwa S. 131-133).

Insgesamt aber ist Alexei Yurchak, einem in den USA wissenschaftlich sozialisierten Kulturanthropologen mit biographisch "sowjetischem" Hintergrund, eine höchst anregende zeithistorische Studie gelungen. Sie regt zu Reflexionen über die Anwendbarkeit des Ansatzes auf weitere Quellenbestände und gesellschaftsgeschichtliche Phänomene der späten Sowjetunion an, auch wenn Yurchak selbst im Laufe des Buches vielleicht etwas zu häufig auf die Ausgangsthesen rekurriert. Eine breitere empirische Einlösung der Ausgangshypothese und damit eine vertiefende Untersuchung von Verschränkungen der fixierten und ritualisierten Sphäre der Diskurse mit den weitaus dynamischeren gesellschaftlichen Praktiken stehen in der Tat noch aus. Nichtsdestoweniger hat Yurchak einen substantiellen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach dem Epochencharakter der Breschnew-Zeit geliefert.

Anmerkungen:
1 Millar, James R., The Little Deal: Brezhnev's Contribution to Acquisitive Socialism, in: Thompson, Terry L.; Sheldon, Richard (Hrsg.), Soviet Society and Culture. Essays in Honor of Vera S. Dunham, Boulder u.a. 1988, S. 3-19.
2 Wail, Pjotr; Genis, Aleksandr, 60-e. Mir sowjetskogo tschelowjeka, Moskau 1998 (Erstausgabe New York 1988).

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