Titel
Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur


Autor(en)
Stockhammer, Robert
Erschienen
München 2007: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
233 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Steinsieck, Historisches Seminar, TU Braunschweig

Karten sind Repräsentationsmedien mit zugleich performativem Charakter. Dass sich an ihnen nicht nur Muster der Weltwahrnehmung ablesen lassen, sondern dass mit ihnen diese Welt erst geschaffen wird, macht sie zu zentralen Quellen der Geschichtswissenschaft und man darf sich freuen, dass die deutschsprachige Forschung dies in den letzten Jahren erkannt hat. 1 Mit der Anwendung dekonstruktivistischer Theorien auf die Lektüre von Karten sind diese von Kartographietheoretikern wie J. B. Harley seit den 1980er Jahren in die Nähe von Texten gerückt worden. Der Berliner Literaturwissenschaftler Robert Stockhammer hat sich nun das Ziel gesetzt, den Unterschieden und Ähnlichkeiten der Zeichensysteme Literatur und Kartographie nachzuspüren, um deren Spezifika im Kontrast zu erhellen.

Karten werden – im Gegensatz zu Bildern – „gelesen“. Als auf der Fläche angeordnete Medien ohne vorgegebene lineare Leserichtung unterscheiden sie sich aber auch grundlegend von literarischen Texten. Da es Stockhammer mit dem Vergleich um die Betonung des „Gemachtseins“ von Karten geht, nimmt er die ihnen inhärenten semiotischen Regeln ernst. Indem er seine Definition von Karten einschränkt auf „Zeichenverbundsysteme, die ein Gelände darstellen, das als bereisbar vorgestellt wird“ (S. 13), hebt er sich explizit von einer Kulturwissenschaft ab, die im Zuge des „spacial turn“ Kartierung als modische Metapher bis zur Unkenntlichkeit ausweitet.

Stockhammer gliedert sein Buch in zwei Teile. Während im ersten Teil die beiden Zeichensysteme theoretisch-systematisch miteinander verglichen werden, unternimmt er im zweiten Teil fünf Einzellektüren von für dieses Thema kanonischen Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts.

Stockhammer beginnt mit einer Sezierung des Zeichenregimes Kartographie. Auf knapp 50 Seiten legt er prägnant die Spezifika und Probleme von Projektions-, Punktfixierungs- und Augmentationsverfahren dar. Dieser Abschnitt ist mehr als nur eine gut lesbare Einführung in Kartographiegeschichte. Stockhammer arbeitet dabei die Motivation der Entwicklung dieser Verfahren durch staatliche, nicht zuletzt militärische Interessen heraus. Mit der Verwissenschaftlichung der Kartenproduktion um 1800 nahm auch immer mehr deren „Rhetorik der Neutralität“ (Harley) zu. Stockhammer betont die Unmöglichkeit ideologiefreier Karten. Beim Kartenlesen sei es außerordentlich schwierig, zwischen „Grammatik“ und „Rhetorik“ zu unterscheiden, zwischen unvermeidbaren und motivierten Lügen: „Jede Verzeichnung verzeichnet.“ (S. 49)

In der Terminologie von Charles Sanders Peirce, der bei der Erarbeitung seiner Semiologie seine Erfahrung als Geodät nutzen konnte, basieren Karten auf symbolischen Zeichen, werden von einer indexikalischen Funktion dominiert und erzeugen eine „ikonische Illusion“ (50). Das komplexe Zusammenspiel dieser drei Zeichentypen konstituiert das besondere Machtdispositiv von Karten. Für die Untersuchung der Beziehung zwischen Karten und Literatur erweitert Stockhammer zunächst die Index-Definition von Peirce um den Bereich des Fiktiven. Denn während in dessen Theorie ein Index nur auf etwas real Existierendes verweisen kann, erweist sich die Unterscheidung zwischen fiktiven und realen Orten nicht nur, aber insbesondere auch in der Literatur als intrikat.

In weiteren Abschnitten bezieht Stockhammer erhellend Begrifflichkeiten aus Kartographie und Literaturwissenschaft aufeinander. Das wegnacherzählende Itinerar und sein richtungsloses Gegenstück, der Positionskatalog, werden mit Phorik und Index verglichen. Einen weiteren Begriff entleiht Stockhammer der Kartographie, um ihn für die Literaturwissenschaft zu übernehmen, indem er vorschlägt, Erzählperspektive durch Erzählprojektion zu ergänzen. Und schließlich führt er für die Nähe zu kartographischen Verfahren den Begriff der Kartizität ein.

Der zweite Teil widmet sich einer Lektüre von Swifts Gulliver’s Travels, Schnabels Insel Felsenburg, Goethes Wahlverwandtschaften, Stifters Nachsommer und Melvilles Moby-Dick; or, the Whale. In all diesen Romanen wird explizit auf Kartographie Bezug genommen. Damit verschleiert diese Auswahl ein wenig den Anspruch des Vergleichs der beiden Zeichensysteme, der prinzipiell auch unabhängig vom Inhalt funktionieren müsste. Stockhammer selbst begründet die Auswahl aber mit der dünnen, ihm freie Wahl lassenden Forschungslage sowie dem Vorzug der Reichhaltigkeit der theoretischen Reflexion in diesen Romanen.

In Schnabels Insel Felsenburg wird die soziale Ordnung auf der Insel durch eine Politik der Toponyme repräsentiert und hergestellt. Text und Karte verweisen aufeinander und sind ineinander verwoben. Damit hebt sich diese sozialutopische Robinsonade von Defoes Vorbild ab. Denn Robinson hat auf seiner Insel beinahe alles inventarisiert – nur an ihrer Kartierung zeigte er kein Interesse. Stockhammer erklärt diesen Gegensatz überzeugend mit der gesellschaftlichen Funktion von Karten. Der Einsame benötigt keine Karte.

Das Kapitel über Goethes Roman Wahlverwandtschaften ist vielleicht das ergiebigste unter den Lektüren. Stockhammer wendet sich mit Benjamin gegen eine Lesart als Eheroman, sondern betont die Korrelation zwischen dem Zerfallen von Eduards und Charlottes auf Kartierung begründeter Ordnung und der Missachtung kartographischer Verfahren. Er stellt erstmals ausführlich Goethes Rezeption der zeitgenössischen Kartographie dar. Goethe war Zeitzeuge der Gründung des Geographischen Instituts Weimar und zeigte großes Interesse an dessen Produktionen. Sowohl in seiner „Campagne in Frankreich 1792“ als auch im Romanfragment „Reise der Söhne Megaprazons“ wird Karten zentrale Bedeutung zugewiesen. In letzterem sieht Stockhammer die Skizze für die Wahlverwandtschaften angelegt. Goethe ergreift in dieser Lesart in beiden Werken Partei für die Kartographie. Er verteidigt das ordnungsstiftende Medium gegenüber dem unmediatisierten Blick. Diese Deutung erscheint schlüssig und originell.

Die große Nähe der kartographischen Wissenschaft zu militärischen Interessen wird durch die Romanlektüren bestätigt. Nicht zufällig ist der Vermesser von Eduards und Charlottes Garten ein Hauptmann, dessen kartographische Aufnahme des Schauplatzes Stockhammer mit der Repräsentation eines Kriegstheaters vergleicht. Auch Gullivers Welt bricht am Ende zusammen: Auslöser ist seine letzte Reise, die ihn zu den Houyhnhnms führt, deren Land als Allegorie auf das Mitte des 17. Jahrhunderts mit Hilfe der Kartographie kolonisierte Irland gelesen werden kann. Die Houyhnhnms kennen weder Schriftkultur noch Krieg. Die Kartierung ihres Landes ist ihnen fremd. Gullivers kartographisch geschulte Wahrnehmung versagt ihm hier. Anstatt Land und Bewohner zu kartieren, identifiziert er sich mit ihnen und entwickelt Sympathie für ihre Unfähigkeit, das Konzept des Sprechaktes der Lüge zu verstehen. Die Spannung zwischen dem fremden und dem eigenen Sprach- und Wahrnehmungsmodell führt für Gulliver freilich zu einem permanenten Ekel.

Melvilles Moby-Dick; or, the Whale sieht Stockhammer vom Spannungsverhältnis zwischen Kartierbarkeit und Nichtkartierbarkeit regiert. Der Roman gibt ihm die Möglichkeit, das Entstehen der Ozeanographie zu beschreiben, zu deren ersten Beschäftigungen die Kartierung von Walfanggründen gehörte. Captain Ahab ist ausgestattet mit solchen Karten und doch findet er Moby-Dick erst, nachdem er seine Navigationsinstrumente in einem Tobsuchtsanfall zerstört hat. Er musste an dem bereits im Romantitel angedeuteten Paradox zerbrechen, dass ein individueller Wal nicht kartierbar ist.

An Kartographiegeschichte Interessierte lernen bei Stockhammer viel über systematische und jeweils zeitgenössische Möglichkeiten und Grenzen des Mediums und seiner Wahrnehmung durch die Schriftsteller. Die Darstellung ist in allen Abschnitten rückgekoppelt an den jeweiligen Stand der Kartographie. Das geht soweit, dass er die den Romanen beigegeben Karten mit zeitgenössischen Karten und auch Reiseberichten verglichen und etwa für Schnabel eine wohl zufällige Übereinstimmung seiner Karte von Klein Felsenburg mit einem holländischen Reisebericht festgestellt hat. Das Buch zeichnet sich zudem durch eine klare, orthographisch makellose Sprache aus. Sehr störend erweist sich allerdings das Fehlen einer angemessen in die Fragestellung einführenden Einleitung wie auch einer bilanzierenden Reflexion.

Das ändert freilich nichts daran, dass das Buch ein Gewinn für Geschichtswissenschaft, Semiotik und Literaturwissenschaft ist und ein sehr gelungenes Beispiel für Transdisziplinarität.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Schneider, Ute, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004; Dipper, Christof; Schneider, Ute (Hrsg.), Der Raum und seine Repräsentation. Karten in der Neuzeit, Darmstadt 2006.