V. Rozhon: Ceští cestovatelé a obraz zámorí v ceské spolecnosti

Cover
Titel
Ceští cestovatelé a obraz zámorí v ceské spolecnosti [Tschechische Reisende und das Bild von Übersee in der tschechischen Gesellschaft].


Autor(en)
Rozhon, Vladimir
Erschienen
Prag 2005: Skovian
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
Kc 339,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sarah Lemmen, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig

Die böhmischen Länder in den Kontext von Regionen zu stellen, die nicht in Europa liegen, ist ein Unterfangen, dem in der Geschichtswissenschaft lange eher am Rande nachgegangen wurde. Aufgrund böhmischer Spezifika wie der Binnenlage ohne direkten Meerzugang oder dem Fehlen von Kolonien scheint dieses Forschungsdesiderat auf den ersten Blick nicht sonderlich überraschend. Gleichzeitig zeigt das vor allem in den letzten Jahren angestiegene Forschungsinteresse an globalen Prozessen, wie stark auch die Geschichte der tschechischen Gesellschaft mit außereuropäischen Regionen verknüpft war. Neben der Migrationsgeschichte, die über Tschechen im Ausland, weniger aber über die Rückwirkung der Emigration auf die böhmischen Länder forscht 1, und einigen eher populärwissenschaftlichen biografischen Studien zu tschechischen (Welt-)Reisenden 2, erschienen in den letzten Jahren einige Studien, die tschechische Aktivitäten im außereuropäischen Ausland zum Thema haben oder den Einfluss außereuropäischer Strömungen – vor allem in der Kunst – auf die tschechische Gesellschaft untersuchen. 3

Umso mehr Interesse weckt das hier anzuzeigende Buch von Vladimír Rozhon, das laut Titel nicht nur tschechische Reisende in Übersee, sondern auch deren Rückwirkung auf die tschechische Gesellschaft zu untersuchen verspricht. Es geht um Bilder außereuropäischer Regionen, gezeichnet von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1918. Nicht die Reisen selbst oder die einzelnen Reisenden in ihren Werdegängen stehen also im Vordergrund, sondern die Berührungspunkte zwischen den Reisenden und der breiten tschechischen Öffentlichkeit. Die Studie stützt sich dabei weitgehend auf veröffentlichte Reiseberichte von neun der bekanntesten tschechischen "professionellen Reisenden" (cestovatelé – profesionalové, S. 7), sowie auf Artikel in zeitgenössischen Zeitungen und einiges weniges an Archivmaterial aus den Nachlässen der Reisenden.

Nach einem einführenden Kapitel, in dem die erste "Entdeckung“ der Kontinente durch tschechische Reisende in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit einhergehend die "Formierung des Bildes von Übersee im tschechischen Bewusstsein" (S. 13) thematisiert wird, wendet sich Rozhon den Beziehungen der Reisenden zur tschechischen Gesellschaft vor und nach ihren Reisen zu.

Die Vorbereitungen und die Frage nach der finanziellen Unterstützung der Reisen werden in Kapitel 2 beleuchtet. So sei staatliche Förderung für tschechische Reisende kaum erreichbar, die meisten Reisenden daher auf privates Kapital oder Spenden angewiesen gewesen. (S. 78) Dieses hier nur angerissene Thema hätte bei weiterer Vertiefung wichtige Ergebnisse liefern können: So weist die fehlende staatliche Förderung auf ein grundlegendes strukturelles Problem in den böhmischen Ländern als Teil der Habsburger Monarchie hin, das im deutlichen Gegensatz zu anderen Ländern steht, in denen Expeditionen im Rahmen von direkter oder indirekter Kolonialisierung staatlich gefördert wurden. Die Aufdeckung einer außerstaatlichen Finanzstruktur, wie im Falle des nur kurz erwähnten Vereins "Svatobor" (S. 72), sowie das Wirken privater Gönner wäre für weitergehende Forschungen sicher von Interesse.

Der Rückkehr der Reisenden und ihrer Rückkopplung an die tschechische Gesellschaft ist Kapitel 3 gewidmet. Durch Vorträge, Reiseberichte und Ausstellungen konnten die Reisenden eine breitere Öffentlichkeit erreichen. Auch hier zeigt sich wieder ein tschechisches Spezifikum als "kleine Nation". In einer ersten Phase wurden die Vorträge von einigen Reisenden monopolisiert. So konnte der Afrikaforscher Emil Holub noch bis 1894 ohne Konkurrenz Vorträge über seine Reisen halten. Danach öffnete sich das Feld langsam, zuerst für den Südamerika-Reisenden Enrique Stanko Vráz, der aber aufgrund seiner geografischen Ausrichtung kein direkter Konkurrent von Holub wurde. Erst später begann sich ein Konkurrenzverhältnis um die Gunst der Zuschauer und damit um die Finanzierung der folgenden Reisen zu entwickeln (S. 97). Ein wesentlich stärker verbreitetes Medium zur Erreichung eines Publikums war das Schreiben von Reiseberichten. Ausstellungen dagegen wurden eher selten organisiert, obwohl das intensive und systematische Sammeln von Artefakten von fast allen der hier genannten tschechischen Reisenden getätigt wurde (S. 132).

Eine neue Perspektive wird in Kapitel 5 unter dem Titel "Blick der tschechischen Reisenden auf die eingeborene Bevölkerung" eröffnet, in dem der Frage nach der Einschätzung des Kolonialismus seitens der tschechischen Reisenden nachgegangen wird. Rozhon kategorisiert unterschiedliche Ansätze, reichend vom "beobachtenden Ansatz" über den "erzieherischen Ansatz", der "Verteidigung des Kolonialismus" bis hin zu einem "gleichberechtigenden Ansatz". Leider werden die extensiv zitierten Textpassagen aus den jeweiligen Reiseberichten nicht in einen Kontext zu anderen Kolonialismusstudien gestellt. Auch fehlt jegliche weitergehende Interpretation, z. B. ob sich die Äußerungen in der hochimperialistischen Periode des Untersuchungszeitraums vor 1918 wandeln oder je nach betrachteten Regionen unterschiedlich ausfallen, so dass aus dem Befund, so neu er für Studien zur tschechischen Geschichte sein mag, keine verallgemeinernde These abgeleitet wird.

Einige grundlegende Mängel ziehen sich durch das Buch und erschweren das Lesen: Die fehlenden Fragestellungen und Hypothesen machen aus dem reichen und sehr ansprechenden Quellenfundus eine reine Anekdotensammlung. Dadurch werden die langen Zitate, die sich teilweise über mehrere Seiten hinziehen, zum Selbstzweck. Sie werden nicht zur Untermauerung von Hypothesen verwendet. Eine Interpretation oder Kontextualisierung der Quellen sucht der Leser vergeblich. Zusätzlich fehlt eine Reflexion der bestehenden Forschungsliteratur fast gänzlich, was zu einem teilweise naiv anmutenden Umgang mit Quellen, Termini und Fragestellungen führt. So hätte die intensive Beschäftigung mit Arbeiten über biografische Texte und Reiseberichte eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem "Wahrheitsgehalt" der Quellen ermöglicht und so etwa verhindert, die Rückprojektion der Reiselust ins früheste Kindesalter für bare Münze zu nehmen (S. 64). Ebenso fehlt eine terminologische Trennung zwischen Quellen- und Analysebegriffen, was spätestens beim Lesen des Begriffs der "primitiven Nationen" (primitivní národy, S. 233) irritiert.

Die Lektüre des Bandes hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Trotz eines wissenschaftlichen Apparats bietet es eher Anekdoten als Antworten auf Fragen. Dennoch: Denkanstöße für mögliche weitere Forschungen finden sich in diesem Buch zuhauf, die bei weitergehender Interpretation der Quellen neues Licht auf die tschechische Geschichte in deren Vernetzung mit der Welt zu werfen versprechen.

Anmerkungen:
1 Vor allem: Polišenský, Josef, Úvod do studia dejin vystehovalectví do Ameriky I. Obecné problémy dejin Ceského vystehovalectví do Ameriky 1848-1914 [Einführung in das Studium der Geschichte der Auswanderung nach Amerika I. Allgemeine Probleme der Geschichte der tschechischen Auswanderung nach Amerika 1848-1914], Praha 1992.
2 Kunský, Josef, Ceští cestovatelé [Tschechische Reisende], Bd. 1 und 2, Praha 1961; Šolle, Zdenek, Vojta Náprstek a jeho doba [Vojta Náprstek und seine Zeit], Praha 1994; Klobas, Oldrich, Alois Musil zvaný Músa ar Rueili [Alois Musil genannt Músa ar Rueili], Brno 2003.
3 Navrátilová, Hana, Egypt v ceské kulture prelomu devatenáctého a dvacátého století [Ägypten in der tschechischen Kultur um 1900], Praha 2001; Zídek, Petr, Ceskoslovensko a francouzská Afrika 1948-1968 [Die Tschechoslowakei und das französische Afrika 1948-1968], Praha 2006; Štorchová, Lucie, Mezi houfy lotruv se pustiti: ceské cestopisy o Egypte 15.-16. století [Sich unter eine Schar von Schurken begeben: Böhmische Reiseberichte über Ägypten im 15. und 16. Jahrhundert], Praha 2005.

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