U. Müller: Ausgebeutet oder alimentiert?

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Titel
Ausgebeutet oder alimentiert?. Regionale Wirtschaftspolitik und nationale Minderheiten in Ostmitteleuropa (1867 - 1939)


Herausgeber
Müller, Uwe
Reihe
Frankfurter Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas 13
Anzahl Seiten
257 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Boyer, Universität Salzburg

Ausgebeutet und im Zustand der Unterentwicklung und Verwilderung belassen – oder durch eine Zentralregierung wirtschaftlich gefördert und auf den Weg gebracht: dies waren, mit vielen faktisch möglichen Zwischenstufen, die beiden Extreme des Verhältnisses zwischen politischem Zentrum und Region im Ostmitteleuropa des späteren 19. und des früheren 20. Jahrhunderts. In modernisierungstheoretischer Perspektive ist der sozialökonomische Entwicklungsrückstand der Großregion im europäischen Rahmen unbestritten; die markante interne, „mikroregionale“ Heterogenität ist aber ebenso unbestreitbar. Solange der Geist der staatlichen Wirtschaftspolitik liberal war, war dies kein Problem. Wo der Staat sich dann allerdings, mit dem Eintritt ins Zeitalter sich demokratisierender Massengesellschaften, zu wirtschaftspolitischen Interventionen veranlasst sah, war im ethnisch-national intensiv durchmischten Ostmitteleuropa alle Regionalpolitik zwangsläufig auch immer Nationalpolitik; sie war Entwicklungspolitik zugunsten bestimmter – und damit eben auch zuungunsten bestimmter anderer – Ethnien bzw. Nationalitäten.

Der vorliegende, vom Herausgeber Uwe Müller mit einer kundig und präzise argumentierenden Einleitung versehene Sammelband analysiert diese komplizierte Gemengelage wirtschafts- und nationalpolitischer Strategien und die hieraus resultierenden komplexen Wechselwirkungen zwischen Ökonomie und Nationalgesellschaften. Entstanden ist er aus einer Tagung im Rahmen des unter der Leitung von Helga Schultz an der Viadrina durchgeführten Projekts „Wirtschaftsnationalismus in Ostmitteleuropa zwischen 1867 und 1939“.1 Der Band nimmt die ostmitteleuropäischen Teilstücke des Deutschen Kaiserreichs (die polnischen Provinzen Preußens) und der Habsburger Monarchie (cisleithanisches Galizien, transleithanisches Oberungarn) in den Blick. Die Fortsetzung der Geschichte spielt in der Zwischenkriegszeit: in der Ersten Tschechoslowakischen Republik und im wieder- bzw. neugegründeten polnischen Nationalstaat. Weitgehend abgedeckt sind somit die Kernterritorien Ostmitteleuropas. Der Band ist überlegt durchkomponiert; die Beiträge gruppieren sich zu binationalen Tandems: Franz Baltzarek und Piotr Franaszek über Galizien, Zoltán Kaposi und Roman Holec zu Oberungarn/Slowakei bis 1918, Uwe Müller und Stefan Kowal zu den preußischen Teilungsgebieten Polens, Drahomír Jančík und L’udovít Hallon zur Slowakei im Rahmen der Tschechoslowakischen Republik der Zwischenkriegszeit; abgerundet wird die Kollektion durch einen Aufsatz von Werner Benecke zu den polnischen Kresy der Zwischenkriegszeit.

Die Zeitgrenze „nach hinten“ setzt der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867: Ab da lässt sich eine staatlich-cisleithanische von einer transleithanischen Wirtschaftspolitik unterscheiden. Ein sehr viel weniger bedeutender Einschnitt ist, für den deutschen Fall, das Jahr 1871. Der preußische Staat war in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches vor wie nach dem Jahr der Reichsgründung der maßgebliche wirtschafts- und nationalpolitische Akteur. Zeitgrenze zur Gegenwart ist der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die deutsche Besatzung, dann die Ära des Staatssozialismus: Dies wären eigene, neue regional- und minderheitenpolitische Geschichten. Eine wichtige Binnenzäsur ist, aus offensichtlichen Gründen, das Jahr 1918, des Weiteren die Weltwirtschaftskrise: Sie löst einen neuerlichen markanten Schub der Staatsintervention aus. Vielerorten werden im Europa der 1930er-Jahre regionale Entwicklungspolitiken neu erfunden. In Ostmitteleuropa können sie auf die im Rahmen der Nationalitätenproblematik entstandenen älteren Traditionen des Umgangs mit regionalen Gefällen zurückgreifen.

Unabdingbar ist der Blick auf die politisch-administrativen Rahmenbedingungen von Regional- bzw. Nationalitätenpolitik. Ob – wie in Ungarn vor 1918, und in Polen bzw. der Tschechoslowakei nach 1918 – die Struktur des Gesamtstaats eher zentralistisch oder, wie in Zisleithanien, eher föderal war, ist von beträchtlichem Belang. Nach 1918 förderte in den ostmitteleuropäischen Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie die Furcht der neuen Staatsnationen vor der Illoyalität der Minderheiten eine Zentralisierung der staatlichen Strukturen; die Frage der Bevorzugung oder Benachteiligung der Regionen vom Zentrum her stellte sich von daher mit neuer Schärfe.

In der cisleithanischen Abteilung der habsburgischen Monarchie war der Koerber-Plan der wohl bekannteste Anlauf zu einem großangelegten Infrastrukturprogramm, welches die binnenwirtschaftliche Integration fördern und relative Rückständigkeit beseitigen sollte. Diese Demonstration staatlicher Fürsorge gegenüber den Nationalitäten in den Regionen scheiterte allerdings an den Eifersüchteleien regionaler Interessengruppierungen hinsichtlich der Verteilung der Investitionsmittel. Das Unternehmen geriet, mit anderen Worten, in einen Teufelskreis: Der zur Bearbeitung der unausgewogenen Strukturen konzipierte Plan verfing sich in den divergierenden Interessen, die von ebendiesen Strukturdisparitäten hervorgebracht wurden. Die Wirtschaftspolitik Transleithaniens, speziell die Industrieförderung, war in der Anlage „ökonomischer“: Sie war, weil von der politischen Klasse Ungarns befürwortet und unterstützt, auch energischer und von längerem Atem. Sie war primär branchen-, nicht regional oder nationalitätenpolitisch orientiert, präferierte also, anders als die transleithanische Sprachen- und der Schulpolitik, nicht offen die Magyaren bzw. richtete sich nicht evident gegen die nationalen Minderheiten. Sie setzte, etwa im Blick auf die Migrationsströme in die magyarischen Zentren, auf die automatisch assimilierende Wirkung ökonomischer Modernisierungsprozesse. Für die Rückständigkeit der slowakischen Gebiete war nicht in erster Linie eine bewusste, aus nationalpolitischer Ranküne resultierende Vernachlässigung der Peripherie verantwortlich; maßgeblich waren eher „die Umstände“: etwa die Randlage Oberungarns zur Metropole Budapest. Bei näherem Hinsehen spielte dann allerdings, „draußen im Land“ und auf der Ebene der Komitate, eine – die ökonomische Effizienz konterkarierende – Nationalpolitik doch eine nicht unbeträchtliche Rolle, etwa bei der Vergabe von Staatsaufträgen oder Krediten.

In Preußen war die Bewahrung der nationalen Besitzstände in der „deutschen Ostmark“ bzw. deren weitere „Germanisierung“ das Ziel – dem die polnische Nationalbewegung allerdings sehr viel energischer entgegentrat als die slowakische in Oberungarn. Alle Wirtschafts- und Regionalpolitik geriet hier unverzüglich und unweigerlich auf das Terrain des Nationalitätenkampfs. Letztlich waren es in Cisleithanien wie in Transleithanien, auch in Preußen, die Nationalitätenfragen, welche die Regierungen zu regionalpolitischen Interventionen je unterschiedlicher Kalibrierung und mit im Einzelnen verschiedenen Instrumenten und Mitteln veranlassten.

Nach 1918 wurden die Programme zur Entwicklung der östlichen Landesteile in den neuen National-, faktisch Nationalitätenstaaten Polen und Tschechoslowakei eher schleppend umgesetzt. Dies hatte mit dem Wirtschaftsnationalismus zugunsten der neuen Staatsnationen zu tun. In Polen richtete er sich in erster Linie gegen die Deutschen, in der Tschechoslowakei begünstigte er die Tschechen gegenüber den Deutschen. Erst in zweiter Linie wirkte er sich zum Wohl der Slowaken aus – allerdings weniger aus nationalpolitischen Motiven, sondern eher en passant, also etwa durch Industrieansiedlungen, die sich die relativ niedrigen Lohnkosten im Osten der Republik zunutze machten. Ungeachtet beträchtlicher Fortschritte gelang die Beseitigung der inneren ökonomischen Disparitäten in der Zwischenkriegszeit weder in Polen noch in der Tschechoslowakei. Im Allgemeinen wurden Instrumente und Konzepte der Regionalpolitik, im Vertrauen auf die Überlegenheit der Staatsnation, eher zu deren Gunsten und im Geist des Wirtschaftsnationalismus gehandhabt.

Der Band nimmt ein Problemfeld in den Blick, dem die Forschung bislang, sowohl hinsichtlich der Einzelmaterien wie auch in vergleichender Perspektive noch zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat. Herumgeisternde Mythen – etwa die Legende von der Vernachlässigung der polnischen Teilungsgebiete durch „ihre“ imperialen Mächte vor 1918 – geraten durch die binationale Bündelung der Beiträge unter Attacke: Offensichtlich ist die Doppelung und damit Diversizifierung der nationalen Blickwinkel einer Dekonstruktion etwa der These von der systematischen Benachteiligung Galiziens „durch Wien“ förderlich. Galizien hätte, so die kontrafaktische Überlegung, als selbständiger Staat eher noch weniger reüssiert; das wohl bedeutendste Entwicklungshemmnis war im cisleithanischen Osten nämlich nicht eine ausbeuterische oder wirtschaftspolitisch passive „Zentrale Wien“, sondern die wirtschaftsfremde, insbesondere an Investitionen im Land kaum interessierte einheimische Aristokratie. Auch die polnischen Teilungsgebiete dürften von ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Reich in wirtschaftlicher Hinsicht eher profitiert haben. Zu diesem – politisch vielleicht nicht ganz korrekten – Gesamtbild gehört, dass sich in der Habsburger Monarchie insgesamt wie auch in den beiden Reichshälften der Rückstand der Peripherien zu den Zentren vor dem Ersten Weltkrieg verringerte; im Blick auf das Deutsche Reich sind in dieser Hinsicht die Ergebnisse weniger eindeutig. Hier wie in manchen anderen Hinsichten hat die Forschung noch viel zu tun. Der vorliegende Band ist für weiterführende Anstrengungen ein vorzüglicher Ausgangspunkt.

Anmerkung:
1 Das Projekt hat eine Reihe weiterer, für die neuere ostmitteleuropäische Wirtschaftsgeschichte substantieller Bände hervorgebracht, u.a.: Müller, Uwe; Schultz, Helga (Hrsg.), National borders and economic disintegration in Modern East Central Europe, Berlin 2002; Kubů, Eduard; Schultz, Helga (Hrsg.), Wirtschaftsnationalismus als Entwicklungsstrategie ostmitteleuropäischer Eliten. Die böhmischen Länder und die Tschechoslowakei in vergleichender Perspektive, Prag 2004; Günther, Jutta; Jajesniak-Quast, Dagmara (Hrsg.), Willkommene Investoren oder nationaler Ausverkauf? Ausländische Direktinvestitionen in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert, Berlin 2006; Lorenz, Torsten (Hrsg.), Cooperatives in Ethnic Conflicts. Eastern Europe in the 19th and 20th Century, Berlin 2006.

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