K. Heinsohn u.a. (Hrsg.): Deutsch-jüdische Geschichte

Titel
Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Heinsohn, Kirsten; Schüler-Springorum, Stefanie
Reihe
Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 28
Erschienen
Göttingen 2006: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marina Sassenberg, Duisburg

Noch vor fünfzehn Jahren wäre der Titel undenkbar gewesen. Deutsch-jüdische Geschichtswissenschaft und Geschlechterforschung haben seither rasante Fortschritte gemacht. Nicht ohne Widerstände haben sich beide Fachgebiete an deutschen Universitäten im Rahmen der Jüdischen Studien wie als Gender Studies etabliert, in vielerlei Hinsicht beeinflusst durch einschlägige Forschungserfahrung in den Vereinigten Staaten. Insofern lag es nahe, mit dem Abstand einer Generation deutsche und amerikanische Wissenschaftlerinnen zusammenzubringen und im Rahmen eines Workshops nach dem Stand der Forschung, ihrer Entwicklung und zukünftigen Aufgaben zu fragen. „Gender in Modern Jewish History: Rethinking Jewish Women’s and Gender History“ lautete dementsprechend der Titel der Tagung, ausgerichtet vom Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden im Oktober 2003. Institutsleiterin Stefanie Schüler-Springorum und Kirsten Heinsohn, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts, haben Beiträge dieser Konferenz zu einem Band zusammengefasst, der „einen Überblick über zentrale Themen der neueren deutsch-jüdischen Geschichte aus der Perspektive der Frauen- und Geschlechtergeschichte“ geben soll, wie es im Rückentext heißt.

Dreizehn Aufsätze zum Teil namhafter Wissenschaftlerinnen sind perspektivisch in vier Abschnitte gegliedert: „Modernisierung aus geschlechterhistorischer Perspektive“, „Sozialgeschichtliche Perspektiven“, „Kulturgeschichtliche Perspektiven“. Eine thematische Einführung der Herausgeberinnen ist den Kapiteln vorangestellt; ein Diskussionsteil bildet den Schluss.

Modernisierung ist ein Schlüsselbegriff der deutsch-jüdischen Geschichte. Die Geschichte der deutschen Juden im 19. und 20. Jahrhundert ist zugleich die Geschichte eines „jüdischen Projekts der Moderne“ (Shulamit Volkov), der Verbürgerlichung, des sozialen Aufstiegs. Paula Hyman und Simone Lässig stellen diesen Begriff in den Kontext der Geschlechtergeschichte. Hyman arbeitet spezifische „Muster der Modernisierung“ bei jüdischen Frauen in Deutschland und Russland heraus. Simone Lässig stellt die Frage nach dem Verhältnis von Geschlechterdiskurs, religiöser Modernisierung (Reform) und kultureller Verbürgerlichung und bewegt sich damit auf einem noch weithin unbearbeiteten Feld. Am Beispiel des Gottesdienstes zeigt sie die schrittweise Veränderung der Geschlechterrollen im Prozess der Verbürgerlichung deutscher Juden seit Beginn der Aufklärung.

In der Sektion sozialgeschichtlicher Perspektiven zeichnet Monika Richarz ein Bild der „Geschlechterhierarchie und Frauenarbeit seit der Vormoderne“ und beschreitet damit zugleich neue Bahnen sowohl in der deutsch-jüdischen Geschichtswissenschaft wie in den Gender Studies. Claudia T. Prestel postuliert „die jüdische Familie in der Krise“ anhand der jüdischen Fürsorgeerziehung der 1920er-Jahre; Harriet Pass Freidenreich greift noch einmal den Themenkomplex „Die jüdische ‚Neue Frau‘ des frühen 20. Jahrhunderts“ auf; ein Beispiel für eine zentrale Etappe in der Exilforschung der 1990er-Jahre ist Atina Grossmanns Analyse der Situation von Ärztinnen im Exil nach 1933.

Den kulturhistorischen Teil leitet der Beitrag von Ruth Abusch-Magder über „Kulinarische Bildung“ ein. Sie untersucht darin „jüdische Kochbücher als Medien der Verbürgerlichung“; Alison Rose befasst sich mit Schriften zionistischer Denker und deren Konzepten von „Frau“, „Geschlecht“ und „Nation“; Sharon Gillerman fragt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Diskursen der jüdischen und nichtjüdischen Gesellschaft um Fortpflanzung und Mutterschaft am Beispiel des Themas „jüdischer Körperpolitik“; Martina Steers Versuch über „Bertha Badt-Strauss‘ Biographie der Zionistin Jessie Sampter“ schließt diese Sektion ab.

Im Mittelpunkt des Diskussionsteils stehen die Beiträge von Miriam Gebhardt und Marion Kaplan, die unterschiedliche Sichtweisen auf die Aussagekraft autobiographischer Schriften von Frauen präsentieren. Autobiographien, so Kaplan, seien in der deutsch-jüdischen Geschichtsforschung unverzichtbare Quellen. Die Existenz dieser Quellen sei bereits „ein Wert an sich“, insbesondere nach der umfassenden Zerstörung von Archiven infolge des Nationalsozialismus (S. 253). Kaplan schöpft aus langjähriger, eigener Forschungserfahrung, wenn sie eine Entwicklungslinie der historischen Frauenforschung im Kontext deutsch-jüdischer Geschichtswissenschaft nachzeichnet. Während Kaplan den Ereignisgehalt von Memoiren hervorhebt, steht bei Gebhardt der Konstruktionsgehalt im Mittelpunkt. Gebhardt wirbt für ein plurales Verständnis der Lesbarkeit autobiographischer Texte.

Mit Deborah Hertz‘ Schlussaufsatz über „Männlichkeit und Melancholie im Berlin der Biedermeierzeit“ rechtfertigt sich die Zuordnung der im Wesentlichen frauengeschichtlich orientierten Schrift zur Geschlechtergeschichte. Er ist zugleich ein Hinweis auf einen aktuellen Forschungstrend, denn, wie Stefanie Schüler-Springorum selbst an anderer Stelle konstatiert hat 1, die Thematik Mann/Männlichkeit ist längst ins Blickfeld der Gender Studies gerückt.

Strukturelle Schwächen des Bandes sind nicht zu übersehen: Wer in der Einleitung eine thematische Verknüpfung der äußerst heterogenen Texte erwartet bzw. eine Erläuterung der Auswahl und Zuordnung der Beiträge, wird enttäuscht. Stattdessen präsentieren die Herausgeberinnen eine Skizze ausgewählter Forschungsfelder. Die konzeptionelle Linienführung des Bandes bleibt unscharf, ebenso die Verwendung von Begriffen. Gesprochen wird etwa von „jüdischer Geschlechtergeschichte“ (S. 18), von „Frauen- und Geschlechtergeschichte des deutschen Judentums“ (S. 20) und davon, dass die Geschlechtergeschichte in der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung angekommen sei. (S. 7). Hinter solchen Begriffen stehen unterschiedliche Konzepte, die wissenschaftstheoretisch noch zu verorten und deshalb zu definieren sind. Sollte zu der geplanten Folgekonferenz ein weiterer Tagungsband erscheinen, so ließe sich hier vielleicht ansetzen. Andreas B. Kilcher2 hat unlängst gezeigt, dass mit einer begrifflichen Positionierung auch editorische Leitlinien verbunden werden können. Letztere sollten nicht zuletzt auch die Aktualität und Originalität der Beiträge berücksichtigen.3

Es ist das Schicksal von Tagungsbänden, dass sie oft von Zufälligkeiten, Zeit- und Kostenrahmen bestimmt werden. Ohne die Hintergründe zu kennen, ist in diesem Fall zu bedauern, dass auf zwei Tagungsvorträge – Liliane Weissbergs Überlegungen zur Männlichkeit am Beispiel der Korrespondenz zwischen Sigmund Freud und Wilhelm Fließ sowie Barbara Hahns „Diagnosen der Moderne. Mensch, Frau, Jude bei Margarete Susman und Hannah Arendt“ – verzichtet wurde. Hahn und Weissberg stehen für kreative Forschungsansätze im Gender-Diskurs der deutsch-jüdischen Geschichtsforschung.

Vielleicht war das Projekt, eine Standortbestimmung des Gender-Diskurses in der deutsch-jüdischen Geschichtswissenschaft in kompakter Form vorzunehmen, allzu ambitioniert. Dennoch sollte schon die Existenz dieser Schrift in doppelter Hinsicht als Erfolg gewertet werden: für die Gender Studies wie für die deutsch-jüdische Geschichtswissenschaft.

Anmerkungen:
1 Schüler-Springorum, Stefanie, Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte, in: transversaal 1/2003, S. 3.
2 Kilcher, Andreas B.; Otfried Fraisse, Lexikon jüdischer Philosophen, Stuttgart/Weimar 2003.
3 Beides läßt der vorliegende Band vermissen: Die Aufsätze von Grossmann, Hyman und Lässig wurden komplett (Grossmann, Hyman) bzw. in großen Teilen (Lässig) bereits veröffentlicht. Die englische Originalfassung von Grossmann stammt aus dem Jahr 1995.

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