Cover
Titel
Moscow Stories.


Autor(en)
Graham, Loren R.
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 25,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Ackeret, Moskau

Für viele Auslandskorrespondenten ist die Versuchung groß, zum Abschluss jahrelanger Beschäftigung mit einem Land oder einer Region ein bilanzierendes Buch zu veröffentlichen. Manch einem Diplomaten geht es nicht anders. Selten jedoch ist es, dass ein Wissenschaftler in einem Band seine Erfahrungen als Forscher und Brückenbauer zwischen unterschiedlichen Lebens- und Wissenschaftswelten einem breiteren Publikum anvertraut und jenseits seiner engeren Forschungsinteressen über das Land und über die Menschen und Orte schreibt, die ihn ein Wissenschaftlerleben lang begleitet haben. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker und Russland-Spezialist Loren R. Graham hat es getan.

Sein Buch mit dem Titel „Moscow Stories“ ist kein wissenschaftliches Werk. Ein analytischer roter Faden fehlt ihm ebenso wie eine präzise Fragestellung. Der rote Faden ist das Wissenschaftlerleben des Autors, der von Anfang an nicht zögert, dem Leser die Einzigartigkeit seiner Erfahrungen bewusst zu machen. Darin liegt er, wenn seinen Schilderungen auch eine gewisse Eitelkeit nicht fehlt, sicherlich nicht falsch. Nicht viele Zeitgenossen stehen seit fast fünfzig Jahren in derart intensivem Austausch mit Russland (und einst mit der Sowjetunion); nur wenige waren und sind mit der sowjetischen und russischen Wissenschaft so sehr vertraut wie er. Grahams Buch gibt aber nicht nur einen Einblick in den sowjetischen Alltag zwischen dem Ende der fünfziger Jahre und dem Zusammenbruch des Imperiums und in die Struktur der Wissenschaftswelt jener Zeit, sondern auch in die für jüngere Generationen zuweilen absurd anmutenden Versteck- und Ränkespiele zu Zeiten des Kalten Krieges. „Moscow Stories“ ist in diesem Sinne auch ein Buch über die Verflechtungen und Schranken zwischen den Supermächten, ein Buch über die USA ebenso wie über die Sowjetunion und Russland.

In fünf Hauptkapiteln, die dem Buch eine mehr thematische denn chronologische Ordnung geben, schildert Graham, wie er in einem Dorf im amerikanischen Mittleren Westen das erste Mal mit dem Kommunismus konfrontiert wurde und schließlich von Farmersburg, Indiana, über das Erststudium an einer Militärakademie und der Columbia University als Graduate Student nach Moskau kam, um unter anderem für seine Dissertation über die sowjetische Akademie der Wissenschaften in den 1930er-Jahren zu recherchieren. Graham ist ein guter Erzähler, und seine Kapitel sind zumeist in sich geschlossene, mit viel Witz erzählte und mit zahllosen Anekdoten angereicherte Miniaturen über die sowjetischen Lebenswirklichkeiten, über russische Bräuche, über herausragende Persönlichkeiten – den Physiker Peter Kapiza, den Biologen Trofim Lysenko, den späteren Gorbatschow-Berater Alexander Jakowlew – und über die vielen Grautöne der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen im Kalten Krieg.

Der Titel „Moscow Stories“ trifft den Inhalt des Buches mithin nur bedingt. Natürlich – zu den großen Stärken zählen die Innenansichten eines Amerikaners, der Anfang der 1960er-Jahre ein Jahr lang als einer von ganz wenigen amerikanischen Studenten an der Moskauer Staatsuniversität (MGU) lebte, studierte und den sowjetischen Alltag und die Kommilitonen intensiv kennenlernte. Aber in den langen Passagen der Schilderungen all der späteren Jahre, als Graham regelmäßig für Forschungsaufenthalte nach Moskau zurückkehrte, erfährt man auch viel Informatives über die amerikanische „Sowjetologie“ als typisches Kalter-Krieg-Phänomen, über die Nähe von Wissenschaft und geheimdienstlicher Aufklärung auf beiden Seiten des Atlantiks und über den amerikanischen Kommunismus.

Graham, der sich in eigenen Forschungen vor allem mit der sowjetischen bzw. russischen Technik- und Wissenschaftsgeschichte beschäftigt hat, stand als Akteur und zuweilen auch als Leidtragender – eine Weile lang durfte er nicht mehr in die Sowjetunion einreisen – mitten im Geschehen und schildert die Gratwanderung zwischen Wissenschaftsfreiheit und politischer Abhängigkeit ohne Scheuklappen. In seinen Erzählungen verbinden sich die persönlichen Erfahrungen, die tiefe Sachkenntnis und das große Engagement für die darbende russische Wissenschaft auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit der Beobachtung der politischen Veränderungen, wenngleich das Anekdotisch-Erzählerische eher Grahams Stärke ist als die Analyse, die in diesem Buch höchstens mitgemeint, nie aber zentral ist.

Grahams Buch ist eine sehr stark persönlich gefärbte, memoiristische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und Amerika im Kalten Krieg. Für Historiker, die sich mit der Sowjetunion der Nach-Stalin-Zeit beschäftigen, ist der Band eine Fundgrube für Alltagsdetails und als Memoiren-Quelle durchaus verwendbar. Nicht immer allerdings wird genügend ersichtlich, worauf sich Graham bei der Niederschrift seiner Erinnerungen stützte – besonders dann, wenn er seitenlang Gespräche dokumentiert, die Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen.
Einmal mehr jedoch relativiert Graham, ohne darauf groß einzugehen und ohne die Repression zu beschönigen, die Umfänglichkeit des „Totalen“ in der Sowjetunion, wenn er etwa schildert, wie ausländische Studenten auch ohne entsprechende Bewilligung große Reisen quer durch die Sowjetunion unternehmen konnten. Sie setzten ihre Aufenthaltsgenehmigung aufs Spiel – aber sie blieben unbehelligt. Solche und viele andere Geschichten, an denen das Buch reich, an gewissen Stellen sogar fast schon überreich ist, zeigen das differenzierte Bild einer vergangenen Zeit, die besonders für jene, die im heutigen Russland ihre „Moscow Stories“ erleben, fern und zuweilen doch beklemmend nah liegt.

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