A. Zellhuber: "Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu..."

Titel
"Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu....". Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion 1941-1945


Autor(en)
Zellhuber, Andreas
Reihe
Studien zur Politik und Geschichte, Bd. 3
Erschienen
Stamsried 2006: Verlag Ernst Vögel
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Gotto, Institut für Zeitgeschichte

Ist es möglich, über eine zentrale Institution der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft und Vernichtungspolitik in der Sowjetunion eine rein verwaltungsgeschichtliche Untersuchung zu schreiben? An der Antwort auf diese Frage entscheidet sich, welcher Wert der jüngsten Studie für die NS-Forschung zukommt, die sich in eine ganze Reihe von neueren Arbeiten zur Person und zu den Aktivitäten Alfred Rosenbergs einfügt.1 Zellhubers administrativer und ordnungspolitischer Zugriff stößt in ein nach wie vor vernachlässigtes Forschungsfeld, denn unser Wissen über die innere Struktur und Funktionsweise der Ministerien in der NS-Zeit ist lückenhaft. Schon allein deshalb ist sein Ansatz gerechtfertigt. Weit stärker als bei anderen Zentralinstanzen hängt das Urteil über die Berliner Behörde indessen davon ab, wie man deren Interaktion mit dem ausführenden Unterbau bewertet. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (RMfdbO) interessiert uns vor allem deshalb, weil es Völkermord, Versklavung und Ausplünderung nicht nur mit organisierte, sondern vor allem deswegen, weil seine Mitarbeiter vor allem in den Reichskommissariaten „Ostland“ und „Ukraine“ auch an der Ausführung beteiligt waren.

Zellhuber schöpft für seine Studie in erster Linie aus den Beständen der Zentralbehörde, die im Bundesarchiv überliefert sind. Zweitens wertet er die nach geordneten Behörden des RMfdbO aus, soweit sie ebenfalls im Bundesarchiv greifbar sind, außerdem die Hinterlassenschaften der diversen Ämter und Dienststellen Rosenbergs sowie einer Reihe weiterer Ämter, mit denen das Ministerium (zumeist im Streit) korrespondierte. Weiterhin kann sich der Autor auf teils private, teils dienstliche Aufzeichnungen Rosenbergs und seiner engsten Mitarbeiter stützen, die diese während ihrer Tätigkeit niederschrieben. Als dritte Quellengruppe tritt eine Vielzahl von Rechtfertigungsschriften derselben Personengruppe hinzu. Auf dieser Grundlage lässt sich solide forschen, obgleich sie eine Lücke aufweist: Im Moskauer Sonderarchiv befinden sich seinerzeit von der Sowjetunion beschlagnahmte Akten, bei denen es sich größtenteils um Personalunterlagen der nicht reichsdeutschen Mitarbeiter des RMfdbO handelt. Der Autor weiß auch um die Existenz dieses Bestandes (S. 161, Fußnote 710). Diese Akten wären sicherlich wichtig gewesen, denn Rosenberg hatte auffällig viele Balten sowie russische und ukrainische Exilanten als „Ostexperten“ in seine Behörde gezogen. Gerade für die Besatzungsherrschaft vor Ort hätten diese Dokumente eine wünschenswerte Ergänzung der Berliner Zentralakten geboten, zumal fast alle Personalakten dort im Krieg zerstört wurden.

Ziel der Arbeit ist es, das Scheitern der von Rosenberg und seinem Haus vertretenen Ostpolitik aus der „Anatomie“ des RMfdbO heraus zu erklären. Damit setzt sich Zellhuber von Ansätzen ab, die auf die persönlichen Defizite Rosenbergs abheben, und dringt analytisch zu den strukturellen Ursachen dieses Scheiterns vor. Da er die „Anatomie“ dieser Behörde plausibel machen möchte, finden sich in dem Buch längere rein darstellende Passagen. Das Konzept der Studie trägt diesem Umstand durch analytische Einschübe Rechnung: Die eigentlichen Schlussfolgerungen zieht der Autor in insgesamt sechs „Zwischenbetrachtungen“, während die davor ausgebreiteten Darlegungen dafür empirisch den Boden bereiten und daher vorwiegend deskriptiv angelegt sind. Das ist für die möglichst schnelle wissenschaftliche „Ausbeutung“ des Textes angenehm, macht andererseits die Lektüre phasenweise etwas zäh, wenn man das Buch an einem Stück lesen möchte.

Inhaltlich gliedert es sich in sechs Hauptkapitel. Besonders gründlich nimmt Zellhuber sich der Genese, Einrichtung und Organisationsstruktur des Ostministeriums an. Breiten Raum widmet er auch dem Bild des Ostens innerhalb der wichtigsten Akteure der NS-Ostpolitik sowie dem Führungspersonal, der Rekrutierungspraxis und dem behördlichen Umfeld des RMfdbO. Kein Zufall ist es, dass das Kapitel über die Beteiligung des Ostministeriums am Holocaust im Vergleich dazu schmal geraten ist. Obwohl der Autor unzweideutig feststellt, dass das RMfdbO die Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung der osteuropäischen Juden „auf allen Ebenen“ (S. 231) unterstützte, bleibt die Darstellung in diesem zentralen Punkt blass. Dieser nahezu blinde Fleck der Untersuchung geht auf die konzeptionelle Entscheidung zurück, sich ganz auf die Berliner Zentrale zu konzentrieren. Damit kann diese Arbeit jedoch weder die „Dimension der Verstrickung“ noch die „Ebenen der Schuld“ (so die Titel der Zwischenüberschriften) tiefenscharf ausleuchten.

Die Stärken der Arbeit liegen in der dichten Beschreibung der internen Strukturen des Ostministeriums, die der Autor mit den ostpolitischen Konzeptionen Rosenbergs in Beziehung setzt. Dabei wird deutlich, wie misslich diese Behörde von Beginn an ohne eigentlichen Auftrag und mit der Zuständigkeit für ein Territorium arbeitete, das nur zum Teil der deutschen Herrschaft unterworfen war. Als eigentlicher Hemmschuh für das RMfdbO erwies sich der Widerspruch zwischen den Vorgaben Hitlers und den Vorstellungen Rosenbergs. Das war auch der Grund dafür, dass das RMfdbO nie zu einer endgültigen Organisationsform fand, denn nur widerwillig baute der Chef sein Haus nach Grundsätzen auf, die seinen ordnungspolitischen Vorstellungen widersprachen. Folgerichtig erschien die Behörde bereits Zeitgenossen als „Chaosministerium“ (S. 109). Zellhubers Analyse der diversen Abteilungen und Tätigkeitsfelder mündet dabei in die Feststellung, dass das RMfdbO innerlich mindestens ebenso polykratisch organisiert war, wie es als Gesamtbehörde mit anderen Instanzen in entsprechende Kämpfe verwickelt war. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die zahlreichen ins Ostministerium abgestellten „Verbindungsleute“ wie z.B. der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, Gottlob Berger, zwar formal in die Strukturen des Ministeriums eingebunden waren, im Zweifelsfalle ihre Loyalität aber ihrem alten Dienstherrn gehörte. Die polykratischen Konflikte wurden so nicht gelöst, sondern nur überdeckt – darum überzeugt auch die These vom paradigmatischen Scheitern des Ministeriums: Zellhuber spricht von einem „musterhaften Fiasko“ (S. 214) der verfehlten NS-Staatsidee.

Die Politik der Behörde wurde von einem engen informellen Zirkel formuliert, die aus den Netzwerken des Außenpolitischen Amtes hervorgegangen waren und sich selbst die „Rosenbergianer“ nannten. Dessen Grundkonzept fasst Zellhuber unter den Begriff der „Dekomposition“, obwohl er ihn als zu unscharf kritisiert (S. 42f.), weil sich Rosenbergs Ansatz grundlegend von den unter diesem Begriff subsumierten Denktraditionen der späten wilhelminischen und Weimarer Zeit unterschied. Im Kern lief Rosenbergs Konzeption darauf hinaus, die Völker der UdSSR nicht unterschiedslos als „Untermenschen“ zu betrachten, sondern ihnen abgestuft nach einer „völkischen“ Werteskala mehr oder weniger ausgeprägte Freiheiten zuzubilligen, um sie auf diese Weise der deutschen Herrschaft gefügig zu machen. Rosenbergs Ansatz wich damit zwar deutlich von den undifferenzierten Vorstellungen Hitlers oder Himmlers ab. Er war aber genauso rassistisch fundiert und utilitaristisch ausgerichtet, wenngleich sich einzelne Gruppierungen bei ihm einer gewissen Wertschätzung erfreuten.

Daraus, dass Rosenberg eine andere Ostpolitik wollte als das Deutsche Reich sie betrieb, leitet Zellhuber seine These der „fehlenden politische Perspektive“ ab, die er als Strukturmerkmal des Ostministeriums herausarbeitet und mit für dessen Scheitern verantwortlich macht. Allerdings macht er für diese Perspektivlosigkeit weniger das Ostministerium als die für die deutsche Ostpolitik letztlich entscheidenden Akteure und Instanzen haftbar. Diese Denkfigur übernimmt die Sichtweise der Führungsebene des RMfdbO: Hätte der NS-Staat nur einen anderen Ostkrieg geführt, so das Argument Rosenbergs und seiner Entourage, wäre das Ostministerium sehr viel erfolgreicher gewesen. Zugespitzt lautete das nach der Wende von Stalingrad wieder vehementer vorgebrachte Credo des RMfdbO: Dieser Krieg kann nur noch politisch (lies: mit Hilfe der Rosenbergschen Politik) gewonnen werden! An dieser Stelle hält die Analyse zu wenig Distanz zu den Nachkriegsapologien der leitenden Beamten (z.B. S. 111 u. 190). Stellenweise gewinnt der Leser den Eindruck, das RMfdbO habe stets nur die Lebensumstände der Zwangsarbeiter verbessern wollen. Auch die während der NS-Zeit von den „Rosenbergianern“ entwickelten konzeptionellen Vorstellungen gehen zuweilen als allzu harmlos durch (vgl. S. 348f.), eine Vorstellung, die erst in der Schlussbetrachtung ganz am Ende zurechtgerückt wird. Vielleicht ist die Rolle des RMfdbO für den Völkermord auch aus diesem Grunde zu schwach beleuchtet.

In diesem Lichte erscheint auch fragwürdig, wie stark sich der Richtungsstreit zwischen Rosenberg und dem gegen seinen Willen eingesetzten Reichskommissar für die Ukraine, Erich Koch, auswirkte. Koch scherte sich wenig um die Vorgaben seines Ministers und führte stattdessen ein Regiment nackter Brutalität. Offenbar befürwortete die Mehrheit der Gebietskommissare eher die vermeintlich humanere Herrschaftskonzeption Rosenbergs. Die Beschwerden über Kochs Politik bestätigen, dass auch örtlich die Besatzungsherrschaft keineswegs vom Respekt für bestimmte „Ostvölker“, sondern von Willkür und Grausamkeit sowie umfassender Korruption und Bereicherung geprägt war. Zudem hebt Zellhuber hervor, dass die Motivation der im Osten tätigen Verwaltungsführer große Übereinstimmung mit den Zielen der NS-Besatzungspolitik aufwies. Gleichwohl bedeutete der Alltag im „Osteinsatz“ für viele eine Enttäuschung ihrer Hoffnungen, materiell oder sozial aufzusteigen.

Zellhubers Studie bringt gewichtige neue Erkenntnisse über die NS-Herrschaft – darum ist die eingangs gestellte Frage für den Rezensenten mit „ja“ beantwortet. So stellt der Autor richtig, dass Rosenberg keineswegs nur Opfer von Kompetenzanmaßungen seiner Konkurrenten war, sondern selbst immer neue Zuständigkeiten reklamierte und Instanzen dafür bildete. Das Scheitern des RMfdbO lag nicht nur am unzureichenden Organisationsgeschick und Machtgespür Rosenbergs. In erster Linie erlitt das Ostministerium Schiffbruch, weil es eine andere Ostpolitik vertrat als Hitler und die Mehrzahl der entscheidenden Akteure der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik. Schließlich schränkt Zellhuber den Befund des totalen Scheiterns (seit Bollmus’ Pionierstudie eine allseits akzeptierte These) in einem entscheidenden Punkt ein: Ungeachtet aller Differenzen über Sinn und Ausrichtung der deutschen Ostpolitik arbeitete das RMfdbO fleißig daran mit, alle erreichbaren Ressourcen inklusive menschlicher Arbeitskraft aus dem Besatzungsgebiet herauszuquetschen (S. 369f.). Gerade an diesem Punkt lässt die Studie noch breiten Raum für künftige Forschungen, die nunmehr an Zellhubers Ergebnisse anknüpfen und darauf aufbauen können.

Anmerkungen:
1 Heuss, Anja, Kunst- und Kulturgutraub. Eine vergleichende Studie zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frankreich und der Sowjetunion, Heidelberg 2000; Piper, Ernst, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005. Eine Neuauflage des Klassikers von Reinhard Bollmus ist jüngst erschienen: Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, München 2006.

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