G. P. Groß (Hrsg.): Die vergessene Front - der Osten 1914/15

Titel
Die vergessene Front - der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung


Herausgeber
Groß, Gerhard P.
Reihe
Zeitalter der Weltkriege 1
Erschienen
Paderborn 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Barth, Geisteswissenschaftliche Sektion, Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Der vorliegende Sammelband, der aus einer Tagung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hervorgegangen ist und an der Historiker/innen aus acht Ländern teilgenommen haben, befasst sich umfassend mit den ersten zwei Jahren der Ostfront im Ersten Weltkrieg. Der etwas reißerische Titel mag zwar überzogen sein, spielt aber darauf an, dass oft selbst Expert/innen des 20. Jahrhunderts außer den Schlachten von Tannenberg und Tarnow-Gorlice kaum etwas über die Geschichte dieser Front bekannt ist. Der Band ist in drei Hauptsektionen gegliedert. Die erste befasst sich mit der strategischen Ausgangslage und den eigentlichen Kriegshandlungen, in der zweiten werden die jeweiligen Perzeptionen des Gegners, die Vorstellungen des Krieges, die Kriegswirklichkeit und die Feindbilder analysiert, und die dritte Sektion untersucht in etwas impressionistischer Weise die jeweiligen Gedenkkulturen, die sich in Gedenkstätten und Medien niedergeschlagen haben.

Hew Strachan und Gerhard P. Groß stellen in ihren Beiträgen die jeweiligen strategischen Schwierigkeiten der Kriegführung der Mittelmächte dar. Strahan argumentiert stark geopolitisch, während Groß hervorhebt, in welch starkem Maße der Krieg im Osten im Gegensatz zum Westen ein Bewegungskrieg gewesen sei. Lothar Höbelt untersucht die unzureichenden österreichischen strategischen und operativen Bemühungen zu Beginn des Krieges, die im Winter 1914/15 zu einem Desaster führten, während Günther Kronenbitter die Schwierigkeiten der österreichisch-deutschen Koalitionskriegsführung plastisch darlegt. Ein eher traditionell militärisch argumentierender Beitrag von Boris Khavkin beleuchtet die russische Perspektive. Alle diese Beiträge stellen solide Zusammenfassungen des jeweiligen Forschungsstandes dar. Stig Förster bezeichnet es in einem Kommentar als bisher ungeklärte Fragen, mit welchem Kriegsbild im August 1914 eigentlich operiert worden sei, und ob die Illusion eines kurzen Krieges wirklich überall bestanden habe. Nicht überzeugend ist hingegen die einmal mehr aufgestellte These von Terence Zuber, der deutsche Generalstab sei defensiv eingestellt gewesen und der Schlieffenplan stelle einen Mythos dar. Zuber hat mit der bisher vernachlässigten Analyse von deutschen Kriegsspielen und Generalstabsreisen vor 1914 interessantes und bisher vernachlässigtes neues Material erschlossen, dieses jedoch zu einseitig interpretiert.

Der zweite längere Hauptteil des Buches befasst sich mit den Perzeptionen und Feindbildern. Nur wenig bekannt dürfte im Westen die zwiespältige Haltung der Polen einerseits, ihre hohen Verluste andererseits sein. Piotr Szlanta betont, in welchem Maße sich die Polen anfangs gegenüber den drei Teilungsmächten loyal verhielten. Da ihnen aber keine zuverlässigen Gegenleistungen, etwa das Versprechen eines kommenden Staates geboten wurden, war eine erhebliche mentale Entfremdung von den jeweiligen Besatzungsmächten die Folge. Insgesamt wirkte der Krieg identitätsstiftend auf die neu entstehende polnische Nation. Im Gegensatz zur Westfront war Kriegsgefangenschaft im Osten ein Massenphänomen, und trotz der bestehenden Absprachen wurden die Gefangenen zu Objekten sowohl nationaler Agitation als auch dramatischer ökonomischer Ausbeutung, wie Reinhard Nachtigal zutreffend schildert. Die Erfolge dieser nationalen Beeinflussung blieben jedoch aus unterschiedlichen Gründen äußerst begrenzt. Zwar hebt Peter Hoeres hervor, dass in deutscher und österreichischer Perspektive Slawen durchweg negativ hierarchisiert wurden, dass dies aber häufig mit einer zivilisatorischen Mission im Osten verbunden wurde mit dem Ziel, Russen und andere vermeintlich zurückgebliebene Völker kulturell durch die Etablierung von quasi-kolonialen Strukturen zu verbessern. Dies ist etwas anderes als die Konzeption eines Vernichtungskrieges im Zweiten Weltkrieg, auch wenn die Völker im Osten häufig als dreckig, faul oder unterlegen bezeichnet wurden. Demgegenüber wandelte sich – so Hubertus F. Jahn – während des Ersten Weltkrieges das Deutschlandbild in Russland erheblich von einer weitgehenden Bewunderung der deutschen Kultur zu einer scharfen Ablehnung. Igor Narskij legt dar, dass in der russischen Erinnerung der Erste Weltkrieg fast vollständig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sei, weil er schnell durch die Erfahrungen der Revolution und des Bürgerkrieges verdrängt worden sei. Allerdings habe die Sozialisation und Disziplinierung von Millionen ungebildeter Bauern in der zaristischen Armee eine wichtige Voraussetzung für die spätere Organisation der Bolschewiki geschaffen.

An verschiedenen Stellen wird in dem Band die Frage der Kontinuität zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg angesprochen. Hans-Erich Volkmann analysiert die Erfahrungen der deutschen Offiziere, die zwar immer wieder in der Lage waren, Kämpfe und Schlachten zu gewinnen, Russland aber insgesamt nicht besiegen konnten. Deshalb setzten sie in ihren Planungen in der Zwischenkriegszeit verstärkt auf neue Waffentechnologien. Vejas Liulevicius hebt die Unterschiede zwischen dem quasi-kolonialen Besatzungsregime des Ersten Weltkrieges in Russland und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hervor, betont allerdings ähnlich wie Hoeres, dass das NS-Regime eine Reihe von älteren Stereotypen über die Minderwertigkeit von Russen und anderen Völkern im Osten aufgegriffen habe. Mehrfach wird erwähnt, dass die deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg nur über ein diffuses antirussisches Feindbild verfügten und dass sie teilweise ein positives Bild von den Juden im Osten gewannen, auch wenn deren Lebensweise auf weitgehendes Unverständnis stieß. Auch Rüdiger Bergien bezweifelt die These einer direkten Kontinuität. Allerdings hebt er zutreffend hervor, dass die bisherige Quellenlage noch keine abschließenden Schlüsse zulasse, weil zu wenig über den Frontalltag und die Wahrnehmungsmuster der deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg bekannt sei. Ferner lasse das Material bisher keinen Vergleich mit anderen kriegführenden Mächten zu.

Der dritte kürzere Teil des Buches beschäftigt sich mit ausgewählten Fallbeispielen medialer Erinnerungskultur. Am Beispiel des Moskauer Brüderfriedhofes, der – so Kristiane Jancke – ursprünglich 1915 als Allrussisches Kriegerdenkmal geplant, 1925 zum Park umgestaltet und 1940 zerstört wurde, lassen sich Veränderungen der Wahrnehmungen des Krieges und seine Verdrängung in Russland und in der Sowjetunion exemplarisch zeigen. Christine Beil untersucht die deutschen Kriegsausstellungen und kommt zu dem Schluss, dass diese ihren propagandistischen Effekt weitgehend verfehlten, allerdings das Stereotyp des kulturell unterlegenen und minderwertigen Russen in der Bevölkerung verfestigten. Rainer Rother zeichnet die Geschichte des Kultes um den unbekannten Soldaten nach, wobei bei ihm allerdings nicht die ehemalige Ostfront oder die Sowjetunion, in der dieser Kult anfangs unbekannt blieb, sondern der Westen im Mittelpunkt des Interesses steht. Demgegenüber bleiben die Ergebnisse von Gundula Bavendamm, die das Internet nach Erinnerungen an den Krieg im Osten durchsucht hat, vage und wenig aussagekräftig.

Abschließend lässt sich sagen, dass der Band eine zuverlässige Zusammenfassung des derzeitigen Forschungsstandes bietet und in internationaler Kooperation eine Reihe von weiterhin offenen Feldern benennt. Auch scheut der Herausgeber nicht, Kontroversen in den Band aufzunehmen und den Leser/innen als offene Fragen zu präsentieren. Redaktionell ist das Buch ausgezeichnet durchgearbeitet und der neuen Reihe des Verlages sind weitere ähnliche Bände zu wünschen.

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