Titel
Deutschland-Italien / Italien-Deutschland. Geschichte einer schwierigen Beziehung von Bismarck bis zu Berlusconi


Autor(en)
Rusconi, Gian E.
Erschienen
Paderborn 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Rutar, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Anhand der Geschichte der deutsch-italienischen Beziehungen – von Bismarck bis zu Berlusconi, wie der Untertitel der deutschen Übersetzung etwas gezwungen alliterativ meint – zeichnet der Turiner Historiker und Politikwissenschaftler Gian Enrico Rusconi, seit 2005 Direktor des Italienisch-deutschen Historischen Instituts in Trient, die Entstehung von Vorurteilen, Klischees und Stereotypen nach, die bis heute das Bild der Deutschen von „den Italienern“ und das der Italiener von „den Deutschen“ bestimmen.

Rusconis Herangehensweise ist ungewöhnlich: Bei Stereotypenforschung denkt man eher an kulturalistische oder anthropologische Methoden, an Identitätsbildungsprozesse, Bilder des Selbst und des Anderen, Mental Maps und dergleichen mehr, und weniger an eine politische Geschichte „harter Fakten“. Das vorliegende Buch beinhaltet aber genau letzteres, eine ganz unzeitgemäße Geschichte der „großen“ Männer, streckenweise spannend wie ein Krimi. Die Hauptakteure sind „Bismarck und La Marmora, Bülow und Giolitti, Sonnino sowie Salandra, Mussolini und Hitler, Ciano und Badoglio, Adenauer und De Gasperi, Sforza und Hallstein, und schließlich Kohl, Genscher, Andreotti und die Politiker der Gegenwart“ (S. 7). Als Quellen zieht Rusconi die Tagebücher, Biografien, Privatkorrespondenzen und diplomatischen Aufzeichnungen der die Schaltstellen höchster Entscheidungen umgebenden und beeinflussenden Figuren heran, wie Goebbels’ Tagebücher, jene des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker, des deutschen Botschafters in Rom vor dem ersten Weltkrieg, Anton Graf Monts, sowie jenes vor und im zweiten Weltkrieg, Ulrich von Hassell, und dessen Pendant in Berlin, Bernardo Attolico, oder des britischen Vertreters im Hauptquartier der Alliierten im westlichen Mittelmeerraum, Harold Macmillan, sowie streckenweise auch Presseberichte und -kommentare. In der Zusammenschau ergibt sich eine facettenreiche Analyse, die einerseits detailliert die historischen Gegebenheiten sowie die Urteile und Interpretationen der Zeitgenossen vorsichtig und kenntnisreich auswertet, in Kapiteln, die etwa „,Italienische Unzuverlässigkeit’ und ‚deutsche Anmaßung’“, „,Italien ist militärisch schwach, es ist feig’“, „,Teutonische Treulosigkeit’“, „‚Italienischer Verrat’ und ‚deutsche Aggression’, „Bedingungslose Kapitulation oder Kooperation?“, „Wer verrät wen?“, „,Genscherismus’ und ‚Andreottismus’“ überschrieben sind. Hinzu kommen ausführliche Passagen, die hypothetische Fragen und historische Möglichkeiten ausloten, wie etwa die theoretische und von Rusconi schließlich verneinte Frage nach der Möglichkeit eines „deutschen Badoglio“, also einer politischen Figur, die in der Lage gewesen wäre, Hitler in ähnlicher Weise abzusetzen wie es mit Mussolini geschehen war.

Die historische Rekonstruktion der hohen Politik und der Verbindungen zwischen politischen Ereignissen und dem “kollektiven Gedächtnis” ist ein Spiegel der Dialektik zwischen langer und kurzer Dauer: Die Herausbildung von Stereotypen und Gemeinplätzen wie jene, die die Deutschen als ordnungsliebend, effizient, gewissenhaft und ernst, wenn nicht steif bezeichnen, und die Italiener als herzlich, sympathisch und flexibel, aber auch als opportunistisch, schlecht organisiert und unzuverlässig, habe ihre Wurzeln in „weit in der Vergangenheit liegende[n] historische[n] Ereignissen“ (S. 5). Rusconi zeigt in seiner detaillierten Analyse eindrücklich auf, wie solche Stereotypen über anderthalb Jahrhunderte hinweg hartnäckig immer wieder ihre Wirkungsmacht entfalteten, bis in die höchste Politik hinein.

Das Buch ist in zwei Teile geteilt, die die Wege Italiens und Deutschlands von der Staatsmacht zur Zivilmacht – so der Untertitel des italienischen Originals – zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert und dem Ende des 20. nachzeichnen und erwartungsgemäß als Bruch die Erfahrung des Totalitarismus setzen: Die erste historische Etappe, von 1866 bis 1943/45, war charakterisiert durch die Gründung der Nationalstaaten und den Wettstreit unter ihnen, der durch geopolitisch motivierte Allianzen geregelt wurde. Die zweite Phase umfasste die Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die italienischen und deutschen Interessen sich im europäischen Einigungsprozess trafen, durch die deutsche Wiedervereinigung aber neuerlich bedeutsame, eher auf Distanz gehende Verschiebungen erfuhren.

Der erste Teil beginnt mit dem italienisch-preußischen militärischen Einvernehmen gegen Österreich 1866, der Italien die Möglichkeit zur Erlangung des Veneto bot, allerdings weniger durch einen eigenen militärischen Sieg als durch die innere Logik der Kriegsereignisse. Die Zeit des Dreibunds (1882-1914) zwischen Deutschland, Italien und Österreich-Ungarn war durch relative Stabilität der Beziehungen zwischen Berlin und Rom und insbesondere zwischen Giolitti und Bülow gekennzeichnet, andererseits durch eine Zuspitzung der Spannungen zwischen Italienern und Österreichern, die schließlich zum Bruch mit den Bündnispartnern nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten. Mit dem Vorwurf, die Österreicher hätten in ihrer eigenmächtigen Reaktion auf das Attentat von Sarajevo ihre Bündnispflichten verletzt und seien auch in der Folge den italienischen Interessen nicht entgegen gekommen, rechtfertigte Italien seine Neutralitätserklärung und den schließlichen Übertritt ins feindliche Lager. Hier sieht Rusconi die Wurzeln für die Stereotype des „verräterischen“ und „unzuverlässigen“ Italieners und des „anmaßenden“ Deutschen.

Die Hypothek des „Syndroms 1915“ deutet er als maßgeblich für das Verständnis der „nachgerade panische[n] Angst des ‚Duce’, von den Deutschen noch einmal als Verräter gebrandmarkt zu werden“ (S. 125). Dasselbe „Syndrom“ habe die Urteile vieler Deutscher geleitet, denen der italienische Verrat als selbst erfüllende Prophezeiung erschien, so sehr, dass der deutsche Einmarsch in Italien (Operation „Alarich“) noch vor der offiziellen Erklärung des Waffenstillstands beschlossene und befohlene Sache war. Goebbels Reaktion auf das Telegramm Badoglios, mit dem er Hitler vom bevorstehenden Waffenstillstandsgesuch unterrichtete, ist nur eine besonders bissige Variante der allgemein dominanten Einschätzungen: „Sie [die Italiener] haben ihr Gesicht verloren. Zweimal im Verlaufe eines Vierteljahrhunderts kann man schließlich nicht sein Wort brechen, ohne für alle Zukunft in seiner politischen Ehre mit Schmach und Schande bedeckt zu sein“ (S. 183).

Rusconi bietet eine differenzierte Analyse von Ursache und Wirkung zwischen deutschen Drohungen und italienischem Rückzug, den beidseitigen politischen und diplomatischen Janusgesichtigkeiten, die zum traumatischen Bruch der „Achse“ führten, sowie auch die gegenseitigen Schuldzuweisungen: Außenminister Ciano hatte Deutschland in einer Rede vor der Deputiertenkammer im Dezember 1939 „explizit des doppelten Verrats an Italien“ (S. 129) beschuldigt, womit er die forcierte Kriegstreiberei Hitler-Deutschlands meinte, gegen die sich Mussolini, wie Rusconi eindringlich aufzeigt, mit allen Mitteln zu wehren suchte, wohl wissend, das Italien nicht fähig sein würde, in einem Eroberungskrieg mitzuhalten.

In der zweiten Kriegshälfte bestimmte dann das Bild der Deutschen einen guten Teil der Identität der Italiener, insbesondere wenn sie sich aktiv an den ideologischen und militärischen Auseinandersetzungen beteiligten: Je nachdem, ob man die Deutschen als „wiedergefundenen Feind“ oder als „wiedergefundenen Bündnispartner“ betrachtete, galten als Verräter „nun also nicht mehr nur die Italiener als solche (gegenüber den Deutschen), sondern vielmehr bestimmte Italiener gegenüber anderen Italienern“ (S. 200).

Der zweite Teil des Buchs behandelt die Periode des europäischen Einigungsprozesses vom Ende des Krieges bis heute. Die Protagonisten der fünfziger Jahre, De Gasperi und Adenauer, verband die europäische, atlantische und philoamerikanische Überzeugung. Der rote Faden sind die Schritte, die zur Gründung des Europarats und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl führten, das gescheiterte Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, bis hin zum Vertrag von Maastricht. Es wird deutlich, wie sehr der schnelle Weg zur deutschen Quasi-Normalität bzw. Quasi-Souveränität mit dem europäischen Einigungsprozess verzahnt war, und welche bedeutsame Rolle Italien – insbesondere De Gasperi – auf diesem Weg in Unterstützung der deutschen Bestrebungen spielte.

Es folgte eine lange Phase gegenseitigen Desinteresses, inklusive eines neuerlichen Skeptizismus auf italienischer Seite im Rahmen der gleichsam republiklegitimatorischen kollektiven Erinnerung an die Resistenza, dem zentralen Identitätsmoment Nachkriegsitaliens. Er führte zu Episoden wie der Äußerung des Außenministers Andreotti 1984, jede Annäherung zwischen BRD und DDR enthalte eine pangermanistische Bedrohung. Deutschland reagierte äußerst empfindlich. Andreottis Ausspruch grub sich tief ins kollektive deutsche Gedächtnis ein und rief wiederum alte Klischees wach.

1990 dann trat mit der Frage der Vereinigung der zwei deutschen Staaten die Angst vor einem erneuerten Pangermanismus auf die gesamteuropäische Bühne. Rusconi stellt heraus, dass ein nie offiziell gemachter Deal „Wiedervereinigung für die Europäisierung der Mark“ der anzunehmende Boden für das rasche Zustandebringen der deutschen Einheit gewesen sein dürfte. Italien spielte in diesem Prozess nur mehr eine untergeordnete Rolle. Entscheidend seien die „Zwei plus Vier“-Gespräche gewesen, die Verhandlungen der beiden deutschen Staaten mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, unter logischem Ausschluss Italiens.

Das Schlusskapitel dieses zweiten Teils, „Stereotype und politische Paradigmen im Wandel“ fasst noch einmal den roten Faden des Buches im Lichte der Wechselwirkungen zwischen historischer Forschung und politischem Diskurs zusammen, den Rusconi als öffentliche Anwendung der Geschichte definiert. Der Hinweis darauf, dass es neben der „Erinnerungspolitik“ immer auch eine „Politik des Vergessens“ gibt, fehlt nicht, und Rusconi nennt unter anderem die Tendenzen der frühen Adenauer-Jahre, mit der Vergangenheit abschließen zu wollen, und auf der anderen Seite die Verdrängung italienischer Kriegsverbrechen durch den Resistenza-Mythos und das Klischee des „braven Italieners“ („italiani brava gente“), der im Gegensatz zum „bösen Deutschen“ zu wirklichen Grausamkeiten nicht fähig sei.

Dies führt Rusconi einerseits zu Überlegungen bezüglich des Schadens, den der „Berlusconismus“ in den deutsch-italienischen Beziehungen angerichtet hat, andererseits zur Natur einer deutschen Machtstellung in Europa, in deren Zuge der aus dem Weltkrieg rührende Antimilitarismus angesichts internationaler Verantwortlichkeiten, die nicht zuletzt aus der neu erlangten vollen staatlichen Souveränität resultierten und resultieren, neu definieren werden mussten – eine Reaktivierung deutscher Macht als „Zivilmacht“.

Schnittstellen und Wendepunkte der deutsch-italienischen Geschichte im europäischen und globalen Kontext werden in der erwähnten eigentümlichen methodischen Herangehensweise detailliert und schlüssig aufgezeigt. Die, wäre sie nicht so virtuos vorgetragen, fast „altbacken“ erscheinende politische Geschichte wirkt gerade durch ihre Verknüpfung mit dem immateriellen kollektiven Gedächtnis, den Stereotypen, Vorurteilen, (Fehl-)Wahrnehmungen, und nicht zuletzt den wirkungsmächtigen Reibungsflächen, als die sich die ‚Mental Maps’ in den historischen Prozessen und Ereignissen immer wieder erwiesen.

Für die deutsche Ausgabe hat Rusconi an einigen Stellen neue Literatur eingearbeitet, etwa den von Thomas Schlemmer herausgegebenen Band zur italienischen Beteiligung an der Ostfront.1 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass er ebenso innovative wie einschlägige Studien italienischer Kollegen, etwa Davide Rodognos Arbeit über die italienische Besatzungspolitik2, nicht rezipiert. Dies wäre schon deshalb angezeigt gewesen, da er sich mehr als nur am Rande mit der durch den Resistenza-Mythos ausgelösten kollektiven Amnesie der italienischen Täterschaft im Weltkrieg auseinandersetzt.

Die Studie hat ohne weiteres das Potential eines neuen Standardwerks. Die 2003 erschienene italienische Originalausgabe hat in Italien ein überaus großes Echo gefunden – der deutschen Ausgabe sei eine ebenso große Resonanz gewünscht.

Anmerkungen
1 Schlemmer, Thomas (Hg.), Die Italiener an der Ostfront 1942/43. Dokumente zu Mussolinis Krieg gegen die Sowjetunion, München 2005.
2 Rodogno, Davide, Il nuovo ordine mediterraneo. Le politiche di occupazione dell’Italia fascista in Europa (1940-1943), Torino 2003.