F. Bedürftig / C. Meyer (Hgg.), Die Leiden des jungen Wehner

Titel
Die Leiden des jungen Wehner. Dokumentiert in einer Brieffreundschaft in bewegter Zeit 1924-1926


Herausgeber
Bedürftig, Friedemann; Meyer, Christoph
Erschienen
Berlin 2005: Parthas Verlag
Anzahl Seiten
160 S.
Preis
28,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bert Hoppe, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Es ist ein schönes Buch. Der elegante Satz, die hervorragende Qualität der Reproduktionen, das Vorsatzpapier in edlem Rot und das Lesebändchen verleihen dem Band eine opulente Gediegenheit, die für eine Quellenedition ungewöhnlich ist. Und es ist ein überflüssiges Buch. Denn der Aufwand, mit dem darin elf Briefe und zwei Buchwidmungen des späteren SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehners aus den Jahren 1924 bis 1926 und ein Schreiben seines damaligen Brieffreundes Max Baumann vorgestellt werden, steht in einem eklatanten Missverhältnis zum Erkenntnisgewinn, der sich aus der Lektüre dieser Dokumente ergibt. Immerhin lernen die Leser/innen, dass die Disziplin der Hagiografie in Deutschland noch nicht gänzlich ausgestorben ist.

Dass es sich bei den vor einigen Jahren aus dem Nachlass Baumanns aufgetauchten Schreiben Wehners aus seiner anarcho-syndikalistischen Zeit um “streckenweise banale“ Briefe (S. 12) handelt, war auch den Herausgebern, dem Publizisten Friedemann Bedürftig und dem Vorsitzenden der Wehner-Stiftung Christoph Meyer, bewusst. Da jedoch die Quellenlage über die Jugendjahre Wehners “so dürftig“ sei und die Briefe “das Flair einer bewegten Vergangenheit so anschaulich“ vermittelten, habe man sich entschieden, so erfahren wir im Vorwort, “gleich ein ganzes Buch“ zu den Briefen zu machen - schließlich stehe am 11. Juli 2006 der 100. Geburtstag Wehners an (S. 7).

Um den Textkorpus, der in transkribierter Form (großzügig gerechnet) lediglich 30 Seiten umfasst, zu einem Band von 160 Seiten aufzublasen, wurden zunächst sämtliche Dokumente einschließlich der Buchwidmungen auch als Faksimile abgedruckt. Dank dieser Faksimiles können wir nun nachvollziehen, was die Herausgeber meinen, wenn sie schreiben, Wehners Handschrift zeichne sich durch eine “hohe Strichdisziplin“ aus (S. 135) – allerdings erschöpft sich damit der informatorische Mehrwert der Faksimiles auch schon. Ähnlich aufgedonnert wirken die Transkriptionen, deren Zeilen durchnumeriert sind, als handele es sich um mittelalterliche Papsturkunden. Mangels substantieller Textvarianten wurden für die “textkritische“ Bearbeitung selbst die Fehlstellen dokumentiert, die Baumanns Locher zwischen den Zeilen hinterließ, als er die Schreiben abheftete.

Dem Dokumententeil vorangestellt sind eine Einleitung, die auf den Fund der Briefe eingeht, zwei Abschnitte über die Situation im Deutschland der 1920er-Jahre und die Biografie der beiden Briefpartner. Ein kurzer Abschnitt über Wehner als “Briefschreiber“ und ein Text des Wehner-Biografen Hartmut Soell über “Wehner als junger Revolutionär“ beschließen den Band. Anders als die Herausgeber hofften, erschließen sich aus den Briefen selbst kaum neue Aspekte der Person Wehners. Inhaltlich wiederholen sich in den Briefen vornehmlich die Aussagen, die Wehner zu dieser Zeit auch in seinen ersten Veröffentlichungen in anarchistischen Zeitschriften vertrat. Und wie schon in diesen Aufsätzen, so ist auch in seinen Briefen ein markantes Sendungsbewusstsein zu verspüren: Er tritt hier als ein von seiner Arbeit frustrierter Buchhalter auf, der über den Rechnungsbüchern seiner Firma von der revolutionären Tat träumte und genervt war von den zotigen Witzen seiner Kollegen: “Der Brennpunkt all ihrer Gespräche ist das Bett und das Weib. Wie muss es in ihren Gehirnen aussehen.“ (Brief vom 6.10.1925, S. 102) Die “Proleten“ um ihn herum verstünden aufgrund ihres begrenzten Horizontes nicht, in welcher schlechten Lage sie sich befänden und wollten daher an dieser auch nichts ändern. “Dies ihnen zu vermitteln,“ so Wehner an Baumann, “sind wir da.“ (Brief vom 22.8.1924, S. 77). An dieser Stelle springt uns der Herausgeber zur Seite und erklärt in einer Anmerkung, dass sich in diesen Worten ein erster “Anklang an den Elitegedanken Lenins“ bemerkbar mache.

Hier hätte man nun mit der spannenden Frage ansetzen können, wie sich Wehner vom scharfen Kritiker der KPD und der “korrumpierten“ Komintern binnen weniger Jahre zum überzeugten Stalinisten wandeln konnte, doch bezeichnenderweise spielt diese Wandlung weder in den Anmerkungen noch in den Begleittexten eine Rolle. Stattdessen wird das Bild eines Schmerzensmannes gezeichnet (schon der Titel “Die Leiden des jungen Wehner“ spricht für sich), der nach dem Zweiten Weltkrieg “aktive Wiedergutmachung“ leistete “für seine und zugleich für die Fehler seines Landes“ (S. 59). Dies allerdings hat mit einer wissenschaftlichen Aufarbeitung eines spannenden Lebenslaufes wenig zu tun.

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