Titel
Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin


Herausgeber
Flacke, Monika
Erschienen
Anzahl Seiten
970 S., 353 farb. & 551 s/w Abb. in 2 Bd.
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Eckert, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig

Nur selten gelingt es, einer gestalterisch ansprechenden und inhaltsreichen Ausstellung auch eine wissenschaftlich überzeugende Publikation zur Seite zu stellen. Monika Flacke hat dies mit Blick auf die 2004 im Deutschen Historischen Museum (DHM) gezeigte Ausstellung „Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerung“ weitgehend erreicht. Denn die beiden als „Katalog zur Ausstellung“ bezeichneten Begleitbände sind viel mehr als das: Sie stellen eine hochkarätige Sammlung einschlägiger sowie exzellent bebilderter Analysen zu den Erinnerungslandschaften fast aller Staaten Europas mit „1945“ als „Erinnerungsschleuse“ dar (Reinhart Koselleck). In ihrer Text-Bild-Kombination ruft diese Publikation nicht nur das Kriegsende mit der Befreiung vom Nationalsozialismus in Erinnerung, sondern transponiert zugleich den gesamten Krieg mit dem durch ihn ermöglichten Völkermord in die Gegenwart. Dabei ist es eine besondere Leistung, dass dies nicht nur für Deutschland, sondern durch ausgewiesene Fachleute für ganz Europa geschieht. Die Europäisierung des Gedenkens wird zur Meistererzählung – ein Konzept das weit in die Zukunft tragen könnte.

Dabei wird zum einen deutlich, dass der Völkermord an den Juden erst relativ spät als Zivilisationsbruch wahrgenommen wurde, es zum anderen bei den Erinnerungen der einzelnen europäischen Nationen daran auch deutliche Unterschiede gibt. Jedoch ist es überraschenderweise nicht so, dass die Deutschen ihre Schuld besonders brachial beiseite geschoben hätten. Auch andere Nationen schwiegen verschämt über das eigene Versagen und Wegsehen oder beschäftigten sich nur spät und unzureichend damit. Inzwischen wird der Holocaust in der übergroßen Mehrzahl der europäischen Länder umfassend diskutiert und es wird der Getöteten gedacht. Für den Mord an anderen Völkern und für die Vertreibung von Millionen Menschen gilt das in Europa so nicht.

Nicht nachzuvollziehen ist in diesem Zusammenhang allerdings die grundsätzliche Auffassung von DHM-Direktor Hans Ottomeier, dass das Ablegen eines Zeugnisses über erlebte Geschichte erst nach einem Zeitraum von 55 Jahren beginnt. Dafür gibt es kultursoziologisch keinen Anhaltspunkt und auch die Erfahrung zumindest in den beiden deutschen Staaten stützt diese Einschätzung nicht. Weder gab es hier einen solchen „Sicherheitsabstand“ noch war dieser Zeitraum zur „Objektivierung“ nötig. Falsch ist auch Ottomeiers Auffassung, dass „Mythen der Nationen“ die erste Ausstellung war, die sich explizit mit dem Jahr 1945 als Kriegsende auseinandersetzt. Zur Vermeidung dieses Fehlurteils hätte ein Besuch des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst genügt, das dem DHM ja durchaus verbunden ist.

Herausgeberin Monika Flacke führt in ihrer Einführung aus, dass die europäische Nachkriegsordnung darauf zielte, den Frieden dauerhaft zu sichern, die Gesellschaften zu demokratisieren und ultimativ eine europäische Staatengemeinschaft zu gründen. Dieser Blick ist arg westeuropazentriert und vernachlässigt die ostmitteleuropäische Perspektive samt Stalinismuserfahrung. Auch brach hier der „Sozialismus“ nicht zusammen, sondern wurde von den Bürgern der spätstalinistischen Staaten in einer Serie friedlicher Revolutionen beseitigt. Richtig ist dagegen, dass der nationalsozialistische Völkermord nach 1945 nicht unmittelbar und schon gar nicht automatisch im Mittelpunkt nationaler Erinnerungen stand. Stattdessen rekurrierten Beteiligte und Geschichtspolitiker außerhalb Deutschlands geradezu reflexartig auf den jeweiligen Widerstand gegen Diktatur und Besatzung als Dreh- und Angelpunkt nationalhistorischer Meistererzählungen. Résistance und Widerstand war das Fundament der nationalen Rückbesinnung und so verwundert es nicht, dass er selbst erst nach Jahrzehnten bezüglich seiner eigenen inneren Konsistenz und Konsequenz hinterfragt wurde. Dass dagegen in Ostmitteleuropa Widerstand gegen die hier von den Kommunisten „oktroyierte Geschichtssicht“ in den Aufständen in der DDR, Polen, Ungarn oder der ČSSR zum Ausdruck gekommen sein soll, ist im besten Fall die halbe Wahrheit. Zwar spielten in diesen Volksbewegungen historische Argumentationen immer auch eine Rolle, doch waren sie als Treibsatz von Revolutionen und Aufständen nur zweitrangig. Und es sollte auch nicht vergessen werden, dass die kommunistische Geschichtsinterpretation einem nicht unerheblichen Teil der jeweiligen Bevölkerung nicht aufgezwungen werden musste, sondern von diesem aktiv vertreten und geglaubt wurde. Weiter geht Flacke davon aus, dass das Schweigen über eigene schuldhafte Verstrickungen Bürgerkriege verhindert oder beendet hat. Diese These ist immer wieder zu lesen, schlüssig bewiesen ist sie deshalb nicht. Dass Verdrängung Schlimmeres verhindert, wird von den Verdrängern allzu gern behauptet, die Aufklärer haben jedoch eine ganz andere und entgegen gesetzte Sicht auf die Dinge.

Überzeugend ist hingegen die Argumentation, dass Bilder über gesellschaftliche Prozesse zu Erinnerungsorten im kollektiven Gedächtnis werden können. Dies sieht auch der Kunsthistoriker Horst Bredekamp so, der nicht zu Unrecht die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wesentlich durch Denkmäler, Gemälde, Fotografien, Plakate, Embleme, Abzeichen, Briefmarken, Postkarten, Filme und Fernsehserien geprägt sieht. In diese Reihe sind noch die Medien Ausstellung und Museum einzufügen. Allerdings sind die Ausführungen über die Bilderstürme, die nach 1989 in den ehemals realsozialistischen Staaten einsetzten, durch den Blick auf Ostdeutschland zu relativieren, da sich hier die kommunistische Geschichtsdoktrin großflächig vor allem in Straßenamen erhalten hat. Und der Ansatz, die Buchenwald-Plastik Fritz Cremers nach 1989 als eine subversiv, gegen die DDR gerichtete Widerstandsbotschaft zu interpretieren, überrascht.

Etienne François analysiert in einem übergreifenden Essay die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zwischen Nationalisierung und Universalisierung und kommt zu dem Schluss, dass es heute immer weniger um das Ereignis als solches als vielmehr um die Erinnerung daran geht. Ein vergleichender Blick auf die einzelnen europäischen Staaten lässt ihm zufolge in der Ausstellung und in den Begleitbänden erkennen, dass die prägenden Meistererzählungen zuerst bei den Siegermächten entstanden – mit Résistance und Sieg als zentralen Elementen. Die von François ausgemachte Hierarchisierung in Helden und Opfer gilt dabei wohl für alle europäischen Staaten, wohingegen es zwischen den jeweiligen Erinnerungen auch markante Unterschiede gab, die in den Sammelbänden eine Vielzahl gut ausgewiesener Autoren herausarbeiten. Dazu zählt die erfolgreiche Externalisierung der NS-Zeit in Österreich und die Interpretation des Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR, die aus den Ostdeutschen zunächst ein Volk von „Opfern“, sodann von „Siegern der Geschichte“ machte. Und immer wieder ist der bereits von Flacke ausgemachte Befund zu erkennen, dass mit dem Widerstand eine nationale Selbstsicht zu einem neuen Gedächtnis ausgebaut wurde. Der Mythos vom Widerstand hatte sich damit erschöpft und die nationalen Akteure brauchten ihn nicht mehr für ihr Selbstbewusstsein.

Heute besitzen Gedächtnisimperative allseits hohe Aktualität. Allerdings gibt es in der europäischen Zusammenschau deutliche Unterschiede. Besonders auffallend ist dabei die Uminterpretation und Reaktualisierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Mittel- und Osteuropa. Nach 1945 stellten sich die Staaten des sowjetischen Machtbereichs auf das Siegertreppchen der Geschichte – das mit Stalins Herrschaft verbundene Leid konnte nicht benannt werden und der Holocaust wurde verdrängt. Mittlerweile ist die Erinnerung an den Judenmord zurückgekehrt, und es geht immer auch um die Abrechnung mit dem Stalinismus. Diese Sicht ist auch im Westen ernst zu nehmen und in das Geschichtsbild eines geeinten Europas zu integrieren.

Neben der Schilderung der Entwicklung der Erinnerungskultur der beiden deutschen Staaten steht in den beiden Bänden der „Mythen der Nationen“ die Analyse der Gedächtnislandschaften Israels, der USA und der Mehrzahl der europäischen Staaten im Zentrum. Dabei fällt als Gemeinsamkeit auf, dass der Völkermord an den Juden in sämtlichen Ländern nicht nur erst sehr spät, sondern oft auch nur halbherzig thematisiert wurde. Und häufig war erst die Holocaust-TV-Serie Anlass dafür, sich für das Schicksal der ermordeten Mitbürger zu interessieren. Selbst in Israel gab es lange Hemmungen von der Ermordung der Juden zu sprechen, um sich nicht aus einer Position der Schwäche heraus definieren zu müssen.

Eine Ausnahme bei der erinnerungskulturellen Behandlung des Massenmordes bilden die USA, wo der Zweite Weltkrieg zum entscheidenden Ereignis amerikanischer Geschichte geworden ist und der Holocaust als zentraler, paradigmatischer historischer Wendepunkt empfunden wird. Allerdings ist damit eine politische Instrumentalisierung für gegenwärtiges Handeln verbunden, was nicht ungeteilte Zustimmung findet. Ähnlich ist lediglich das britische Selbstverständnis, das auf dem Sieg im Weltkrieg als Katalysator für den Neuanfang beruht. Die Briten sind in ihrer Selbstsicht die Befreier Europas par excellence.

In den Gesellschaften Europas dominierte lange Zeit die Verdrängung. Dazu kommt die verbreitete Auffassung, dass die Bürger des jeweiligen Staates willenlose Opfer des Terrors waren und glücklich durch die Alliierten befreit wurden. Pars pro toto wäre hier etwa Belgien zu nennen. Des Weiteren wird oft nicht nur das eigene Martyrium thematisiert, sondern – wie wiederum in Belgien – auch die Résistance oder es wird die gesamte Nation zu Widerstandskämpfern umgewidmet. Ein Beispiel hierfür ist Dänemark. Ganz ähnlich werden in Frankreich Vichy-Regime und Kollaboration als Abweichung vom wahren Weg der Nation exkludiert, gehört diese doch als widerständiges Subjekt zu den Siegern des Krieges. Viele Franzosen hinterfragen erst seit den 1980er- und 1990er-Jahren Holocaust, Résistance und Kollaboration. Ähnlich werden in Tschechien und in der Slowakei die Erinnerung an die Kollaboration verdrängt, die deutschen Verbrechen betont und der eigene Widerstand aufgewertet.

Diejenigen Staaten und Gesellschaften, die, wie etwa Bulgarien, auf der Seite des nationalsozialistischen Deutschlands standen, gehen oft einen anderen Weg: Sie neigen zu einem vereinfachten Geschichtsbild zwischen den Polen Kollaboration und Widerstand, das in der These von der Selbstbefreiung gipfelt. Im benachbarten Griechenland dominiert dagegen der dem Weltkrieg folgende Bürgerkrieg der Jahre 1946 bis 1949 das heutige Geschichtsbild, nachdem darüber lange Schweigen bewahrt worden war. Italien deutet dagegen die Resistenza als ein zweites Risorgimento, einen Neubeginn der Nation, der alle einschließt – lediglich prominente ehemalige Faschisten ausgenommen. Und inzwischen meinen auch die Postfaschisten nicht mehr, dass der Widerstand Verrat gewesen sei: Die Italiener haben sich in dieser Perspektive gegen die deutsche Variante des Faschismus erhoben, zuvor unter ihm gelitten und ihn schließlich besiegt. In diese Gruppe gehört auch Rumänien mit seiner Betonung des eigenen Beitrags zum Sieg über Deutschland und der nach 1989 erfolgten partiellen Rehabilitierung des rumänischen Feldzuges gegen die Sowjetunion 1941-1944. Und in Österreich, wo man sich lange zum ersten Opfer Hitlers stilisierte, setzte sich die Mitverantwortungsthese erst vom Ende der 1980er-Jahre an langsam durch. Formal neutrale, aber mit Hitler-Deutschland kooperierende Länder wie Schweden und die Schweiz sehen sich bis heute als Großmächte der Humanität und halten ihre Neutralitätspolitik für eine weitsichtige Strategie. Auch hier ist das Interesse am Holocaust gering. Die Spanier verdrängen ebenfalls ihre Kooperation mit den Achsenmächten und betonen stattdessen die Neutralität des Landes im Zweiten Weltkrieg. Und schließlich wird in Ungarn oft vergessen, dass das Land auf der Seite des Deutschen Reiches stand; die Ungarn mutieren zu Opfern beider totalitärer Großsysteme und das Ende des Zweiten Weltkriegs gilt vor allem als Beginn der sowjetischen Okkupation.

Veränderte Interpretationsansätze brachte auch das Ende des Kommunismus. So entwickelten sich etwa in Dänemark einheimische Nationalsozialisten, SS-Freiwillige und Helfershelfer zu Opfern einer angeblichen Stigmatisierung in der Nachkriegsgesellschaft. In Finnland gab es eine Neuinterpretation der Kriegsschuldfrage: Es sei hier um einen Kampf ums Überleben der Nation gegangen, heißt es jetzt. Etliche Staaten Ostmitteleuropas gehen jedoch einen anderen Weg, indem sie an ihr Schicksal unter zwei totalitären Diktaturen erinnern. Besonders ausgeprägt ist dies in den baltischen Staaten, aber auch in Polen ist diese These zu hören. Dazu kommen hier das Bewusstsein von einer Zeit des Sterbens und der eigenen Opferrolle, die Bewunderung des polnischen Heldenmutes und Fragen nach der Rolle der Sowjetunion. Im Baltikum werden die Ermordung der Juden durch Hitler und von Balten durch Stalin oft gleichgesetzt.

Von spezifischer Ausprägung ist das Gedenken auch in Staaten, deren Existenz mit dem Kriegsausgang in besonderer Weise verbunden war und die heute nicht mehr existieren. So erschienen in Jugoslawien die im Krieg gebrachten Opfer legitim, um Staat und Gesellschaft zu rechtfertigen. Aber kein Land verweigert sich im offiziösen Diskurs so hartnäckig wie Russland einer auch nur im Geringsten selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte. Hier gibt es ein ungebrochenes, ja zunehmendes Bewusstsein als Siegermacht in einem heldenhaften Krieg. Der Sieg gilt als Beweis dafür, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht erforderlich ist. Ähnlich ist die Situation in Weißrussland, wo heute Stolz und Selbstgefühl aus dem Sieg über das Dritte Reich gewonnen werden sollen. Dagegen spielt in der Ukraine der kollektive Mythos des Zweiten Weltkrieges als Angelegenheit von Russen und Deutschen keine zentrale Rolle, und bei allen Unterschieden zwischen der West- und der Ostukraine glauben viele, dass das Schicksal der Juden nicht schlimmer als das der Ukrainer gewesen sei. Hier geht es jetzt um die Konstruktion eines neuen nationalen Selbstverständnisses, wobei besonders der Hungergenozid an ukrainischen Bauern durch Stalin thematisiert wird.

All diese Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten in der Erinnerung der Europäer, der Nordamerikaner und Israelis wirft geradezu zwangsläufig die Frage nach positiven, über Auschwitz als Urverbrechen und Zivilisationsbruch hinaus gehenden Sinninhalte auf. Zwar werden Nationalsozialismus, Stalinismus, Vertreibungen und Völkermord an den Juden von zentraler Bedeutung für die gemeinsame historische Erinnerung bleiben, doch ist es berechtigt zu fragen, ob eine negative Erinnerung zur Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft ausreicht. Für Europa muss dies heißen, Freiheit und Zivilcourage als Traditionen zu stärken und zu verbindlichen Werten zu machen. Allerdings ist dabei zu beachten, dass diejenigen, die Kraft, Mut und Zeit finden, sich mit einer verbrecherischen Vergangenheit auseinanderzusetzen, in jeder Gesellschaft nur eine verschwindend kleine Minderheit sind, und es ist bereits ein Glücksfall, wenn sie nicht auf eine ablehnend schweigende Mehrheit treffen, die ihnen ihr Engagement durch gereizte Ablehnung vergilt. Hier scheint die Situation in Deutschland überproportional günstig zu sein. Ein Beleg dafür war nicht zuletzt das große Publikumsinteresse an der Berliner Ausstellung „Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen“ von 2004, welche in Gestalt der beiden Begleitbände auf Jahre hinaus Langzeitwirkung entfalten wird.

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