K. Utz Tremp Quellen zur Geschichte der Waldenser

Titel
Quellen zur Geschichte der Waldenser von Freiburg im Üchtland (1399-1439).


Herausgeber
Tremp, Kathrin Utz
Reihe
Monumenta Germaniae Historica, Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 18
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII + 837 S.
Preis
DM 160,-
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Feuchter, Institut für Geschichtswissenschaften der HU Berlin

Die internationale Forschung zur Häresie im Mittelalter verfügt seit kurzem über eine Leitedition für ihre wichtigste Quellengattung. Vorgelegt hat sie die Schweizer Mediävistin Kathrin Utz Tremp (Freiburg i. Ü. und Lausanne). Der gewichtige Band bietet den schriftlichen Niederschlag von zwei Ketzerprozessen, die 1399 und 1430 in Freiburg i.Ü. gegen zahlreiche Waldenser-Anhänger geführt wurden. Die Edition ist jedoch nur ein Teil des Gesamtprojektes zur Erschließung dieser Personengruppe. Bereits 1999 war eine beinahe ebenso umfängliche Prosopographie erschienen 1. In jenem "Biographienband" hatte Utz Tremp die Gesamtheit der aus sämtlichen Quellen verfügbaren Nachrichten über die von diesen Inquisitionen berührten Menschen versammelt. Wenn auch die jetzt erschienene Edition den Anspruch erhebt, für sich alleine stehen zu können, gehören die beiden publikationstechnisch getrennten Bände doch unmittelbar zusammen. Daher soll der Quellenband auch im folgenden nicht isoliert besprochen werden. Beide Bände gemeinsam bieten den Zugang zu einer fundierten "histoire totale" von rund einhundert Personen, die auch, aber keineswegs "hauptberuflich" Häretiker waren und daher umfassend in den Blick genommen werden

Mit diesem Ansatz sind Utz Tremps Stadtbewohner aus dem helvetischen Mittelland legitime Nachfolger der Vorpyrenäen-Bauern Emmanuel Le Roy Laduries. Denn dessen berühmt gewordenes Buch über das Dorf "Montaillou" (1975) hatte eine Wende bei der Auswertung von Ketzerverhören markiert: weg vom zuvor dominierenden rein häresiologischen Interesse, hin zur Erschließung dieser Quellengattung auch als Zugang zum Normalen, also zum normalen Leben von Häresieanhängern, aber auch zum ganz normalen Leben eines Dorfes. Die Verhörprotokolle waren ideale Quellen für eine Geschichtswissenschaft, die gerade die Ethnologie entdeckt hatte: Sie ermöglichten die Transponierung der Methoden dieser Disziplin in die Vergangenheit: mikrogeschichtliche Studien und Privilegierung von Selbstaussagen als Informationsbasis.

Es gibt allerdings einen bedeutenden Unterschied zwischen Utz Tremps Arbeiten und dem französischen Mittelalter-Bestseller: Die Schweizerin zieht die fällige methodische Konsequenz aus diesem erweiterten Interesse und liest auch die nicht-inquisitorischen Quellen. Denn es ist in der Tat folgerichtig, dass sich auch mit "normalen" Quellen ihres Lebens beschäftigt, wer sich bei Ketzern nicht nur für ihre religiöse Devianz, sondern auch für ihr restliches Leben, ihren Alltag, interessiert. Nur durch dieses umfassende Herangehen kann Utz Tremp eine über Ketzerkundliches hinausgehende Relevanz sichern und mit Recht vertreten, dass die Beschäftigung mit den Waldensern von Freiburg "jenseits ihrer häretischen Sonderexistenz vielfältige Einblicke in das Leben der spätmittelalterlichen Stadt" (Vorwort, S. VI) eröffne. Selbstverständlich gilt aber auch der Umkehrschluss: Das Wissen über das "zivile" Leben von Häretikern lässt uns auch ihr Häretikerdasein besser begreifen. Augenfällig wird der doppelte Quellenzugang im Biographienband durch die Voranstellung und kursive Schriftsetzung der Informationen, die aus den Verfahren stammen, gegenüber den folgenden eigentlichen Biographien, die alle Quellennachrichten synthetisieren.

Der Editionsband umfasst rund 450 Seiten eigentliche Quellenpublikation, denen knapp 300 Seiten Einleitung vorgestellt sind. Nur zum kleineren Teil besteht letztere aus der historischen "Einführung in das Quellencorpus"; vor allem jedoch bietet sie prozesstechnische und kodikologische Untersuchungen der Akten, die in dieser Ausführlichkeit für Inquisitionsquellen ein Novum darstellen dürften. Dabei mag die Ansetzung des hoch verfeinerten Instrumentariums der historisch-philologischen Textkritik und Urkundenanalyse zunächst als Verschwendung erscheinen, handelt es sich doch immerhin um Texte mit jeweils nur einem Handschriftenzeugen, wie in dieser Gattung üblich. Dennoch ist das Ergebnis keine Munitionsverpuffung. Zum einen gelingt es, die verworrene Aktenlage zu ordnen, zum anderen sind das Vorgehen und die es begleitenden Reflektionen wegweisend für den Umgang mit der Gattung "Ketzerverhör", für die bislang keinerlei Quellenkunde existiert 2. Utz Tremp zeigt, dass man ungeordnetes bzw. fremden Ordnungskriterien folgendes Prozessmaterial nicht nur wieder in seinen ursprünglichen Bezügen rekonstituieren, sondern daraus auch wertvolle Schlüsse auf den Prozessverlauf ziehen kann. So wird etwa an der zunehmend regelhafter werdenden Führung von Präsenz- und Absenzlisten (eine ausführliche Tabelle findet sich auf einem Faltblatt am Ende des Bandes) in den einzelnen Stücken deutlich, dass die lokale Inquisition erst ihre Verfahren erarbeiten und einüben musste. Die Freiburger Prozesse gehören schließlich noch in die Anfänge einer ständigen Inquisition in den westschweizer Diözesen.

Keinem Lernprozess, sondern absichtlicher Unterdrückung von Zugang geschuldet scheint dagegen das Fehlen bestimmter Stücke in den zeitgenössischen Inhaltsverzeichnissen: Es handelte sich um Aussagen gegen mächtige Freiburger Bürger (S. 149), die im Zuge einer offenbar zunehmenden Denunziationsbereitschaft ebenfalls in das Verfahren hineingeraten waren - aber augenscheinlich auch wieder hinauszugelangen wussten.

Zugleich trägt die Länge der Einleitung auch der sachlichen Komplexität des Freiburger Falles Rechnung. Dessen zunächst hervorstechende Besonderheit ist, dass im Abstand einer Generation zwei Prozesse geführt wurden, von denen der erste von außen, nämlich von der Nachbarstadt Bern, an Freiburg herangetragen wurde und mit einem vollständigen Freispruch aller Beschuldigten endete, während das zweite Verfahren offenbar starke Unterstützung in der Stadt selbst fand und in harten Sanktionen resultierte - obwohl zwischen beiden Fällen große Übereinstimmung der betroffenen Familien, manchmal sogar der Personen herrschte.

So ungleich wie Prozesseingang und -ausgang ist auch die Quellenlage: Für 1399 liegt nur ein Auszug aus den Akten vor und kaum etwas an nichtinquisitorischen Quellen, während für 1430 durch abundante Akten und Rechnungen sowie nichtinquisitorische Quellen "größtmögliche Quellendichte" (S. 249) erreicht ist. Besonders das Vorhandensein der "Seckelmeisterrechnungen" erweist sich als "Glücksfall" (S. 247). Es handelt sich um halbjährlich erstattete städtische Einnahme- und Ausgabeberichte, ergänzt um Sonderrechnungen für spezielle Ausgaben. Diesen im vorliegenden Band auszugsweise edierten Texten sind nun wertvolle Informationen über den Prozess, vor allem aber seine Folgen, zu entnehmen: Haftverschonungen, im Prozess selbst nicht erwähnte Geldstrafen, aber auch Flucht aus dem Gefängnis. Letzteres betrifft eine Person, der die Edition beträchtliche Aufmerksamkeit schenkt, obwohl sie selbst im Prozess nicht aussagt: den Bauern aus dem Freiburger Umland, Richard von Maggenberg, der die Stadt nach seiner Flucht vor verschiedene Gerichte zerrte. Utz Tremp zeigt anhand einiger ebenfalls edierter Urkundenfunde, dass die Stadt schließlich obsiegte und ihre Ansprüche gegenüber Richards Sohn durchsetzte.

Solche "Verbleibstudien" sind eine wesentliche Frucht, die der umfassende Ansatz des Editions- und Prosopographieprojektes trägt. Interessanterweise ist die Konsequenz des Berührtwerdens durch die Prozesse aber nicht immer das Erscheinen in weiteren Schriftstücken. Vielmehr stellt Utz Tremp bei einigen "Opfern" fest, dass sie in auffälliger Weise aus den nichtinquisitorischen Quellen schwinden: Sie erhalten keine städtischen Ämter mehr und machen nicht mehr durch wirtschaftliche Transaktionen von sich reden bzw. schreiben (Biographienband, Einleitung, S. 19). Ein weiterer Befund ist die "Undurchlässigkeit" (passim) zwischen inquisitorischen und nichtinquisitorischen Quellen: Letztere thematisieren den Prozess nicht oder wenn unbedingt nötig, nur verschleiernd. Solche Ergebnisse liefern interessante Indizien für die bisher wenig untersuchte Frage, welche Auswirkungen ein Ketzer-Massenprozess eigentlich in einer mittelalterlichen Gesellschaft hatte.

Offensichtlich ist, dass die Freiburger bereits im Laufe des kaum halbjährigen Verfahrens von 1430 mit diesem "umzugehen" lernten: Dafür sprechen die zunehmenden Denunziationen, die Instrumentierung zur stadtpolitischen Intrige, aber auch das Entwickeln von Gegenstrategien: eine mächtige Witwe, Katharina Buschillion, bot als Zeuginnen ihrer Unschuld von ihr abhängige Mägde auf, die sie erfolgreich entlasteten. Es gab auch regelrechte "Trittbrettfahrer": Zum Ende des Prozesses hin erschien ein Ehemann vor dem Gericht, der seine lästige Ehefrau durch Denunziation loswerden wollte. Er hatte jedoch seine Rechnung ohne die mit im Gericht sitzende weltliche Obrigkeit gemacht, die dem ihr als untreu bekannten Mann dies nicht durchgehen ließ und der Ehezucht den Vorrang gab.

Was das eigentliche "Verbrechen" der Freiburger Waldenser-Anhänger, ihre Häresie, angeht, so sind die alten waldensischen "Essentials" der Verweigerung des Schwörens, Lügens und Tötens in Freiburg nicht präsent. Im Vordergrund steht die Ablehnung des Fegefeuers, die Kritik an der kirchlichen Hierarchie und die rechte Buße (S. 234). Jedoch begriffen sich die Waldenseranhänger nicht als Gegenkirche. Nicht einmal als ihrer selbst bewusste "Gemeinde" wären sie anzusprechen (S. 49); eigentliche "Waldenser" waren ohnehin nur die ortsfremden, ab und zu vorbeikommenden Wanderprediger. Die geschichtliche Einordnung der Freiburger Waldenser ist stark bestimmt durch ihren geographischen Ort hart am Rande des deutschen Sprachgebiets (die Angeklagten waren weit überwiegend deutschsprachig). In dieser Randstellung sind sie einerseits vielleicht die letzten "echten" deutschen Waldenser 3 - aber nicht im Gegensatz zu den romanischen Waldensern, deren Zentrum in den kottischen Alpen relativ nahe liegt, sondern gegenüber den böhmisch-hussitischen Einflüssen auf die Bewegung.

Die Freiburger Waldenserprozesse waren städtisch; wo sie an ihren Rändern auch ins Umland ausgreifen, machen sie deutlich, dass zu jener Zeit in Städten noch Ketzer verfolgt wurden, auf dem Land dagegen bereits Hexen. In vereinzelten Anklängen, aber auch indem eine der 1430 Angeklagten wenige Jahre später als Hexe verurteilt und hingerichtet wurde, verweist der Prozess dennoch auch auf die eminente Rolle, die die westschweizer Region bei der Geburt des Hexensabbats spielte 4.

Das Fazit dieser Besprechung wurde bereits eingangs gezogen. Ein einziger sachlicher Fehler fiel auf: Im Biographienband, Einleitung, S. 24, Fußnote 21 muss es zur Bezeichnung des heute üblichen Epochentags statt "Nativitätsstil" "Circumcisionsstil" heißen.

1 Kathrin Utz Tremp: Waldenser, Wiedergänger, Hexen und Rebellen. Biographien zu den Waldenserprozessen von Freiburg im Üchtland (1399 und 1430), Freiburg i.Ü. 1999.

2 Der von Anne Brenon in der Reihe "L'atelier du médiéviste" angekündigte Band "Sources sur les mouvements hérétiques" lässt weiter auf sich warten.

3 Vgl. Kathrin Utz Tremp, Die letzten deutschen Waldenser im Mittelalter? Die Waldenser von Freiburg im Üchtland (Ende 14./Anfang 15. Jahrhundert), in: Die Waldenser. Spuren einer europäischen Glaubensbewegung. Begleitbuch zur Ausstellung in Bretten, 12. Mai - 1. August 1999, hg. v. Günter Frank u.a., Bretten 1999, S. 70-81.

4 Vgl dazu jüngst: L'imaginaire du sabbat. Edition critique des textes les plus anciens (1430 c. - 1440 c.), réunis par Martine Ostorero, Agostino Paravicini Bagliani et Kathrin Utz Tremp (Cahiers lausannois d'histoire médiévale 26), Lausanne 1999.

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