G. Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen

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Titel
Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund


Autor(en)
Müller, Guido
Reihe
Studien zur Internationalen Geschichte 15
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
525 S.
Preis
€ 54,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Thomas Meyer, The Franz Rosenzweig Minerva Research Centre, Jerusalem

Bei der Erforschung der Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg schieben sich zunehmend die kulturellen Verflechtungen in den Mittelpunkt des Interesses. Neben den sogenannten „Vermittlern“, wie etwa Bernhard Groethuysen 1, Robert Minder 2 und Pierre Viénot 3, rücken vor allem Dank des unermüdlichen Kasseler Politikwissenschaftlers und Komparatisten Hans Manfred Bock 4 auch Institutionen, Vereine und Interessengruppen in das Blickfeld der Forschung.

Die Aachener Habilitationsschrift von Guido Müller über das nach mehrjähriger Vorarbeit am 30. Mai 1926 gegründete „Deutsch-Französische Studienkomitee“ und den am 22. Mai 1922 in Wien etablierten „Europäische Kulturbund“, erweitert die Kenntnisse der intellektuellen, kulturellen und politischen Beziehungen zwischen den „Erzfeinden“ in vielerlei Hinsicht. Wobei damit nur die Oberfläche von Müllers Arbeit beschrieben ist, nicht aber die Gewinne, die Historiker, Ideengeschichtler und Philosophiehistoriker aus der Aufarbeitung des Materials ziehen können.

Die Struktur des Buches verrät zunächst nichts von den darin enthaltenen Innovationen: auf eine allgemeine „Einführung“ (S. 1-27) folgt eine breitangelegte Übersicht zu den „zentralen Begriffen und Diskussionsforen deutsch-französischer Verständigung“ während der Weimarer Republik“ (S. 28-80) . Das Zentrum der Untersuchung machen die Analysen zum „Studienkomitee“ (S. 82-308) und zum „Kulturbund“ (S. 309-456) aus. Eine Zusammenfassung der „Ergebnisse“ (S.457-474), eine umfangreiche Bibliographie und ein Namensregister schließen die Studie ab.

In der „Einleitung“ legt Müller dar, dass die diversen europäischen Initiativen niemals der Illusion erlagen, man könne nach dem Ersten Weltkrieg ein „Europa“ kreieren. Dazu waren die aus den alten und neuen Eliten stammenden Mitglieder der Organisationen zu sehr Realisten. Aber gerade dies machte für die aus den Führungsschichten stammenden Aktivisten gerade den Reiz aus: sie erkannten in den „transnationalen Faktoren“ des „geistigen und wissenschaftlichen Austauschs“ (S. 9) die Möglichkeit en passant den Geist der Verträge von Locarno (S. 11) zu unterstützen und dabei ihre jeweiligen Ideologien – konservative, liberale, faschistische – durchzusetzen. Letzteres zu erweisen ist ein zentrales Anliegen der Arbeit.

In dem Forschungsüberblick, für den jeder an der Ideengeschichte der Weimarer Republik Interessierte mehr als dankbar sein muss, setzt Müller einen wichtigen Akzent, der das später präsentierte Material organisiert: Er hebt immer wieder hervor, dass die länderübergreifenden, sich auf Kultur und Wissenschaft in einem umfassenden Sinne konzentrierenden Organisationen in ihrer relativen Autonomie betrachtet werden müssen und nicht länger als ein nachgeordnetes Vehikel der Ebenen von staatlicher Politik und Diplomatie begriffen werden sollten. Die Annahme einer relativen Autonomie – mehr kann und soll sie nicht sein, da wesentliche Protagonisten der Organisationen aus der politisch-diplomatischen Elite stammen – wird dann im weiteren Verlauf der Studie ein behutsames Plädoyer für die Verschränkung von historischen, ideengeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Methoden zur Erfassung eines in klassischen Darstellungen zumeist übersehenen Feldes.

Nach dem Literaturbericht bietet Müller zunächst eine kritische Sichtung der Begrifflichkeit, die heutzutage zur Charakterisierung transnationaler Zusammenschlüsse gewählt wird und konfrontiert sie mit den bis cirka 1933 gängigen Definitionen. Während das gegenwärtig modische „Verständigung“ allenfalls sehr spät benutzt und dann explizit als Formel für Vollendung der eigenen Staatlichkeit, also als Aufruf nach innen, verwendet wird, redet in den „Zwanzigern“ jeder von „Bewegung“ (S. 31ff.).

Der folgende Abschnitt liefert eine detaillierte Rechtfertigung für die vorgenommene Auswahl der beiden Organisationen, denn in ihnen kann er sowohl ideell als auch durch die handelnden Personen die Annahme einer relativen Autonomie mit deren unübersehbarem Machtstreben zusammenführen.

Dem folgt eine Fallstudie zum katholischen Milieu um die Zeitschrift „Germania“ (S. 54-80), die sich sehr intensiv der anderen Rheinseite annahm. Hier erweist sich die Engführung der Interessen des „Zentrums“ an außenpolitischer Stabilisierung mit den offen und aggressiv geäußerten Bedürfnissen der Industrie. In diesem Zusammenhang wird eine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit einer der Vorzeige- und Reizfiguren der deutsch-französischen Beziehungen geführt: dem Romanisten Ernst Robert Curtius. Der Zwischenschritt über die „Germania“ ist wohl gesetzt. Er soll auch eine tragende Persönlichkeit des Buches einführen.

Bereits am Ende über die „Germania“ kommt nämlich Pierre Viénot (1897-1944) ins Spiel, der geistige Vater des in Luxemburg gegründeten „Deutsch-Französischen Studienkomitees“ und dessen Vertreter in Berlin von 1926 bis 1930. Schon in der Planungsphase des Komitees war es aufs engste mit dem multinationalen Stahlkonzern ARBED und dessen Gründer Émile Mayrisch (1862-1928) verbunden. Viénots Biographie wird ausführlich dargestellt, denn dieser „Intellektuelle der Tat“ versuchte immer wieder die relative Autonomie in kulturellen Fragen gegen die zunehmenden ökonomischen Prioritäten des „Komitees“ zu retten. Es waren Defizite in der französischen Demokratie die Viénot Mitte der zwanziger Jahre immer begeisterter von Deutschland sein ließen. Ein Austausch könne beiden Ländern verhelfen einen dritten Weg zwischen der etablierten Demokratie und jungkonservativen Staatsmodellen zu finden. Dazu musste einiges getan werden, denn das Interesse Frankreichs an Deutschland war deutlich geringer als umgekehrt. Dieses Defizit lässt sich, wie Müller es tut, mit der Zahl der Korrespondenten belegen: Während in Berlin sieben Franzosen akkreditiert waren, hatten die Pariser Ministerien 33 Deutsche mit Informationen zu versorgen (S. 121).

Die im folgenden präsentierte Geschichte ist eine von Hoffnungen und Enttäuschungen, Konkurrenz und Neid, hochfliegenden Plänen und harten Landungen in der Realität. Viénot wollte diese Dynamik zugunsten von Projekten umbiegen. Anfang Februar 1927 traf man sich in Berlin daher zu einer großen deutsch-französischen Tagung, Mitte Juni dann in Paris. Noch im Dezember 1927 kam es in Luxemburg zu einer fünften Tagung. Doch der Tod Mayrischs 1928 bedeutete einen Rückschlag, der nicht mehr wettgemacht werden konnte.

Es gilt dann eine nahezu parallel mit der „Auflösung der Weimarer Republik“ (Karl Dietrich Bracher) verlaufende Verfallsgeschichte des Komitees zu erzählen, das trotz aller bis in höchste Kreise reichenden Wirkungskraft 1932 in die Hände radikaler Antidemokraten wie von Papen fällt und ideologisch immer weiter dem vom Politologen Arnold Bergstraesser (1896-1964) propagierten Kurs der Anpassung an die herrschenden Verhältnisse folgt.

Gestartet als Vereinigung „modernisierungswilliger nationaler Eliten“ mit „überwiegend konservativer und liberaler Haltung“ (S. 304), erweist es sich bei Müller als ertragreiche Denkwerkstätte von Europa-Bildern, die letztlich einer Quadratur des Kreises gleichen: die kulturelle Fundierung eines an agrar-, industrie- und wirtschaftspolitischen Fragen orientierten Interessenverbandes.

Anders der österreichische „Europäische Kulturbund“ des Karl Anton Prinz Rohan (1898-1973). Auch hier ist ein angestrebter „dritter Weg“ der Ausgangspunkt der Aktivitäten. Orientiert am römischen Katholizismus, dem Staatsrechtler Carl Schmitt, dem Philosophen Max Scheler und zuvor an dem Schriftsteller Hofmannsthal entstand eine eigentümliche, haarsträubend eklektische, für die Zeit nicht gerade untypische Privatphilosophie aus schließlich italienischem Faschismus und den halb durchdachten Ideologemen der „Konservativen Revolution“. Dessen ungeachtet erweist sich Rohan als Kommunikationsgenie, dem kaum ein Demokrat und Liberaler auf den diversen Tagungen ab 1924 in Paris widerstehen kann. Müller entlockt den diversen Zeitschriften und Archivmaterialien ein „Who is who“ der maßgeblichen Intellektuellen der Zeit, die gleichwohl darauf achten, nicht vereinnahmt zu werden. Die hohe Gesprächskultur steht in groteskem Widerspruch zu den propagierten Zielen des „Kulturbundes“. Müller zeichnet die Entwicklung souverän nach und besonders anlässlich der Vorstellung des Periodikums „Europäische Revue“ gelingt ihm eine beeindruckende Inneneinsicht der so extrem differierenden Ansichten der Mitstreiter. Mag man über Einzelheiten streiten, aber Müller beweist in der Schilderung der Tagungen, der zwischen strategischen Radikalismen und taktischen Versöhnungsangeboten gezielt hin- und herschwankenden Beteiligten wie klug er zu gewichten versteht. Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, Alfred Weber und viele andere werden hier in einem neuen Licht sichtbar, und wer aufmerksam liest, dem ergeben sich zahlreiche neue Perspektiven auf die noch immer nicht in Ansätzen erforschte Großwetterlage der Gelehrtenrepublik Weimar. Müller schließt: „Doch war das Ziel dieser Studie noch keine Gesellschaftsgeschichte der deutsch-französischen Beziehungen, die erst am Anfang steht und auch über die politischen Zäsuren von 1933 und 1945 hinausgehen muß“ (S. 474).

Niemand außer Müller könnte sie schreiben. Auf weitere Forschungen seinerseits darf jeder gespannt sein, der sich jenseits allzu enger universitärer Fragestellungen bewegt.

Anmerkungen:
1 Kracht, Klaus Große, Zwischen Berlin und Paris. Bernhard Groethuysen (1880-1946) – Eine intellektuelle Biographie, Tübingen 2002.
2 Betz, Albert; Faber, Richard(Hgg.), Kultur, Literatur und Wissenschaft. Zum 100. Geburtstag von Robert Minder, Würzburg 2004.
3 Sonnabend, Gaby, Pierre Viénot (1897-1944). Ein Intellektueller in der Politik, München 2005.
4 Von den zahlreichen Arbeiten seien genannt: Bock, Hans Manfred (Hg.), Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kultureller Austausch und diplomatische Beziehungen, Tübingen 2005 und ders., Kulturelle Wegbegleiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005.

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