H. Bodenschatz (Hrsg.): Renaissance der Mitte

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Titel
Renaissance der Mitte. Zentrumsumbau in London und Berlin


Herausgeber
Bodenschatz, Harald
Reihe
Schriften des Schinkel-Zentrums für Architektur, Stadtforschung und Denkmalpflege der Technischen Universität Berlin 2
Erschienen
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Alter, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Die Flucht ins Grüne, in die sich oft endlos dehnende Suburbia der großen Städte, scheint längst gestoppt zu sein. Von der drohenden „Verödung“ und Verwahrlosung der Innenstädte, gar der beklagten „Unwirtlichkeit unserer Städte“ (Alexander Mitscherlich) ist nicht mehr die Rede. Offenbar hat sich der säkulare Trend umgekehrt, zumindest in Westeuropa. Nach einer Phase der De-Zentralisierung, die das 20. Jahrhundert vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg prägte, deutet heute vieles auf eine Re-Zentralisierung, auf eine Wiederaneignung und Verdichtung der Innenstädte hin. Mit der Rückkehr der Menschen in die innerstädtischen Quartiere erleben die Zentren der großen Städte in West- und Mitteleuropa seit den 1980er-Jahren eine geradezu atemberaubende Transformation. Die Gründe für die neue, wieder entdeckte Attraktivität der urbanen Zentren sind vielfältig. Verkehrsprobleme und Überdruss am Pendlerdasein spielen eine Rolle, das kulturelle Angebot der Metropole und die traditionelle Sehnsucht nach Urbanität ebenso, kurz: die Annehmlichkeiten des Wohnens und Lebens im Herzen großer städtischer Agglomerationen. Lebensstil und Konsumgewohnheiten der neuen „Urbaniten“ haben allerdings mit den Bedürfnissen früherer Bewohner der innerstädtischen Bezirke nur noch wenig gemein.

Der von Harald Bodenschatz herausgegebene Band belegt umfassend und außerordentlich materialreich die „Renaissance“ der städtischen Mitte an den Beispielen London und Berlin. Die Wahl ist klug, in mancher Hinsicht naheliegend. In Europa gibt es wohl kaum andere Orte, an denen sich die dramatische Regeneration und die Verwandlung der Innenstadt so anschaulich und mit so spektakulären Ergebnissen verfolgen lassen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Berlin, was aufgrund des historischen Hintergrundes der Stadt (Zerstörung und politische Teilung nach 1945) sowie dem sich daraus ergebenden planerischen Nachholbedarf sinnvoll ist. Aber beide Großstädte, London mehr noch als Berlin, verdeutlichen darüber hinaus in jeweils spezifischer Weise den Wandel von der Industriegesellschaft alten Stils hin zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Vor allem London hat als Handels- und Finanzzentrum von weltweiter Bedeutung in den beiden Jahrzehnten seit dem Big Bang seine Stellung als Global City ausbauen können. In Berlin haben städtische Honoratioren zumindest den beschwörenden Topos „Weltstadt Berlin“ wieder in ihre Rhetorik aufgenommen.

Die Gliederung des gewichtigen Bandes ist überzeugend. In einem deskriptiven ersten Teil geben die Autoren knappe Abrisse der historischen Entwicklung der beiden Städte seit ihrer Gründung. Sodann stellen sie „große Projekte des nachmodernen Zentrumsumbaus“ vor, wobei zu Recht immer wieder betont wird, dass sowohl London als auch Berlin polyzentrale städtische Strukturen aufweisen. In beiden Fällen lassen sich, etwa im Unterschied zu Paris oder auch New York, zumindest zwei städtische Zentren ausmachen, denen seit jeher unterschiedliche Funktionen zukamen und die daher städtebaulich-architektonisch unterschiedlich behandelt wurden und werden. Die Autoren demonstrieren das an den vorgestellten Projekten: in London etwa am Covent Garden Market, an der Gestaltung von Paternoster Square in der unmittelbaren Nachbarschaft der St. Paul’s-Kathedrale, an den alten Bahnhöfen Liverpool Street und King’s Cross/St. Pancras mitsamt ihrer Umgebung, an der Entwicklung des südlichen Themseufers vom OXO-Tower über die Tate Modern im ehemaligen Kraftwerk Bankside bis zum neuen Rathaus des Bürgermeisters Ken Livingstone an der Tower Bridge sowie dem quasi aus dem Nichts entstandenen neuen städtischen Bürozentrum in den Docklands östlich der City of London (Canary Wharf). Im Falle Berlins geht es in dem Band ebenfalls in erster Linie um Projekte und Planungen, deren Ziel entweder die Revitalisierung brach liegender innerstädtischer Areale ist oder die „kritische Rekonstruktion“ zerstörter baulicher Ensembles: Potsdamer und Pariser Platz, Alexander- und Schlossplatz, Friedrichstraße, Hackesche Höfe, City West usw. Dass damit nicht selten der Abriss ästhetisch unbefriedigender Bauten der Nachkriegsmoderne (DDR-Außenministerium im Osten, Café Kranzler im Westen) oder die radikale Beseitigung historisch bedeutsamer Erinnerungsorte (Berliner Mauer, Checkpoint Charlie) einherging, wird nicht verschwiegen und gelegentlich bedauert.

Im zweiten Teil des Bandes, der mit „Merkmale des nachmodernen Zentrumsumbaus“ betitelt ist, wird ein Resümee gezogen und der Vergleich zwischen London und Berlin durchgeführt. Dieser eher analytische Teil ist durchweg gelungen. Besonders in den Essays „Kult des öffentlichen Raums“ von Uwe Altrock (S. 349ff.), „Nachmoderne Formen der Nutzungsmischung“ von Benjamin Herkommer (S. 357ff.), „Wandel der Stadtplanung“ von Uwe Altrock und Dirk Schubert (S. 370ff.) oder „Soziale Adressaten des Zentrumsumbaus“ von Frank Roost (S. 391ff.) werden die bemerkenswerten Parallelen und Unterschiede zwischen London und Berlin bei der „Renaissance der Mitte“ kenntnisreich und überzeugend herausgearbeitet, die in der Einleitung aufgestellte Behauptung: „In London wurde immer sehr viel Wert auf Tradition gelegt, in Berlin dagegen war Tradition eher ein Schimpfwort“ (S. 10) aber nicht unbedingt bewiesen.

Mit der gründlichen Analyse der innerstädtischen Entwicklung in zwei der dynamischsten Städte Europas ist dem Herausgeber Harald Bodenschatz und seinen Autoren ein grandioser Überblick gelungen, reich bebildert und allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügend. Er kann als eine nahezu lückenlose Bestandsaufnahme von über drei Jahrzehnten städtebaulichen Planens und Handelns in den beiden Metropolen verstanden werden, auch als Kompendium der realisierten Projekte, interessanter bis absurder Visionen (Wiederaufbau des Hohenzollern-Schlosses in Berlin bzw. seiner Fassaden) und städtebaulicher Entscheidungsprozesse in den beiden Städten, bei denen städtische Funktionäre, Investoren, Journalisten, international renommierte „Stararchitekten“ und Interessenverbände das Sagen haben.

Dem Londoner und Berliner Publikum bleibt bei alledem die Rolle des staunenden (und gelegentlich auch leidenden) Beobachters überlassen, denn „Entscheidungskompetenz für den Zentrumsumbau wird einfachen Bürgern weder zugetraut noch in breitem Maß zugebilligt“ (S. 377). Mit anderen Worten: Beim sanierenden und modernisierenden Zentrumsumbau unserer Tage, der häufig tief in die gewachsene Struktur der Städte und das Leben ihrer Bewohner eingreift, haben wir es mit einem demokratiefernen Raum politischen und sozialen Handelns zu tun. Die Politiker in den Rathäusern oder in Londons Whitehall und am Berliner Platz der Republik scheint das nicht sonderlich zu beunruhigen.

Eine ganz andere Frage ist, ob der staunende Zeitgenosse wirklich die Geschichte aller städtebaulichen Projekte, Megabauten und Ideenwettbewerbe in London und Berlin in der Dichte zur Kenntnis nehmen muss, wie sie Herausgeber Bodenschatz und seine Autoren anbieten. Im vorliegenden Band kommt es zwangsläufig zu Wiederholungen und Redundanzen. Eine Straffung des Textes hätte die Stichhaltigkeit der These von der „Renaissance der Mitte“ und die Formen, in denen diese Renaissance in London und Berlin seit den 1980er-Jahren realisiert wird, nicht weniger eindrucksvoll demonstriert.

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