T. Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte

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Titel
Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945


Autor(en)
Etzemüller, Thomas
Erschienen
München 2001: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Hettling, Universität Halle

I Die sich als 'Historische Sozialwissenschaft' verstehende Sozialgeschichte ist in der jüngsten Zeit heftig kritisiert worden. Inzwischen wird intensiv darüber debattiert, inwiefern wichtige akademische Väter und intellektuelle Grundannahmen dieser historiographischen Richtung personelle und ideelle Wurzeln in der 'Volksgeschichte' der Zwischenkriegszeit und des Nationalsozialismus haben. Die Sozialgeschichte, die immer als 'links' galt, scheint in diesem Lichte plötzlich nicht mehr nur aus dem Geiste der politischen Demokratie des Westens und der Anregungen der systematischen Nachbarwissenschaften gespeist worden zu sein. Werner Conze und Theodor Schieder werden deshalb als wichtige personelle Bindeglieder zwischen der 'braunen' Volksgeschichte aus der Zeit vor 1945 und der linken
Sozialgeschichte seit den 60er Jahren diskutiert; insbesondere ihre intellektuellen Prägungen im Umfeld von Hans Rothfels an der Königsberger Universität und in den politischen Volkstumskämpfen der 1930er Jahre stehen seither im Mittelpunkt kontroverser
Interpretationen.1

Die Arbeit von Thomas Etzemüller kann als ein Versuch verstanden werden, die Entstehung der Sozialgeschichte neu zu interpretieren. Die Tübinger Dissertation beschreibt und untersucht die Rolle von Werner Conze in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 und vor allem Conzes Bemühungen um die Etablierung einer "Sozialgeschichte" in Deutschland. Etzemüller betont, dass die Sozialgeschichte keineswegs erst als Historische Sozialwissenschaft in 'Bielefeld' (um die Ortsbezeichnung der Einfachheit halber als Kürzel zu verwenden) entstanden sei. Vielmehr habe Conze seit den 1950er Jahren eine Sozialgeschichte zuerst programmatisch vertreten und dann in zahlreichen empirischen Forschungsprojekten betrieben, die als enge Verkettung von Sozial- und Politikgeschichte zu verstehen sei. Damit grenzt sich Etzemüller dezidiert ab gegen die Auffassung, erst die Historische Sozialwissenschaft habe mit dem Begriff 'Gesellschaft' eine politische Dimension von Sozialgeschichte ermöglicht und erst ihr sei es gelungen, politische Phänomene in ihrem sozialen Kontext zu erklären.

Die Arbeit ist eine gründliche Untersuchung über Werner Conze als Historiker und als Wissenschaftsorganisator. Nach einem einführenden knappen Kapitel über die Jahre bis etwa 1949 (unterteilt in Passagen über die Ostforschung in Königsberg, über Conzes Stellung in Göttingen direkt nach Kriegsende und über die "Rothfels-Gruppe" als personellem und ideellem Zusammenschluss) gliedert sich das Buch in zwei Teile: zuerst wird Conze als handelnde Person (und weniger als intellektuelle Figur), dann werden Umfeld und Denkstil dargestellt.

Der Historiker Conze wird unter drei Sachpunkten untersucht. Erstens: Conzes 'Ansatz' stellt Etzemüller unter Rückgriff auf zwei Aufsätze aus den 50er Jahren vor,2 aus diesen beiden kurzen Texten wird gewissermaßen Conzes sozialgeschichtliches 'Programm', wird sein Verständnis von Sozialgeschichte entwickelt. Sozialgeschichte solle zur politischen Geschichte erhoben werden, denn sie sei "nicht weniger politisch als die Geschichte der Ereignisse im staatlichen Bereich".3 In einem zweiten Schritt werden als für Conze wichtige intellektuelle Prägungen die Annales, Hans Freyer, Günther Ipsen und Otto Brunner vorgestellt. Dabei verschwimmen die Unterschiede zwischen prägenden intellektuellen Figuren (Freyer, Brunner, Rothfels) und Positionen, mit denen sich Conze intensiv auseinandergesetzt hat.4

Zweitens: Als Nächstes wird die 'Strategie' vorgestellt, d.h. die bewusste Propagierung von Sozialgeschichte. Conze habe fachpolitisch äußerst zielstrebig und erfolgreich - durch Rezensionen, durch seine empirischen Arbeiten und Forschungsprojekte sowie durch institutionelle Aktivitäten - seiner Auffassung "Gehör verschafft" (S. 90). Drittens: Je erfolgreicher Conze in seiner Tätigkeit wird, desto mehr sei er, so Etzemüller, in die 'Position des Sprechers' (als Repräsentant der im "Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte" versammelten Historiker und anderer, durch persönliche Bindungen verbundener Historiker, wie z. B. Theodor Schieder) gerückt.

Im zweiten Hauptteil wird dann das gesellschaftliche und institutionelle Bedingungsgefüge für den Erfolg Conzes untersucht. Etzemüller konstatiert hier, dass "Veränderungen in der Gesellschaft" von der Geschichtswissenschaft allmählich neue Sichtweisen auf die Welt abforderten - und dass Conzes Sozialgeschichte genau diese Leerstelle gefüllt hätte. Gerade weil die 'Zunft', die universitäre Geschichtswissenschaft, traditionsverhaftet und bis weit in die 60er Jahre hinein ziemlich unberührt von sozialhistorischen Ideen geblieben sei, hätte Conze mit seiner Sozialgeschichte diese Leerstelle ausfüllen können. Doch blieb die Sozialgeschichte, wie Etzemüller einräumt, eine Minderheitenbewegung (was etwas widersprüchlich erscheint; denn das positive gesellschaftliche Umfeld müsste dann ja relativ begrenzt gewesen sein).

Abschließend beschreibt ein eigenes Kapitel den "Untergang im Sieg", d.h. die sich seit den 70er Jahren abzeichnende größere Ausstrahlungskraft der Bielefelder Sozialgeschichte gegenüber der eher auf Partialaspekte konzentrierten Sozialgeschichte Conzes, die nie einen synthetisierenden Begriff wie 'Gesellschaft' zu entwickeln versuchte. Die zweite Sozialgeschichte nun werde, so schließt Etzemüller, gegenwärtig durch die Kulturgeschichte überholt und abgelöst.

Als theoretische Grundlage seiner Arbeit greift Etzemüller auf das wissenssoziologische Modell des Denkstils von Ludwik Fleck zurück,5 das er mit einem an Foucault und Bourdieu angelehnten Begriff des 'Diskurses' anreichert. Ein Denkstil sei, so Etzemüller, eine
"gedankliche Verarbeitung der Welt, die an einem Denkkollektiv hängt und seine Mitglieder zwingt, die Welt auf eine bestimmte Art zu sehen" (S. 6). Diskurse hingegen - so wiederum Etzemüller - seien "Ansammlungen ganz heterogener Aussagen", ein Diskurs fasse "Aussagen zusammen und gibt ihnen eine Form ... Ein Diskurs richtet die Welt zu" (S. 7). So verworren das klingt: Bei Etzemüller wird der Begriff 'Diskurs' weiter gefasst; ein 'Denkstil' sei zudem immer an eine bestimmbare soziale Formation, an das 'Denkkollektiv', zurückgebunden. Gemeinsam jedoch seien Denkstil wie Diskurs "verborgene Formatierungsprinzipien", die das
Bild, das ein Historiker entwerfe, "prägen". Der Historiker erscheint in diesem Verständnis als weitgehend begrenzt und vorherbestimmt in seinen Überlegungen und Erkenntnissen, denn Denkstil und Diskurs legten nahe und gäben vor, was er erzählt (S. 7). Konsequent scheint es deshalb zu sein, dass Etzemüller den Begriff "Wahrheit" (und damit auch die Frage nach wissenschaftlicher Objektivität) relativiert und Wahrheit völlig in den Rahmensetzungen des Denkstils auflöst.

Etzemüller verwendet den Begriff 'Denkstil' vor allem, um zwei inhaltliche Elemente in Conzes Arbeiten zusammenzufassen. Conzes historische Arbeiten seien - vor wie nach 1945 - zum einen durch den Begriff des "Ostens" und die sich hieraus zu bestimmende Grenze gegenüber dem Osten geprägt. Eng damit zusammen hänge zweitens die gegen den Osten zu verteidigende Ordnung im Innern. Beides zusammen führe zu einer Dichotomie, die sich durch alle Texte ziehe, bestimmt durch Ordnung, Organisation, Nation einerseits, durch Abwehr, Chaos, Flut, Vaterlandslosigkeit andrerseits. Zu bezweifeln ist, dass das ausreicht, einen Denkstil zu konstituieren. Inwiefern das in Conzes sozialgeschichtlichen Studien zur Familie, zur Lage der Arbeiterschaft, zur Demographie, zu Württemberg nachzuweisen wäre, müsste erst noch gezeigt werden. Diese Elemente (Ordnung vs. Chaos) haben unstrittig ihre Wurzeln in der Situation der 20er und 30er Jahre. Dass sich die Sozialgeschichte als Methode jedoch gerade von dieser engen politischen Kontextbindung lösen konnte, wird hier nicht erfasst.

II Was sind die Ergebnisse der Studie? Der Vorzug der Arbeit liegt unstrittig darin, dass Conze in seiner beeindruckend vielfältigen Aktivität, in seinen sowohl die Forschung immer wieder bilanzierenden Aufsätzen und in seiner organisatorischen Qualität fast schon minutiös beschrieben wird. Deutlich wird auch, obwohl Etzemüller das kaum erörtert, dass Conze kein theoretischer Kopf war. Seine Qualitäten (die nach wie vor Bestand haben) lagen viel eher in einer quellengesättigten Aufarbeitung von Problemen und in der organisatorischen Umsetzung von Ansätzen in konkrete Forschungsprojekte. In beidem ragte er über andere weit hinaus. Conze kann nur deshalb als konzeptionelle Leitfigur erscheinen, weil die große Mehrheit der Historiker in den 50er und 60er Jahren konventionell blieben. Verdeutlichen lässt sich das etwa an Conzes Aufsatz über die 'Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters', worin er letztlich nur Freyersche Gedanken adaptiert. Nicht die theoretische Originalität zeichnet Conze aus, sondern die relativ große Offenheit und Unvoreingenommenheit, mit welcher er Anregungen der Nachbarwissenschaften aufgreift und für Historiker fruchtbar macht. In dieser Hinsicht profitiert er ganz eindeutig von der methodischen Innovationsfähigkeit der Volksgeschichte der 20er und 30er Jahre. Geringschätzen sollte man diese Leistung nicht: Liest man etwa Artikel Conzes aus den Geschichtlichen Grundbegriffen oder sozialgeschichtliche Beiträge, haben sie nach wie vor Bestand und beeindrucken durch ihre Sprache, die frei von jedem modischem Schnick-Schnack bleibt. Der Umbruch, den die Sozialgeschichte seit den 1960er Jahren erfahren hat,
und der wesentlich durch den Bezug auf einen theoretisch begründeten Begriff von 'Gesellschaft' mitgetragen wurde, hat Conze dann gewissermaßen überholt. Diese Herausforderung konnte nicht mit einer 'Erweiterung' der Sozialgeschichte aufgefangen werden, sondern implizierte einen Paradigmenwechsel.6 Wollte man sich diesem
entziehen, erforderte das dennoch eine intensive theoretische Auseinandersetzung. Inwiefern Conze hierzu auf der Grundlage seiner theoretischen Annahmen nicht in der Lage war, das diskutiert Etzemüller leider nicht.

Unübersehbar bleiben aber die Schwächen von Etzemüllers Arbeit. Im Grunde ist er mit seinem Vorhaben gescheitert, Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft zu analysieren. An den drei zentralen Begriffen der Arbeit lässt sich das zeigen:

1. Denkstil. Der Begriff bleibt mehr als vage. Inwiefern ein derartig umfassend konzipiertes wissenssoziologisches Modell, das zudem ideelle Konstrukte rigide an soziale Bedingungen und ihre kollektiven Träger bindet, geeignet ist, um mögliche Innovationen der Geschichtswissenschaft und die Rolle von Historikern in einem sich radikal wandelnden politischen gesellschaftlichen Umfeld (vor oder nach 1945) zu analysieren, ist zu bezweifeln. Wenn 'Denkstil' so allgemein verwendet wird wie bei Etzemüller, lässt sich Kontinuität fast immer feststellen. Das methodische Instrumentarium ist hier zu grob, um das Nebeneinander von Kontinuität und Wandel bzw. die Verschränkung von Politik und Wissenschaft zu erfassen.

Diese Verbindung von Sozialgeschichte und Politik, die für die Volksgeschichte (vor 1945) relativ unstrittig ist, überträgt Etzemüller auf die Zeit nach 1945. Das ist seine zentrale These. Dabei beschreibt er einerseits eine Kontinuität der wissenschaftlichen Denkfiguren, zugleich aber auch den Wechsel der politischen Orientierung: Conze sei nach 1945 zum Demokraten geworden, hätte gewissermaßen den politischen "Symbiosepartner" (S. 308) gewechselt, das parlamentarische Regierungssystem anerkannt und sei zum liberalen Lehrer und zum demokratischen Historiker avanciert (ungeklärt bleibt dabei, inwiefern Conze sich zum Verfassungspatrioten wandelte oder weiterhin an der Nation als Legitimationsspender festhielt). Unter dieser liberalen Oberfläche aber habe der bisherige Denkstil fortbestanden, bei Conze, bei Schieder und bei vielen anderen Historikern. Dieser Lernprozess blieb partiell, weil die Ereignisse nicht die Macht gehabt hätten, eine grundlegend andere Sicht der Welt zu provozieren - so Etzemüller. Wieso dann jedoch seit den 1960er Jahren gesellschaftliche Ereignisse diese Macht gewannen, neue Sichtweisen zu produzieren, bleibt in der Darstellung seltsam blass. Wenn konstatiert wird, der "fortgesetzte gesellschaftliche Wandel" habe Conzes Sozialgeschichte immer rascher veralten lassen, drängt sich die Frage auf, wieso Denkstil und Denkkollektiv dem so wenig entgegenzusetzen hatten. Doch Etzemüller stellt diese Frage nicht. Fast scheint es, Etzemüller bricht an dieser Stelle ab, um nicht die Frage nach der generationellen Prägung stellen zu müssen. Doch würde die unterstellte Wirkungsmächtigkeit des Denkstils weitgehend relativiert werden, wenn der Denkstil nur an eine Generation gebunden bliebe. Der Denkstil erschiene dann abhängig von anderen Faktoren, die hier gar nicht ins Blickfeld rücken.

Der Verfasser weicht zudem der Frage aus, ob der Denkstil von seinen politischen Implikationen und Bindungen zu lösen sei - ob politische und historische Sicht auf die Welt zu trennen seien. Beides scheint schwer nachvollziehbar. Unverständlich bleibt in seiner Darstellung, wie der Denkstil denn gewahrt bleiben kann, obwohl sich die politische Orientierung grundlegend wandelt. Auch dieser Frage weicht Etzemüller aus.

2. Denkkollektiv. Ebenso vage wie der Denkstil bleibt die Beschreibung des 'Denkkollektivs'. Beeindruckend vielfältig und unspezifisch ist die Reihe der Begriffe, mit denen das 'Denkkollektiv', d.h. die soziale Gruppe bezeichnet wird, für die Conze als exemplarische Figur untersucht wird. Mal spricht Etzemüller von "Conze-Gruppe" (S. 283), mal von "Rothfelsianern" (S. 322) oder von "Rothfels-Gruppe" (S. 44), dann wiederum von "Königsbergern" (S. 44). Ebenso wird an einer Stelle von einer Generation gesprochen, dann von einer spezifischen Gruppe. Diese Unschärfe der sozialen Begrifflichkeit steht in einem seltsamen Kontrast zur Eindeutigkeit, mit welcher die sozialen Träger, das Denkkollektiv, als bestimmend für den Denkstil beschrieben werden. Wenn dem sozialen Kollektiv eine derart große Kraft für ideelle Weichenstellungen zugeschrieben wird, sollte es dann nicht eindeutiger bestimmbar sein?

Conze als strategischen Sprecher und als "Diskursmanager" zu beschreiben, suggeriert dabei nur eine Kohäsion der Historikerschaft, die empirisch nicht belegt wird.

3. Sozialgeschichte. Unbefriedigend bleibt es, Sozialgeschichte derart vage zu beschreiben, dass Erich Maschke, Werner Conze, Otto Brunner und Fernand Braudel als Vertreter ein und derselben Sozialgeschichte gedeutet werden (Braudel sich von den anderen nur unterscheide in einer radikaleren Ablehnung des Ereignisses; S. 148). Wenn Braudel und Conze dieselbe Sozialgeschichte betrieben hätten - welche Rolle spielte dann noch der Denkstil, um die Conzesche Sozialgeschichte verstehen zu können? Denn Braudels Sozialgeschichte wurzelte nicht in Königsberg, nicht im Volkstumskampf der 30er Jahre und auch nicht in der Anregung
durch Freyer und Ipsen, sondern ganz und gar in französischen Wissenschaftstraditionen.

Der Verzicht auf eine Definition des Begriffes von Sozialgeschichte (S. 19) verwundert besonders. Es scheint, dass hierin eine Bedingung dafür liegt, Conze zum Dreh- und Angelpunkt einer fundamentalen Neuausrichtung der westdeutschen Geschichtswissenschaft machen und gleichzeitig diese Form von Geschichte derart eng an politische Werte binden zu können. Denn jede auch noch so weit gefasste Definition von Sozialgeschichte hätte klare Grenzen aufgesteckt zwischen einzelnen Vertretern (und damit das unterstellte Denkkollektiv zerbröseln lassen); jede Definition von Sozialgeschichte hätte auch die Frage nach sich gezogen, inwiefern und in welchen Punkten Kontinuitäten oder Diskontinuitäten zur Volksgeschichte vor 1945 weiterbestanden (und damit den unterstellten Denkstil in Frage gestellt).

III Mit der Trennung in eine unterstellte historische Kontinuität einerseits und eine unterstellte politische 'Läuterung' andrerseits weicht Etzemüller letztlich der brisanten Kontroverse um die Volksgeschichte und die Beteiligung der nach 1945 einflussreichen Historiker aus. Damit scheitert aber auch sein Anspruch, die Neuorientierung der Geschichtsschreibung nach dem Nationalsozialismus und die oft emphatische Verbindung vieler Historiker mit dem "Dritten Reich" erhellen zu können. Die osmotischen Grenzen, die zwischen nationalsozialistischer Ideologie und Volksgeschichte bestanden, können mit seiner Verwendung des Denkstil-Konzeptes nicht geklärt werden. Dadurch auch bleibt seine Antwort auf die Frage nach der Kontinuität zwischen nationalsozialistischer Volksgeschichte und bundesdeutscher Sozialgeschichte blass.

An nicht wenigen Stellen drängt sich dem Leser ohnehin der Eindruck auf, nicht so sehr der Denkstil sei der Leitbegriff der Arbeit, sondern das Netzwerk. Diejenigen Passagen erscheinen am plausibelsten, in denen Conzes vielfältige Bemühungen nachgezeichnet werden, Freunde und Kollegen zur Absicherung seiner Vorhaben zu sammeln, Begriffe zu prägen, Projekte vorzubereiten, wohlwollende Unterstützung zu organisieren. Insofern wird die Arbeit an nicht wenigen Stellen weniger eine Ideengeschichte, sondern eine Darstellung strategischen Handelns. Das mag von Foucault angeregt sein, das mag auch ein Reflex dessen sein, dass viele Jüngere den heutigen Wissenschaftsbetrieb als System deuten, welches nicht 'Berufung', sondern 'Karriereplanung' als Voraussetzung erfordert - und deshalb strategisches Handeln als wichtigstes und erfolgversprechendes Verhalten in der Wissenschaft ansehen. Doch das 'Sendungsbewusstsein', das viele Anhänger der Volksgeschichte vor 1945, das auch viele Sozialhistoriker nach 1945 auszeichnete, lässt sich damit nicht greifen.

Anmerkungen:
1 Es sei daran erinnert, dass eine der ersten gründlichen und nach wie vor überzeugenden Arbeiten zu dieser Frage als Dissertation bei Jürgen Kocka schon in den 80er Jahren angeregt und begonnen worden ist: Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische
Ideologisierung in der westdeutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945,
Göttingen 1993.
2 Werner Conze, Die Stellung der Sozialgeschichte in Forschung und Unterricht, in: GWU 3.1952, 648-57; ders., Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, Köln 1957.
3 Conze, Stellung, 652.
4 Hier sind vor allem die Annales zu nennen; Conze hat früh die französische Sozialgeschichtsschreibung rezensiert.
5 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935), Frankfurt 1980. Fleck hat seine Wissenssoziologie gegen einen naiven Tatsachenpositivismus geschrieben, er betont, dass Wissenschaft wesentlich eine Tätigkeit sei, veranstaltet von Forscherkollektiven. Als erster hat Thomas Kuhn auf Fleck zurückgegriffen und auf sein Buch hingewiesen. Das Denkkollektiv bezeichnet bei Fleck die soziale Einheit der Gemeinschaft der Wissenschaftler, der Denkstil die denkmäßigen Voraussetzungen, auf denen das Kollektiv sein Wissensgebäude aufbaut.
6 Vermutlich lohnt sich die Diskussion, inwiefern Conze und andere dem neuen Leitbegriff der "Gesellschaft" vielleicht deshalb so distanziert gegenüberstanden, weil ihr Versuch der Aggregierung von Strukturdimensionen zum Begriff 'Volk' als einer wesensmäßigen Einheit sich als politisch fataler Irrweg herausgestellt hatte. Zu diskutieren ist auch, ob Conzes Begriff der "Verfassung" nicht eine methodische
Grundlage für eine politische Deutung von 'Volk' darstellte (wie bei Brunner), die nach 1945 durchaus weiter Bestand haben konnte. Zu Brunner vgl. vor allem Reinhart Blänkner, Von der "Staatsbildung" zur "Volkswerdung". Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Alteuropa oder Frühe Neuzeit, hg.
von L. Schorn-Schütte, Beiheft der ZHF, Berlin 1999, 88-135.

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