S. Brather (Hg.): Auf dem Weg zum Germania Slavica-Konzept

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Titel
Auf dem Weg zum Germania Slavica-Konzept. Perspektiven von Geschichtswissenschaft, Archäologie, Onomastik und Kunstgeschichte seit dem 19. Jahrhundert


Herausgeber
Brather, Sebastian; Kratzke, Christine
Reihe
GWZO-Arbeitshilfen 3
Erschienen
Anzahl Seiten
210 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerson H. Jeute, Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

"Europa [zu] bauen", wie es als Stichwort in der Geschichtswissenschaft mehr und mehr auftaucht, ist ohne Regionen nicht denkbar. Diese bilden in ihrer unglaublichen Vielfalt das geeignete Fundament für eine differenzierte Betrachtung der Vergangenheit und eine innovative Gestaltung der Zukunft des Kontinents. Eine dieser Regionen ist die Germania Slavica, der westliche Rand Ostmitteleuropas im Mittelalter, die in jener Zeit vor allem durch das Aufeinandertreffen von Slawen und Deutschen bestimmt war und die somit eine entscheidende Rolle bei der hochmittelalterlichen Transformation in Europa spielte. Die Untersuchung solch einer Region mit nur wenigen schriftlichen Quellen bedarf verschiedener Disziplinen, die sich überdies der Thematik gemeinsam annehmen. Eben jene - Archäologie, Geschichte und Namenkunde - sind im vorliegenden Band vertreten und stellen ihre Forschungsgeschichte, den aktuellen Stand der Forschung und mögliche Perspektiven dar. Dabei wurde jedoch eine etwas ungünstige Form gewählt, in der sich jedes Fach einzeln präsentiert und die Gesamtentwicklung in zwei separate Blöcke geteilt wurde. Der Band geht zurück auf einen Workshop am "Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO)" in Leipzig im Jahre 2002, jedoch profitieren die Beiträge auch von Publikationen die später erschienen.

Ernst Eichler (Methoden und Ergebnisse der Namenforschung in der Germania Slavica, S. 61-72) gibt einen Überblick über die Leipziger universitäre Namenforschung der Nachkriegszeit, deren Schwerpunkte siedlungs- und namengeschichtliche Arbeiten waren und die darüber hinaus um populärwissenschaftliche Darstellungen bemüht war. Für die anderen Fächer der Germania Slavica-Forschung sind vor allem die Orts- und Flurnamenbücher von Interesse. Der "Onomastik an der Berliner Akademie der Wissenschaften von 1945 bis 1991" (Cornelia Willich, 73-78) verdanken wir insbesondere die Einbeziehung aller, also sowohl slawischer als auch deutscher Ortsnamen, in die jeweiligen namenkundlichen Untersuchungen. Diese Herangehensweise verhindert Einseitigkeit bei der Betrachtung eines Zeitraumes der gegenseitigen ethnischen und sprachlichen Beeinflussung. Das Brandenburgische Namenbuch beispielsweise konnte vom zeitgleichen Projekt des Historischen Ortslexikons für Brandenburg (Brandenburgisches Landeshauptarchiv) profitieren und umgekehrt. Beide sind unschätzbare Hilfsmittel für die mittlere Germania Slavica, doch gibt es auch Divergenzen: in der Grenzziehung des Untersuchungsgebietes, der Reihenfolge der bearbeiteten Orte oder bei der Angabe einzelner Daten. Bereits hier wäre eine Zusammenarbeit und gemeinsame Publikation praktisch gewesen. Diese erfolgte beim Handbuch "Die Slawen in Deutschland" (Berlin-Ost 1970; 1985), doch mahnt der staatlich-ideologische Eingriff in die Publikation heute zur vorsichtigen Benutzung. Ein hervorragendes Beispiel dagegen waren die Forschungen unter Wolfgang H. Fritze (Friedrich-Meinicke-Institut der Freien Universität Berlin). Leider wird diese Institution, die den Begriff Germania Slavica einst weitgehend prägte, im vorliegenden Band nur unzureichend gewürdigt. Heute bilden die Ortsnamenbücher den Schwerpunkt der Onomastik, doch bleiben die zahllosen Flurnamen noch weitgehend unberücksichtigt, wie Christian Zschieschang (Nicht nur Etymologie. Onomastische Forschungen in Gegenwart und Zukunft, S. 133-147) feststellen muß. Die Hauptaufgaben bleiben die Beschreibung und Auswertung von Namen, die chronologische Einordnung sowie Untersuchungen zur Namenentwicklung.

In der archäologischen Forschung stand die Frage der ethnischen Zuordnung im Vordergrund, noch bevor Funde und Befunde überhaupt zeitlich genauer eingeordnet werden konnten, wie Sebastian Brather (Germanen, Slawen, Deutsche. Themen, Methoden und Konzepte der frühgeschichtlichen Archäologie seit 1800, S. 27-59) darlegt. Die Suche nach der "Urheimat" von "Völkern" stärkte insbesondere nationalistische und nationalsozialistische Bestrebungen. Auch wenn dieser selbst verschuldete politische Mißbrauch die archäologische Forschung im 20. Jahrhundert stark schädigte, ist das Bewußtsein, daß weder aus wertvollen Schmuckstücken noch aus einfachen Keramikscherben und Artefakten ethnische Zugehörigkeiten der einstigen Besitzer erkannt werden können, erst in jüngster Zeit deutlicher hervorgetreten. Dieses allgemeine Problem der Archäologie gilt freilich insbesondere für die Germania Slavica. So findet sie heute ihre Themen in der Siedlungs-, wie auch in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Dieser Aspekt hätte im gesamten Band stärker Berücksichtigung finden können. Ein Beispiel über die Methoden und Möglichkeiten der siedlungsgeschichtlichen Untersuchungen bietet Kerstin Kirsch (Methoden der Siedlungsarchäologie im Bereich der Germania Slavica, S. 115-132); sie greift dabei vorrangig auf eigene Forschungen zurück. Bei der großräumigen Datenerhebung ist man bislang auf die ehrenamtliche Bodendenkmalpflege und auf Rettungsgrabungen im Zuge von Baumaßnahmen angewiesen. Ein großes methodisches Problem stellt die ungenaue Datierungsmöglichkeit von Artefakten dar, erforderlich sind allerdings jahrzehnt- und jahrgenaue Werte. Naturwissenschaftliche Daten versprechen den größten Fortschritt der letzten Jahrzehnte, doch können sie weder überall gewonnen, noch im Einzelfall jederzeit finanziert werden. Letztlich bedarf die Interpretation der siedlungsarchäologischen Ergebnisse einer Zusammenarbeit mit den anderen Disziplinen.

Für die Geschichte war die Religion der Slawen zunächst Teil der mittelalterlichen Religionsgeschichte. So dominierten theologische Ansätze, bis man ethnologische und philologische Herangehensweisen sowie archäologische Quellen berücksichtigte. Politisch-ideologische Einflüsse sind für Stanislaw Rosik (Die vorchristliche Religion der Westslawen in der historischen Forschung seit 1800, S. 15-26), zumindest was die Forschungen in Polen und Tschechien anbelangt, kaum zu erkennen. Anders in Deutschland (vgl. Matthias Hardt, Die Erforschung der Germania Slavica. Stand und Perspektiven der geschichtswissenschaftlichen Mediävistik, S. 101-114), wo seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Landesgeschichte stark national ausgerichtet war. Einzelne Vertreter sahen die nationalsozialistischen Bestrebungen zur "Wiederbesiedlung des deutschen Ostens" sogar als Fortsetzung der mittelalterlichen Kolonisationsarbeit an. Heute befindet sich die Landesgeschichte in einer ähnlichen Krise wie die Archäologie: während einerseits die auswertbaren Daten durch Quelleneditionen sowie durch die Heranziehung von Ergebnissen anderer Disziplinen zunehmen, werden die institutionellen Voraussetzungen für eine landesgeschichtliche Forschung beschnitten. Zur Analyse der Daten der unterschiedlichen Fächer ist jedoch eine breite universitäre Ausbildung erforderlich! Internationale Ausstellungen ordnen die Germania Slavica bereits in einen europäischen Kontext und unterstreichen ihre Bedeutung bei Fragen von Ausgleichsprozessen zwischen Kulturen und Ethnien.

Eine klassische Schulenbildung erfolgte in der Kunstgeschichte, wie Uwe Albrecht und Christine Kratzke unter ihrem etwas sperrigen Titel ("[...] im besten Sinne norddeutsche Klassik, entzündet am Ferment deutsch gesehener italienischer Kunst". Kunsthistorische Forschungen zur mittelalterlichen Baukunst zwischen Elbe und Oder vor dem Zweiten Weltkrieg, S. 79-98) beschreiben. Sowohl die "Berliner", als auch die "Wiener Schule" waren durch nationale Schwärmereien geprägt, besonders zwischen den beiden Weltkriegen, als analytische Studien die älteren historisch-quellenkritischen Ansätze verdrängten. Die Germania Slavica freilich war selten Gegenstand der Untersuchungen. Zum einen sind aus dem Arbeitsgebiet nur wenige steinerne Bauten vor dem 12. Jahrhundert bekannt, zum anderen hat die Forschung kaum Verbindungen zu anderen Disziplinen gesucht. Lediglich zur Betonung des vermeintlichen "Nationalcharakters" der Architektur fanden die plakativen Begriffe "Ostkolonisation" und "Ostsiedlung" Verwendung. Nach 1945 konzentrierten sich die Kunsthistoriker der DDR auf den architektonischen Baubestand (vgl. Christine Kratzke, Blick nach innen - Blick nach außen. Die Erforschung der mittelalterlichen Architektur in Nord- und Mitteldeutschland nach 1945, S. 149-184), was sich in Inventaren, Handbüchern und Lexika äußerte. Siedlungsgeschichtlich interessante Kirchenbauten wurden jedoch erst in jüngster Zeit angemessen berücksichtigt. Eine starke Verbindung besteht heute zur Mittelalterarchäologie, ein wichtiges Hilfsmittel ist die Dendrochronologie geworden. Aus dieser fachlich-methodischen Entwicklung heraus hat sich die Bauforschung als eigene Disziplin etabliert. Eine gebührende Würdigung dieses Faches durch andere Disziplinen steht jedoch noch aus.

Der vorliegende Band ist - gemäß Reihentitel - wahrlich eine Arbeitshilfe, der einen schnellen Einstieg in die Germania Slavica-Forschung ermöglicht. Dienlich wäre ein Sachwortindex gewesen, doch lassen sich über das getrennte Orts- und Personenregister alle wichtigen Aspekte finden. Es hätte der Zusammenarbeit der Disziplinen gut gestanden, wenn sie in einem gemeinsamen Text gemündet, zumindest aber ein gemeinsames Literaturverzeichnis angefertigt worden wäre.

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