C. Dowe: Katholische Studierende im Kaiserreich

Titel
Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich


Autor(en)
Dowe, Christopher
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 171
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Heinrich Pohl, Geschichte und ihre Didaktik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Die Studie von Christopher Dowe besitzt alle Attribute einer wissenschaftlich weiterführenden, ja innovativen und handwerklich zugleich sehr soliden Dissertation. Sie wird die Forschung zur Geschichte des neuzeitlichen Bürgertums voran bringen. Der Autor setzt sich mit der Problematik auseinander, warum das (Bildungs-)Bürgertum im Kaiserreich im Allgemeinen und in der wissenschaftlichen Forschung im Besonderen geradezu konsensual als protestantisch und liberal beschrieben wird. Katholiken oder – wie der Verfasser definiert – kirchentreue Katholiken werden in der Regel nicht oder doch nur sehr peripher dem deutschen Bürgertum zugerechnet. Christopher Dowe geht hingegen von der Annahme aus, „dass es wichtige Gruppen gläubiger Katholiken gab, die dem Bildungsbürgertum angehörten und (die) zugleich einen Platz innerhalb des Katholizismus besaßen“ (S. 11). Ziel seiner Studie ist es, das bislang dominierende Bild über die „unbürgerlichen“ Katholiken im Kaiserreich zu korrigieren. Das ist eine klar formulierte und bereits auf den ersten Blick einleuchtende These. Eine These, die der Autor zum Teil mit starken Argumenten belegt.

Dowe untersucht in seiner empirisch gesättigten, systematisch aufgebauten und sach- und fachkundig argumentierenden Studie dieses wissenschaftliche „Vorurteil“, indem er sich mit den Vorstellungswelten, den kulturellen, ökonomischen und sozialen Praktiken, ganz allgemein: mit dem Leben von katholischen Akademikern (und partiell auch Akademikerinnen) auseinandersetzt. Dabei vergleicht er diese Positionen mit konkurrierenden innerkatholischen und innerbürgerlichen Lebensentwürfen. Auf diese Weise gewinnt er eine Kontrastfolie für den Grad der Bürgerlichkeit „seiner“ ausgesuchten Untersuchungsgruppe. Dieses Verfahren kann in weiten Bereichen sehr überzeugen.

Mit den katholischen Studierendenorganisationen, auf die er mit einiger Berechtigung zurückgreift, steht ihm ein soziales Ensemble innerhalb des deutschen Katholizismus zur Verfügung, an dem er aufgrund des reichen Quellenmaterials detailliert belegen kann, wie sich deren Selbstverständnis gestaltete, sich nach innen und außen darstellte, sich mit der Zeit veränderte. Dabei geht es um das Selbstverständnis als Katholiken, um Männer- und Frauenbilder, soziales Engagement, um Nationalvorstellungen und Geschichtsbilder und vor allem um das Verhältnis zu Religion, Wissenschaft und Kultur. Christopher Dowe versucht an diesen Bereichen darzustellen, welch verschiedene Milieus es innerhalb des deutschen Katholizismus gab. Dass er sich dabei ein soziales Ensemble ausgewählt hat, das am ehesten zum Bürgertum hin tendierte, ist legitim, muss aber bei einer Gesamtwürdigung des Katholizismus immer angemessen berücksichtigt werden.

Mit Hilfe dieser sozialen Gruppe versucht der Autor die besondere Offenheit des katholischen Milieus zu belegen. So arbeitet er vor allem das sich wandelnde (und öffnende) Frömmigkeitsverständnis heraus, versucht am sich verändernden Verhalten zu ausgewählten Problemen, dieses ein enges katholisches Selbstverständnis überschreitende und überwindende Verständnis zu verdeutlichen. Vor allem analysiert er das Verständnis von Wissenschaft und Kultur, ein Problembereich, der gerade für das Bildungsbürgertum zentrale Bedeutung besitzt, bei dem aber „die Katholiken“ als besonders „unbürgerlich“ gelten.

Mit diesem Ansatz, der Offenheit sucht und eben nicht von geschlossenen und in sich kohärenten Gesellschaftskreisen ausgeht, wendet sich der Verfasser dezidiert gegen das Lepsiussche (und von Karl Rohe verfeinerte und abgewandelte) Milieukonzept, das in den letzten Jahrzehnten die wissenschaftliche Diskussion weitgehend beherrscht hat. Er lehnt eine idealtypische Darstellung ab, die das gemeinsame, die inneren Konflikte überwölbende antiprotestantische und antibürgerliche Element des katholischen Milieus (über)betont, also auf die die verschiedenen Milieus trennenden Aspekte von Werten und Praktiken abzielt. Vielmehr schärft er den Blick für Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Milieus und vor allem für Elemente, die milieuübergreifenden bürgerlich-liberalen Charakter hatten. Dies scheint ein längst fälliger und – und wie Dowe verdeutlicht – durchaus fruchtbarer Ansatz zu sein.

Dowe belässt es nicht bei der Analyse eines „progressiven Segmentes“, also eines speziellen Ausschnittes kirchentreuer Katholiken. Im Schlussteil stellt er auch den Einfluss und die Ausstrahlungskraft dieser speziellen „bürgerlichen“ katholischen Schicht auf den Katholizismus insgesamt und auf die katholische Bevölkerung im allgemeinen dar. Vorsichtig und mit viel Fingerspitzengefühl argumentierend kommt er zu dem Ergebnis, dass man die Heterogenität des „katholischen Milieus“ insgesamt nicht hoch genug einschätzen könne, also die das Milieu überwindenden Kräfte keinesfalls vernachlässigen dürfe. Diese Kräfte seien deutlich stärker und aktiver gewesen als bislang in der Forschung angenommen. Damit korrigiert er ein bislang dominierendes Bild und festigt seine These von der „Bürgerlichkeit“ eines großen Teils des katholischen Milieus.

Methodisch ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Dowe mit seiner „Antimilieuschrift“ in der Argumentation an einigen Stellen – besonders dann, wenn es um allgemeine Schlussfolgerungen geht – etwas einseitig vorgeht. Ein solches Verfahren ist zwar nicht unüblich. Es führt aber zu einer gewissen Verzerrung in der Sichtweise, wenn die trennenden Elemente etwa zum politischen Liberalismus zu stark verkleinert werden. Die tiefen Gräben, die es zwischen Liberalismus, zweifellos dem politischen Träger des Bürgertums, und Katholizismus auch gab, werden nicht immer genügend gewichtet, obwohl sie niemals unterschlagen werden. Wer einmal die Auseinandersetzungen im badischen Wahlkampf zwischen Zentrum und politischem Liberalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgt hat, kann dort von den in dieser Studie partiell beschworenen gemeinsamen bürgerlichen Wurzeln in Katholizismus und Liberalismus nicht allzu viel wieder finden. Insofern stört auch ein wenig, dass jeder kleinste Hinweis auf „Offenheit“, Bürgerlichkeit und milieusprengende Tendenzen im Katholizismus ausgiebig dargestellt und geradezu triumphierend präsentiert wird. Die Entdeckerfreude soll zwar nicht geschmälert werden, aber so nahe, wie es der Verfasser manchmal (durchaus überzeugend) glauben machen will, standen sich die politischen Milieus nicht immer, auch wenn die aufgedeckten Trends zur Milieuüberwindung – das soll eindringlich betont werden – durchaus beachtlich sind und partiell sehr überraschen. Insofern betritt die Studie wirklich wissenschaftliches Neuland und stellt geliebte und feststehende Stereotypen der Forschung zumindest in Zweifel. Mehr kann man von einer wissenschaftlichen Erstlingsarbeit nicht erwarten.

Insgesamt handelt es sich also – trotz dieser wenigen kritischen Bemerkungen – um eine weiterführende, sorgfältig recherchierte akademische Arbeit zur Geschichte des Bürgertums, die in der Forschung hoffentlich die verdiente Aufmerksamkeit erhalten und der Bürgertumsdiskussion neuen Schwung verleihen wird, selbst dann, wenn das Thema im Augenblick nicht direkt im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung steht. Sie hat den Promotionspreis der Eberhard Karls Universität zu Recht erhalten.