Cover
Titel
Kultur. Theorien der Gegenwart


Herausgeber
Moebius, Stephan; Quadflieg, Dirk
Erschienen
Anzahl Seiten
568 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Fischer, Institut für Soziologie, Westfälische WIlhelms-Universität Münster

Nach dem „cultural turn“ in den Sozial- und Kulturwissenschaften entwickelten sich heterogene Theoriestränge, die sich zu einem „kulturtheoretischen Feld“ verdichteten und deren kleinster gemeinsamer Nenner in einem Interesse für die kulturelle Dimension des Sozialen bestehe. Diese Neuausrichtung der Kulturtheorie umfasse den Gesamtkomplex der von Menschen erzeugten Werte, Bedeutungen und Empfindungsweisen. So Moebius und Quadflieg in ihrem knappen Vorwort zu dem vorliegenden Buch (S. 9f.). Anliegen des Buches sei es, gegenwärtig diskutierte Theorien zusammenzuführen, bewusst über die Fachgrenzen hinaustreten und so ein Nachschlagewerk mit Überblicksbeiträgen und wertvolle Hinweisen für eine weitere Lektüre bereitzustellen (S. 12).

Merkmal des „cultural turns“ war aber auch, dass fortan die Gefahr bestand, einem holistischen Kulturansatz ins Messer zu laufen, der das, was bisher als gesellschaftliches oder soziales Phänomen gehandhabt wurde jetzt als kulturelles auffasst. Die Herausgeber wissen um dieses Problem und verteidigen deshalb einen differenzierten, disziplin- und theorieabhängigen Blick auf das Konstrukt Kultur. Gleichzeitig befürworten sie die Auffassung einer „Kulturtheorie als Heterotopie“, welche nunmehr in verschiedenen Räumen gebildet dennoch einen fachübergreifenden Theorieanspruch vertreten soll und aus jeweiliger Sicht etwas über das Phänomen aussagen will. Respekt gebührt ihnen vor diesem Hintergrund allemal, da sie im vorliegenden Sammelband durch den „Dschungel der Kulturtheorie“ eine Schneise schlagen, indem sie ohne Anspruch auf Vollständigkeit 44 Theoretiker/innen bzw. Theorieansatze von 48 Autor/innen vorstellen lassen. Erfreulicherweise stammen die Autor/innen sowohl aus den Reihen etablierter Wissenschaftler/innen als auch denen des wissenschaftlichen Nachwuchses. Die Zahlen lassen schon deutlich werden, dass mit dem Anspruch möglichst viele Theoretiker/innen aufzunehmen, selbst 580 Seiten schnell knapp werden und die Artikel kurz, teilweise spürbar zu kurz geraten.

Das Buch teilt sich in zehn Abschnitte mit Namen wie „Symbol-Diskurs-Struktur“, „Amor und Psyché“, „Kritik der Exklusion“ oder „Herausforderungen der Globalisierung“. Die unter dem Abschnitt „Dynamik der Kulturen“ zusammengefassten Aufsätze geben eine grobe Vorstellung von dem, was unter Heterotopie verstanden werden kann, denn hier werden so unterschiedlich Autoren wie Clifford Geertz, Gayatri Chakravorty Spivak und Samuel Huntington abgehandelt.

Die einzelnen Aufsätze stellen in der Regel kurz die Biografie des/er Wissenschaftlers/in vor und schließen meist mit einer kritischen Einschätzung zur Wirkungsgeschichte, Diskussion oder Anwendbarkeit der skizzierten Theorie ab. Nicht alle halten sich an diese Struktur. Dazwischen bleibt den Autor/innen weitgehend freie Hand und so kommt es mitunter zu gewollten oder ungewollten Fokussierungen, die ein Gesamtwerk auf einzelne Aspekte herunterzubrechen suchen. Dies gelingt erwartungsgemäß mal besser und mal schlechter, doch bedauerlich ist, dass nicht immer der Frage nachgegangen wird, was der einzelne Theorienentwurf zum Komplex der Kultur zu sagen hat. Vorbildlich wendet sich der Artikel zur Biologin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway nach einigen Absätzen über Cyborgs, feministischer Epistomologie und der Historizität der Natur-Kulturen der Frage zu, in welchen Kontexten bei dieser überhaupt von Kultur die Rede ist (S. 449). Andere greifen die Frage nicht explizit auf oder ignorieren sie vollständig. Das liegt mitunter daran, dass einige Theoretiker/innen sich nicht für Kultur interessieren, oder diese in ihrem Theoriegebäude keinen Platz beansprucht. Deleuze, so gesteht sein Referent gleich zu Beginn, stehe dem Diktum nahe, dass der Begriff der Kultur einer der schlimmsten sei, die je gebildet worden seien (S. 30). Immerhin gelingt es nachstehend dem Autor Deleuze' Theorie der Institutionen als Handlungsmodell kultureller Systeme herauszustellen und eine „negative Kulturtheorie“ als kontrafaktische Zukunftsperspektive erkennbar zu machen (S. 35). An diesem Beispiel zeigt sich, dass auch ein impliziter Kulturbezug Bausteine zu einer Kulturtheorie ermöglicht, während beim Text zu Roland Barthes, der in seiner „strukturalen Semiologie“ sprachliche Analysetechniken auf kulturelle Phänomene zu übertragen sucht, nicht ganz klar wird, was anzufangen ist, mit dem sich ständig neu zu ersetzenden und zu erfindenden Schiff „Argo“ (S. 17). Dass der „cultural turn“ aber eine Weiterarbeit an den Erkenntnissen des „linguistic turn“ ist, wird erkennbar daran, dass Ansätze der Literaturwissenschaften verallgemeinert werden und über ihren Fachkreis hinaus Gehör finden. So ist dies z.B. bei den Vertretern einer postkolonialen Literaturwissenschaft wie Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhaba, die differenztheoretisch auf das kulturelle Feld blicken.

In Baudrillard hingegen sieht das verantwortliche Autorengespann einen Kulturtheoretiker wider Willen. Er liefere: „Theorien an der Schnittstelle zwischen Soziologie, Philosophie und Kulturkritik, die ohne den Großteil der in der Soziologie üblichen Begrifflichkeiten, Konzeptualisierungen und Selbstreferentialitäten auskommen“ (S. 76), und die deshalb eher in Kunst, Kulturwissenschaft und Medienphilosophie Anerkennung fänden.

Für Niklas Luhmann, wer hätte anderes erwartet, ist der Begriff der Kultur ohne Belang. Den Großmeister der Systemtheorie in einen Band über Kulturtheorien aufzunehmen, bedarf daher schon einer besonders weiten Interpretation des Begriffs oder zeugt lediglich davon, dass die Herausgeber ähnlich wie auf den Namen Habermas, dessen Bezüge zur Kultur ebenfalls auf den ersten Blick nicht zu erschließen sind, auf Luhmann nicht verzichten wollten. Doch glücklicherweise dreht der Autor des Beitrages den Spieß um, lässt Luhmann als „Poet zivilklinischer Theorie“ selbst Bestandteil der Kultur werden und gibt neben einer treffenden Kritik des Begriffsrahmens gegenwärtiger Theorien eine praktische Handhabe der Systemtheorie. Die resignative Begriffsentscheidung Kultur, die fast krankhafte Verwendung des Kulturbegriffs verdränge die Gesellschaft aus dem sozialphilosophischen Denken und sehe so nicht, dass sich die sozialen Systeme erneut vom Menschen emanzipieren. „[D]ie Emanzipation der Gesellschaft vom Menschen als Voraussetzung dafür, dass der Sinnbegriff auch im 21. Jahrhundert noch Sinn macht, war einer der Grundmotive Luhmann'scher Arbeit.“ (S. 503)

Nicht immer wird also klar, was trotz breiter Saat zu ernten ist, nicht immer hat aber auch die Theorie einen expliziten (soziologischen) Zugriff auf das Phänomen der Kultur wie z.B. bei Clifford Geertz (symbolische Grundlagen der Kultur), Hans Georg Soeffner oder Shmuel Noah Eisenstadt (Sinngebung soziokultureller Phänomene in der Tradition Max Webers), oder Stuart Hall (Etablierung der Populärkultur). Der Punkt, an dem eine postmoderne Kulturtheorie allerdings selbst in (politisch motivierte) Kunst umschlägt, markiert das Beispiel Douglas Crimps. Im Gegensatz zur affirmativen Spielart des Postmodernismus bezeichne dieser für Crimp „jene künstlerische Praktiken, die sich kritisch gegen den bestehenden hegemonialen Modernismus wenden. Postmodernismus wird für Crimp zum Kampfbegriff in den politischen und sozialen Auseinandersetzungen“ (S. 405). Crimp bietet dennoch Schnittpunkte zu den ebenfalls besprochenen Theorien Frederic Jameson und zu Paul Willis, einem Vertreter der „Cultural Studies“.

Neben den bisher aufgeführten Ansätzen wären mit „Wissenschaftstheorie“, „Kapitalismuskritik“, „politisch intendiertem Kulturalismus“ oder „Poststrukturalismus“ nur ein weiterer Teil dessen genannt, was noch in den Sammelband aufgenommen worden ist. Ich überspringe daher eine weitere Auseinandersetzung mit den Spielarten der Kulturtheorie und leite über zur wichtigsten Frage, in der die oben geschilderte Intention des Buches anhand des Eindrucks der Lektüre zu prüfen ist. Als Gesamtwerk gelesen bestätigt sich der Verdacht, dass die noch im Vorwort beschworene Polarität der gegenwärtigen Kulturtheorien zwischen totalitätsorientierten sozial- und zeichentheoretischen Ansätzen auf der einen und differenztheoretischen Abgrenzungen zur Gesellschaftstheorie auf der anderen Seite zur ersten Seite spätestens dann verschoben wird, wenn die kulturelle Dimension des Sozialen als kleinster gemeinsamer Nenner nicht kenntlich gemacht wird und letztlich im jeweiligen sozialen Phänomen aufgeht. Kultur erscheint dann als Demokratie, Kapitalismus, Sprache, Subjektivität, die den Begriff und Gegenstand der Gesellschaft verschwinden lassen, wie sie aber gleichzeitig auch in ihren einzelnen Facetten als Alltags-, Cyborg- und Medienkultur auftritt. Das Unwohlsein wird aber gerade nicht durch die Qualität der Beiträge hervorgerufen, sondern durch deren mangelnde Systematisierung. Ein dreieinhalb-seitiges Vorwort nebst einer fragwürdigen Einteilung in Leitüberschriften ersetzen eine fundierte Auseinandersetzung mit den kulturellen Dimensionen moderner Gesellschaft keinesfalls und hätten zumindest ein Nachwort erfordert, welches die lose nebeneinander stehenden theoretischen Ansätze wieder in Beziehung zueinander setzt.

Als Nachschlagewerk fehlt dem Buch die lexikalische Strenge, die den/ie Autor/in des jeweiligen Aufsatzes dazu zwingt, die Theorie in den Kontext ihrer kulturtheoretischen Bedeutung zu stellen. Dies gelingt leider nicht immer, wird oft auch nicht intendiert. Ein Nachschlagewerk zur Kultur sollte lediglich Theorien und Autor/innen versammeln, die gemäß der ihm zugrunde liegenden Definition das Thema implizit oder explizit bearbeiten. Dies ist, wie geschildert nicht immer der Fall. Zudem scheint es zwar aus methodischen und formalen Gründen legitim, theoretisch umfassende Werke nur anhand eines Aspektes zu betrachten, wie dies beispielsweise im Fall von Bourdieu geschehen ist. Es widerspricht aber dem Charakter eines Nachschlagewerkes. Auch wenn sich so die kulturellen Bezüge deutlicher aufzeigen lassen, sollte es doch Ziel sein, einen Einblick oder Überblick über das theoretische Werk im Fokus auf Kultur zu geben, der den Leser/innen die Lektüre eines weiteren Nachschlagewerkes erspart. Als Orientierungshilfe wären zu guter letzt die Literaturlisten um einführende Literatur zu Autor/in und Werk zu ergänzen. Bleibt also die Frage nach dem Nutzen eines Buches, das dem unübersichtlichen Kultur-Diskurs zwischen den Disziplinen eine scheinbar willkürliche Aufzählung entgegensetzt, wo doch Ordnung von Nöten wäre.

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