Cover
Titel
Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58


Autor(en)
Herzberg, Guntolf
Erschienen
Anzahl Seiten
728 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Schultze, Brandenburg

Die Frage, warum es so schwierig oder gar unmöglich ist, Diktaturen (grundlegend) zu reformieren, beschäftigt die Wissenschaft seit geraumer Zeit. In den 1950er-Jahren gab es in den Ländern des „Ostblocks“ verschiedene und Erfolg versprechende Initiativen den Stalinismus abzuwerfen: In Polen, Ungarn, in der Tschechoslowakei. Doch wie war die Lage in der DDR? Herzberg geht in seinem Buch „Anpassung und Aufbegehren“ dieser Frage nach und zeigt am Beispiel der Intelligenz der DDR die großen Chancen, die das Jahr 1956 für die Intelligenz bot, und warum diese dennoch nur zaghaft genutzt und letztlich vertan wurden. Über die Bevölkerung der DDR in den Krisenjahren 1953/56 und 1958 ist viel geschrieben und geforscht worden, nun also soll das Verhalten der Intelligenz einer umfassenden Untersuchung unterzogen werden. Die Aufgabe, die Herzberg damit gestellt hat, ist facettenreich und verwickelt.

Herzberg gliedert sein über 700 Seiten starkes Buch in vier große Teile: Teil I „Politisches Geschehen und Verhalten der Intelligenz“, Teil II „Die öffentlichen theoretischen Auseinandersetzungen 1956/58“, Teil III „Das Verhalten von Intellektuellen in der Krise“ und schließlich Teil IV „Die Niederlage der Intelligenz“. Aufgrund der Komplexität des Themas erstreckt sich denn auch die Einleitung über die ersten fünfzig Seiten des Buches (S. 11-58). Herzberg stellt zunächst sein wissenschaftliches Anliegen klar: „Es geht in diesem Buch um die Krise der Intelligenz, nicht um einzelne Intellektuelle. Dabei geht es um die Intelligenz in der Krise und die Krise in der Intelligenz.“ Er muss sehr genau mit den von ihm definierten Begriffen arbeiten, um der Intelligenz und dem Zeitgeschehen gerecht zu werden, aber auch um Ambiguitäten zu vermeiden.

Um den Spielraum, den ein Intellektueller in der Diktatur besaß, zu kennen, ist es notwenig, die Sprache der Diktatur zu verstehen. Wer sie nicht verstand oder nicht beherrschte, geriet schnell in den Verdacht der Abweichung oder der „Konterrevolution“. Hierin liegt auch einer der Gründe, warum es 1956/58 trotz der vielen Proteste gegen die fehlende Demokratisierung unter Ulbricht nur wenige alternative Entwürfe gab. Guntolf Herzberg nennt dieses Phänomen „verzerrte Kommunikation“ (S. 20) zwischen Staats- und Parteiführung und der Intelligenz, „mit dem er alle Schattierungen zwischen Konsens und Dissenz sowie die verschiedenen Verhaltensweisen der Intelligenz aufzudecken und verständlich zu machen versucht“ (Klappentext). Damit unternimmt Herzberg den Versuch, die Gesamtheit der Intelligenz zu betrachten, „um ein Bild ihrer Situation, ihres Denkens und Handelns zu bekommen, ohne allzu stark zu extrapolieren“ (S. 54). Doch die Dürftigkeit der Quellenlage macht dieses Ansinnen nicht umfassend durchführbar.

Die ersten Kapitel des ersten Teils beschäftigen sich mit den Ereignissen des 17. Juni 1953 und der Intelligenz der DDR (S. 61-120), sowie den Auswirkungen des XX. Parteitages der KPdSU auf Osteuropa (S. 122-134). Letzteres ist insbesondere notwendig, um durch den Vergleich mit den Ereignissen der Krisenjahre in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei ein Bild von den Möglichkeiten zu erhalten, die die Verhältnisse der Intelligenz boten. Auch wenn letztlich alle Bemühungen in diesen Staaten zerschlagen wurden, sieht man doch, dass es gewisse Chancen der Veränderung gegeben hat. In der DDR, deren Führung für kurze Zeit Schwächen zeigte, blieben sie ungenutzt. Anhand der Kapitel des ersten Teils, der sich mit dem Zeitraum vom Juni 1953 bis zum Juli 1958 auseinandersetzt, vollzieht Herzberg den Aufbruch der Intelligenz in die Entstalinisierung nach: ihre Hoffnungen auf Entdogmatisierung und Reformen sowie nicht zuletzt auf wissenschaftliche Freiheit. Er beschreibt diese Vorgänge bis zum Ende dieser Hoffnungen, die durch den Kampf der SED gegen den „Revisionismus“ und das Erstarken Ulbrichts ein Ende fanden. Daran schließt sich die Darstellung der Repressionen in der ganzen Bandbreite der Möglichkeiten einer Diktatur an (S. 370-398). Es gelang der ostdeutschen Intelligenz nicht, entscheidende Anstöße zu geben, um nach dem XX. Parteitag den Stalinismus allenthalben zu überwinden. Ulbricht ging im Gegenteil am Ende gestärkt aus den Krisen hervor. Möglich wurde dies auch dadurch, weil die Intelligenz in der Öffentlichkeit nicht viel auf sich aufmerksam machte, ja sich „still und angepasst gezeigt hat“ (S. 249). Auch von den Universitäten führte kein Weg in die Öffentlichkeit – auf Hilfe aus der Bevölkerung war daher also nicht zu rechnen und die Führung konnte die „Unruheherde“ in der Intelligenz alsdann in Ruhe beseitigen.

Teil II des Buches eröffnet Guntolf Herzberg mit der Freiheitskonferenz der AdW (März 1956). Dieser Darstellung folgen Kapitel über mehrere exemplarische Artikel, etwa über Kuczynski, Havemann, Harich und die Wirtschaftswissenschaftler Behrens, Benary und Kohlmey (S. 413-473). Teil III beleuchtet die Motive der betroffenen Intellektuellen in der Krise sowie die Formen und Mittel der Auseinandersetzung (S. 617-649).

Die Niederlage der Intelligenz bildet den Kern der abschließenden Betrachtungen Herzbergs. Trotz aller Strafen und anderer Maßnahmen gegen die Intelligenz nach und vor 1958 konnte auch die DDR nicht auf ihre Intelligenz verzichten – natürlich wusste das auch Ulbricht. Er sah in ihnen ein Vehikel um seine Vorstellungen von der Erziehung des sozialistischen Menschen umzusetzen. Dass sich die alte Intelligenz größtenteils dagegen wehrte (oder sich nicht angepasst verhielt) war ein Dorn in Ulbrichts Auge. Die junge neue Intelligenz hingegen konnte sich kaum der ideologischen Beeinflussung – durch „Schulungen, ML-Nachweise und Bekenntnisse“ – widersetzen (S. 666). Nach Guntolf Herzberg war die DDR eine Erziehungsdiktatur (ebd.): Eines der am meisten benutzten Wörter aller offiziellen Reden und Dokumente hieß nicht von ungefähr Erziehung. Herzberg macht an diesem umfassenden Anspruch der Staats- und Parteiführung letztlich das Scheitern der Politik Ulbrichts fest: Dort wo weder Kommunikation noch „verzerrte Kommunikation“ (aber eben kein Dialog) stattfindet, ist ein produktiver Austausch zwischen Volk (hier Intelligenz) und Staatsmacht und somit auch eine Reform nicht möglich. Der überwiegende Teil des Buches beschreibt das Verhalten der künstlerischen Intelligenz, besonders der Schriftsteller und Dichter – das „Gewissen des Volkes“. Die naturwissenschaftliche und technische Intelligenz kommt eher etwas zu kurz. Das war sicherlich der Quellenlage geschuldet und der Tatsache, dass sich diese Gruppe „loyaler“ im Sinne der SED verhielt. Als Fazit bleibt, dass von diesem „Gewissen des Volkes“ (S. 679) in den Krisenjahren nur Flüstertöne zur Änderung der Lage zu hören gewesen seien. Um eine wirkliche Veränderung der Zustände zu erreichen, habe dies bei weitem nicht ausgereicht. Oppositionelle Haltungen bei den Schriftstellern ließen sich nicht entdecken, wie man auch im Ganzen nicht von Opposition oder Widerstand der Intelligenz in diesen Jahren sprechen sollte, befindet Herzberg. Nach der Lektüre des Buches stellt sich allerdings die Frage, ob man beim Verhalten der Intelligenz in den Krisenjahren nicht von angepasstem Aufbegehren sprechen kann. Denn sie hatte von der SED nicht viel gefordert und noch weniger erreicht; aber ein Zeichen wurde immerhin gesetzt. Für wirkliche, tief greifende Veränderungen fehlte der Intelligenz die Macht.

Herzberg ist es mit dieser Untersuchung gelungen, durch klare Begriffsbestimmungen sowie durch die These der „verzerrten Kommunikation“, Situation, Verhalten und Spielraum der Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58 nachzuvollziehen.

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