G. Hartung u.a. (Hgg.): Weltoffener Humanismus

Titel
Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-jüdischen Emigration


Herausgeber
Hartung, Gerald; Schiller, Kay
Reihe
Edition Moderne Postmoderne
Anzahl Seiten
219 S.
Preis
€ 25,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Bohr, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Der Kulturphilosoph Gerald Hartung (Leipzig) und der Historiker Kay Schiller (Durham) haben unter dem Titel "Weltoffener Humanismus" insgesamt elf Studien über die Wechselwirkung von deutsch-jüdischer Emigration und der philosophischen, philologischen und historischen Forschung einiger ihrer Protagonisten herausgegeben. Dieses methodisch erstrangige und innovative Buchprojekt ist, inspiriert von Helmuth Lethens Verhaltenslehren der Kälte (1994), systematisch angelegt und vorbereitet in Schillers Veröffentlichung Gelehrte Gegenwelten (2000) sowie durch Hartungs "Das Maß des Menschen" (2003) kulturphilosophisch und wissenssoziologisch fundiert.

Die Beiträge des Buches sollen die These untermauern, dass die Form der Gelehrsamkeit in einem signifikanten Maß sowohl als Antwort auf die individuelle Lebenssituation als auch als Produkt einer Suche nach "emblematischen Denkmodellen" für die Bewältigung von existentiellen Fragen verstanden werden muss, wenn die genannte Gelehrsamkeit vor dem Hintergrund der Vertreibung und Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland gesehen wird. Die Funktion der Gelehrsamkeit steht daher vor ihren konkreten Inhalten und Themen im Mittelpunkt. Darüber hinaus aber ist die Forschergruppe der Meinung, dass in diesen zunächst partikularen Bewältigungsversuchen zugleich Elemente einer Theorie der Moderne enthalten sind, die eine adäquate Reflexion auf die Extreme der Moderne fördern will, "seien sie nun sozialer, politischer oder weltanschaulicher Natur" (S. 7f.). In dieser zweiten These liegt die methodische Anlage des Buches begründet, denn obwohl die einzelnen Beiträge im Titel jeweils eine/n Helden/in führen, so verharren sie doch nicht beim Individuellen, sondern stellen das Generalisierbare an den Lebens- und Wissenschaftsentwürfen heraus, indem sie ihre Protagonisten in einen sozialen Gruppenzusammenhang stellen, nämlich den der "deutsch-jüdischen Gelehrten". Die Kohärenz dieser auf den ersten Blick heterogenen Gruppe wird durch den humanistischen Impetus im Werk ihrer Vertreter hergestellt, die die Krise der Moderne nicht nur konstatieren, sondern vor allem überwinden wollen, sodass sie ihre Leser/innen bis heute dazu auffordern, "die Pluralität der Denkansätze und die Weltoffenheit ihrer humanistischen Entwürfe" nicht nur als "Erbschaft einer zurückliegenden Epoche" zu betrachten, sondern sie als aktiven Anstoß dafür zu nehmen, selbst und stets aufs Neue "die theoretischen Fundamente moderner Kultur kritisch zu überprüfen." (S. 12)

Es geht um Karl Mannheim, Karl Löwith, Ernst Cassirer, Werner Jaeger, Arthur Liebert, Helmuth Plessner, Paul Kristeller, Leonardo Olschki, Siegfried Kracauer, Hannah Arendt und – als "innerem Emigrant" – Karl Jaspers, jeweils als Beispiele für eine Denkform, die den Herausgebern zufolge ‚weltoffener Humanismus’ genannt zu werden verdient (S. 10f.). Damit ist auch deutlich gemacht, dass eine Vollständigkeit der Namen und Werke nicht im Bemühen dieses Projektes zu liegen braucht.

Die Beiträge des Buches stehen in einer programmatischen Reihenfolge, so bildet Hartungs eröffnender Aufsatz über Karl Mannheim und die Wissenssoziologie zugleich die wissenssoziologische Fundierung des gesamten Projektes, denn der Ausgangspunkt Mannheims besteht in der "Feststellung einer 'Faktizität' [...] der Seinsverbundenheit" des Denkens. "Dies meint, daß der Prozeß des Denkens nicht von einer inneren 'geistigen Dialektik angetrieben wird, sondern das außertheoretische Faktoren - sog. 'Seinsfaktoren' - das Entstehen und die Gestaltung des jeweiligen Denkens bestimmen; zweitens kommt hinzu, daß diese Faktoren keineswegs von 'bloß genetischer Relevanz' sind, sondern daß sie die 'Aspektstruktur' [...] einer Erkenntnis bestimmen." (S. 22) "So gesehen", so Hartung zusammenfassend, "ist die moderne Kultur eine unvorgreifliches Experiment, insofern der Verlust von Herkunft, Tradition und Seinsbasis von uns als Chance begriffen wird, uns in einem immer neu zu konstituierenden Sinnhorizont unseres Lebens einzurichten." (S. 34)

Der darauf folgende Beitrag des Literaturwissenschaftlers Martin Kagel (Athens/ USA) rührt am Beispiel der geschichtstheoretischen und autobiografischen Arbeiten Löwiths noch einmal an der theoretischen Basis des Buches, denn Löwiths Werk erscheint vor dem Hintergrund der leitenden Thesen eigenartig unberührt von der persönlichen Katastrophe: Durch die Kontinuität des Werkes im Kontrast zum Bruch im Leben "wird die Annahme einer mehr oder minder direkten Übertragung aus dem biographischen in den theoretischen Bereich grundsätzlich zur Debatte gestellt" (S. 37). Bei näherem Hinsehen zeigt sich für Kagel aber an Löwith deutlich, dass dieser offenbar nicht geneigt war, sich auch als Philosoph dem Faktischen zu beugen, wenn er es denn schon als Privatmann gezwungen war. Aus dem Werk Löwiths lässt sich daher lernen, dass die Abwendung von der Tagespolitik nicht in jedem Fall Ausdruck einer 'Verdrossenheit' sein muss, sondern auch Ausdruck einer "lebenslangen Skepsis des Philosophen gegenüber umfassenden Erklärungsmodellen historischer oder politischer Natur" sein kann (S. 41) – im Falle Löwiths schließlich mit dem Ziel, den Menschen von politischer Unterwerfung freizustellen.

Herbert Kopp-Oberstebrink (Berlin, Philosophie) zeigt am Beispiel von Ernst Cassirer, wie die Kontinuität des Werkes angesichts persönlicher Bedrohung eigens konstruiert werden muss, wenn denn diese scheinbare Kontinuität des Denkens und Schreibens als "lebensweltliche Überlebensstrategie des Individuums" herhalten soll. (S. 53) Das autorisierte Werk Cassirers zeigt die Brüche und die Konstruktion von Kontinuität daher nicht, wohl aber die nachgelassenen Schriften, die Kopp-Oberstebrink auf ihre Zäsuren und Neuansätze hin untersucht. Dabei sind weniger die politischen Stellungnahmen Cassirers, wie "The Myth of State" (1946) interessant, sondern vielmehr Cassirers unveröffentlichtes Manuskript Geschichte (Göteborg 1936) mit seinem Zentralbegriff der Erinnerung. In diesem Manuskript, das erstmals in seinem Werk überhaupt 'Geschichte' als eigenes Vermittlungsmedium von Wirklichkeit thematisiert, gibt Cassirer gewissermaßen das Modell für das Forschungsprojekt Hartungs und Schillers vor, denn "im Kontrast zu seiner früheren reinen Problemgeschichtsschreibung rückt Cassirer nun das Verständnis der Entstehungsbedingungen philosophischer Werke in das Zentrum seiner methodologischen Überlegungen, insbesondere das Verständnis der Zusammenhangs zwischen Denkerpersönlichkeit und Werk:" (S. 60) Daher sind auch die Texte der Philosophen, so Cassirer, "nicht einfach ein Gegebenes, sondern ein historisch 'Aufgegebenes' – ein durch die Methoden der Philologie u[nd] Kritik erst zu Rekonstruierendes". (S. 62) In systematischer Hinsicht versteht Cassirer Geschichte schließlich als symbolische Form, als "Organon" der Selbsterkenntnis, deren Aufgabe die "fortschreitende Selbstbefreiung des Menschen" sei – insofern nicht ganz unähnlich der Position Löwiths.

In seinem Aufsatz über den Altphilologen Werner Jaeger entwickelt Schiller in knapper Form seine These von den "Gelehrten Gegenwelten" der 1920er- und 1930er-Jahre, die "Muster aus der Geschichte als Antwort auf eine krisenhaft erlebte Gegenwart" propagierten und zeigt zugleich, dass solche "emblematischen Modelle der Selbstbesinnung", wie im Falle Jaegers ein an der griechischen Antike inspirierter "Dritter Humanismus" oder ein "christlicher Humanismus unter den Bedingungen der industriellen Moderne", immer auch die Gefahr bergen, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Die Dialektik des Jaegerschen Humanismus liegt in seiner Deutung als Menschenerziehung und Menschenauslese und gibt in Gestalt der Vorstellung einer Geistesaristokratie stillschweigend die Opfer bekannt. Die 'Freiheit eines Christenmenschen' darf eben nicht mit der Freiheit schlechthin verwechselt werden.

Reinhard Mehrings (Berlin, Politikwissenschaften und Philosophie) Rekonstruktion und Aufbereitung der Biografie Arthur Lieberts ist als Ergebnis biografischer Forschung höchst verdienstvoll und verdient es, sofort in die einschlägigen Philosophenlexika aufgenommen zu werden. Mehring selbst weist die Dringlichkeit eines solchen Eintrages plausibel nach, indem er Lieberts herausragende Bemühungen um die Organisation der philosophischen Forschung herausstellt. Mehrings Beitrag verbleibt jedoch in den Grenzen der Biografik und trägt daher zum Nachweis der Thesen des vorliegenden Buches nur wenig bei – wohlgemerkt, des vorliegenden, wovon sein eigener Wert jedoch ganz unberührt bleibt.

Die Historikerin Carola Dietze (Gießen) gelingt es im Zentrum des Buches, die Frage nach den autobiografischen Implikationen von Plessners 'Meistererzählung' "Die verspätete Nation" (1959) bzw. "Schicksal deutschen Geistes" (1935) wiederum mit einer methodischen Anleitung zu verknüpfen. Sie will das Plessnersche Werk als historisches Dokument interpretieren. Damit führt sie zugleich die Methode vor, wie die behauptete Wechselwirkung von Werk und Leben mit historischen Mitteln zu untersuchen ist, nämlich als Verknüpfung der Kenntnisse aus Biografie und der Kenntnis des Werkes. Nur so können überhaupt die Grundlagen zu einer Rekontextuierung gelegt werden.

Warren Boutcher (London, Anglistik) wendet die Ausgangsfragen des Forschungsprojektes 'Weltoffener Humanismus' gewissermaßen ins Nachhinein, indem er die Frage stellt, ob es für die Rezeption eines Werkes einen Unterschied macht, wenn die Leser/innen die Lebensgeschichte der Autoren/innen kennen. Für Paul Kristeller und sein Werk über Ficino muss er dies entschieden bejahen, denn Kristeller schönte die Übersetzungen seines Buches und verschwieg, dass er Heidegger-Schüler war, um u.a. in der amerikanischen Wissenschaft Schwierigkeiten zu vermeiden. Damit stellte er ein Image von sich her, das erst noch durch die Biografik berichtigt werden muss, um sein Werk angemessen interpretieren zu können.

Wie Kristeller, so emigrierte auch der Romanist Leonardo Olschki über Italien in die USA. Anke Dörner (Berlin, Romanistik und Geschichtswissenschaft) zeigt an Olschkis Veröffentlichungen über Galilei, wie das Erlebnis der Vertreibung zu einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein sublimiert werden kann, in dieser Hinsicht ähnlich den Vertretern der Frankfurter Schule im Exil, die jedoch früher als Olschki von dem Wunschbild abrückten, in den USA ein 'besseres Europa' bewahren bzw. etablieren zu können. Olschkis Bild der italienischen Renaissance war – tragischerweise – diametral dem der US-amerikanischen Renaissanceforschung entgegengesetzt. Die Tragik bestand nicht zuletzt darin, dass Galilei für Olschki als Identifikationsfigur diente, die stellvertretend die eigene Identitätskonstruktion verteidigen sollte – Galileis besondere historische Stellung gegen die amerikanische Wissenschaftsmeinung zu verteidigen bedeutete für Olschki wesentlich Selbstverteidigung.

Aus Siegfried Kracauers Filmtheorie arbeitet die Kulturwissenschaftlerin Tara Forrest (Sydney) den Grundbegriff der Extraterritorialität heraus, der für Kracauer selbst schon über seine Filmtheorie in eine Geschichtstheorie hinausweist, und, darin liegt ein Nachweis der Verknüpfung von Leben und Werk, auch dem Lebensmodus des Exils generell eignet.

Ludger Schwarte (Berlin, Philosophie und Theaterwissenschaft) zeichnet in seinem Beitrag über Hannah Arendt deren Bemühen nach, Geschichte als Lehre für politisches Handeln zu interpretieren. Dabei hat auch die Biografie eine wichtige Stellung als Mittel, dem eigenen Leben Struktur und Halt zu geben. Die Germanistin Suzanne Kirkbright (Birmingham) knüpft an Schwartes Ausführungen an und ergänzt sie mit Karl Jaspers, dessen und Arendts Humanismus letztlich darin besteht, dass beide nachzuweisen versuchen, dass "man can still be the author of his destiny" – und zwar abgesehen und unberührt von allen Anfechtungen durch politische oder existentielle Krisen. So lautet der hoffnungsvolle Schluss des Buches, der allerdings noch auf seine Umkehrung hin, nämlich dass es erst die Krisen sind, die den Menschen zum Schöpfer seiner Selbst in einem bewusst aktiven Sinn machen, überprüft werden müsste.

In der Überschau lässt sich dem sorgfältig redigierten Buch (auf 222 Seiten überhaupt nur ein Druckfehler) kein Mangel und kein Desiderat über die an Ort und Stelle genannten hinaus nachsagen, abgesehen vielleicht von dem Wunsch, dass die biografischen Auskünfte über seine Autoren/innen gemäß den zugrunde liegenden Thesen hätten ausführlicher ausfallen können. Die methodischen Prämissen sind mustergültig vorgeführt und durchgehalten. Aus diesem Grunde bleibt die Kohärenz und Plausibilität der Einzelstudien völlig unberührt von der Tatsache, dass ihre ersten Ausformungen im Zusammenhang einer Tagung standen – ein redaktionelles Ergebnis, dass sich für viele andere sogenannte 'Tagungsbände' nicht einstellt.

Der avisierte kulturtheoretische Ertrag liegt einerseits in der methodischen Anlage des Buches, die über die Einzelstudien kongenial gestützt und weitergeführt wird, sowie in der Verdeutlichung von Grundbegriffen (z.B. Seinsgebundenheit vs. Seinsentbundenheit des Denkens, die Aufgabe der Sinnstiftung, Erinnerung als Rekonstruktion, die Konstruktion von Identität und Kontinuität, Selbstbefreiung angesichts der Krise, emblematische Modelle der Selbstbesinnung, Gegenwelten, Extraterritorialität), die die weitere Forschung anleiten können – sowohl die Forschung über die im Einzelnen besprochenen deutsch-jüdischen Gelehrten als auch die Exilforschung in allgemeiner Hinsicht. Es handelt sich nicht zuletzt auch um ein Projekt der Aufklärung für jegliche Krisenbewältigung.

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