H.W. Heister (Hrsg.): Antimoderne, Faschismus, modernisierte Reaktion

Titel
Antimoderne, Faschismus, modernisierte Reaktion. Die Ambivalenz der Moderne, Band 1


Herausgeber
Heister, Hanns W.
Erschienen
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Riccardo Bavaj, Department of Modern History, University of St Andrews

Um es gleich vorwegzunehmen: Wer angesichts des Titels vermutet, hier gehe es um einen Sammelband, der rechtsextreme Ideologien und Regime wie den Nationalsozialismus oder den italienischen Faschismus auf ihr Verhältnis zur Moderne befrage, sieht sich enttäuscht. Es finden sich zwar vereinzelte Gedankensplitter zu diesem Themengebiet; die Begriffstrias „Antimoderne, Faschismus, modernisierte Reaktion“ steckt hier aber ein so weites Feld ab, dass man nach der Lektüre der 17 Beiträge verwundert nach den Grenzen des erkundeten Terrains fragt. Das dreiseitige Vorwort liefert jedenfalls keinen Kompass. Und eine Einleitung, normalerweise die obligatorische Orientierungshilfe eines jeden Sammelbandes, sucht man vergebens. So müssen sich die Leser/innen allein durchschlagen – durch schwer kartografierbares Gelände.

Die Reise beginnt mit dem Vorwort des Herausgebers. Der Musikhistoriker Hanns-Werner Heister, in den 1980er-Jahren als Mitherausgeber eines aufschlussreichen Sammelbandes zur Musik im Nationalsozialismus hervorgetreten 1, wirft die Frage auf, „inwieweit es im Faschismus [gemeint ist das ‚Dritte Reich’] neben den vorherrschenden anti-modernen Tendenzen Modernes gab“ (S. 11). Ohne dieser Frage dann weitere Beachtung zu schenken, geht er rasch zu seinem Plädoyer über, das allgemeinerer Natur ist. Entgegen dem übergeordneten Buchtitel „Die Ambivalenz der Moderne“ plädiert er dafür, an der „grundsätzlich positiven Bewertung der Moderne“ festzuhalten, ja den Modernebegriff vielleicht sogar durch einen „universalen Begriff von Fortschritt“ zu ersetzen. Anstatt sich eines „technizistisch, kulturalistisch oder ästhetizistisch verengten Moderne-Begriffs“ zu bedienen, solle man „lieber gleich von universellem, multidimensionalem Fortschritt, von Befreiung und Emanzipation sprechen“ (S. 13). Ob dieses Statement hilft, die von Heister anfangs aufgeworfene Frage zu beantworten, ist fraglich. Für die Beiträge des Sammelbandes bleibt es jedenfalls folgenlos.

Ebenso folgenlos bleiben Wolf-Dieter Gudopp-v.Behms philosophisch-begriffsgeschichtliche Überlegungen zur Frage „Was heißt ‚modern’?“. Das ist eigentlich schade, denn seine Reflexionen gehören zu den Lichtblicken des Bandes. Solide informiert er über die historischen Bedeutungsverschiebungen des Modernebegriffs: von der vielzitierten „Querelle des Anciens et des Modernes“ Ende des 17. Jahrhunderts, die den in der Renaissance maßgeblichen Vorbildcharakter der Antike allmählich verblassen ließ und damit dem heutigen Moderneverständnis den Weg ebnete, über den hundert Jahre später zu beobachtenden Durchbruch eines Denkens, das ganz von der Einsicht in die Kontingenz alles Gewordenen geleitet ist, bis hin zu Max Webers „okzidentalem Rationalismus“ und seine modernitätsskeptischen Betrachtungen über die „Entzauberung der Welt“ und die Durchsetzung zweckrationaler Berechnung. Dass Gudopp-v.Behm von da aus die Brücke zu Martin Heideggers Modernitätskritik schlägt, ist zwar nicht zwingend, fügt sich aber durchaus in das vom Buchtitel evozierte Beziehungsgefüge ein.

Von diesen philosophischen Höhenkammwanderungen geht es dann in die Tiefe historischer Empirie hinab. Hans-Ernst Mittigs vergleichender Beitrag zu Bücherverbrennungen im Dritten Reich und den NS-Ausstellungen „Entartete Kunst“ und „Entartete Musik“ führt allerdings eher in Untiefen. Nicht nur, dass zu diesem Thema schon Gehaltvolleres publiziert wurde, Mittig lässt sich auch zu ebenso schiefen wie gänzlich unvermittelt auftauchenden Vergleichen hinreißen: etwa zwischen nationalsozialistischem Rassismus in der Ausstellung „Entartete Kunst“ und „abfälligen Äußerungen“ deutscher Politiker Ende der 1980er-Jahre „über die Fähigkeit Schwarzer [...], sich selbst zu regieren“ (S. 72). Weshalb der Autor seinen Beitrag dann mit einem wortreichen Warnruf beschließt, das einstige Stigma „entartet“ heutzutage nicht automatisch in ein Gütezeichen für hochwertige Kunst umzuwerten, erschließt sich nicht unmittelbar. Überhaupt fragt man sich ein ums andere Mal, worum es dem Autor in seinem Beitrag eigentlich geht. Eher kryptisch wirken Sätze wie: „Heutige Stellungnahme verfehlt ein noch wichtiges Ziel, wenn sie bloß auf ein Rehabilitieren und Wiedergutmachen zielt, aber von den rassistischen und militärischen Perspektiven schweigt“ (S. 75).

Doch so kurvenreich Mittigs Gedankengänge auch sind, sie sind nichts gegen die Volten, welche die Abfolge der Beiträge schlägt. Unversehens findet man sich nämlich auf den folgenden acht Seiten im Portugal António Salazars wieder. Thema: Das Fach „Chorgesang“. Maria José Artiaga meint, dass der Chor eigentlich das perfekte Mittel gewesen sei, „um musikalisch das Auslöschen des einzelnen planmäßig durchzuführen“. Das sei aber nicht geschehen, weil „das Fach langsam an Gehalt verlor [...], seine Stellung im Lehrplan [...] immer mehr eines praktischen Sinns entleert“ wurde und der Chorgesang „seine missionarische und ‚zivilisierende’ Rolle nicht mehr spielen“ konnte (S. 87). Man sinnt diesen Schlusssentenzen noch nach, da ist man urplötzlich Zeuge des musikhistorischen Versuchs, in die Diskussion um Richard Strauss’ 1924 uraufgeführte Oper Intermezzo „einige bislang unbeachtete Aspekte einzubringen“ (S. 90). Katharina Hottmann bemüht sich hier um den Nachweis, der Komponist sei bei aller Modernität im Einzelnen doch alles in allem ein Mann von Gestern gewesen. Und anschließend kümmert sich Gerhard Splitt um die Rezeption einiger später Strauss-Opern „vor und nach 1945“, um mit dem Fazit zu schließen, dass es zwischen dem künstlerischen Schaffen des deutschen Komponisten und der „offiziellen reaktionären Ästhetik“ des Nationalsozialismus „partielle geistige Kongruenzen“ gegeben habe (S. 114).

Die folgenden drei Beiträge von Sophie Fetthauer, Sonja Neumann und Almuth Püschel haben zum Thema Modernismus versus Antimodernismus zwar nur wenig zu sagen, dafür präsentieren sie aber die Ergebnisse eigener Archivstudien: zu „Arisierungen“ von Musikverlagen im „Dritten Reich“, der kommunalpolitischen Förderung des Münchner Musiklebens in der NS-Zeit sowie zur staatlichen Filmkontrolle in der Weimarer Republik. Das alles ist zumeist gut recherchiert, doch mangelt es teilweise an einer leitenden Fragestellung oder, mit Blick auf Püschels Aufsatz, an Deutungsansätzen, die vielversprechender sind als die Untersuchung der „herrschenden Klassen Deutschlands“ (S. 181).

Nach diesen Ausflügen in die empirischen Gefilde akribischer Archivarbeit geht es dann wieder ums Ganze. „Faschismus gleich Antimoderne?“, fragt etwa Joachim Radkau und nimmt die Leser/innen auf eine von spontanen Assoziationen geleitete Achterbahnfahrt mit: immer mal wieder vorbei an Max Weber, hinauf zu den bekannten Thesen Turners, Dahrendorfs, Schoenbaums und Zitelmanns, sowie hinab in die Niederungen historischer Begriffsbestimmung. „Modernisierung“ ist für Radkau „am eindeutigsten [...] auf ganz trivialer, alltagstechnischer Ebene – [...] als Konglomerat von Elektrizität, Telefon, fließendem Wasser, WC, heute PC, und natürlich dem Auto“ (S. 191f.). Anschließend erfährt man, dass das NS-Regime „auf seine Art ‚Kultur’ offenbar sehr wichtig genommen“ habe, und dass es berechtigt sei, „wenn auch wir auf unsere Weise die NS-Kultur wichtig nehmen“ (S. 192). Das tut Radkau auch und entlarvt eine „unaufgelöste kulturelle Spannung“ als den „springenden Punkt bei dem kulturellen Fundament des Nazismus“ (S. 193). Allerdings, so schließt der Autor, sei der „Faschismus“ primär ein politisches Phänomen und müsse „als solches bekämpft werden“ (S. 195).

Nach diesen etwas sprunghaften Impressionen führt Reinhard Kühnl seine Leser/innen auf den „deutschen Sonderweg“ und erörtert die „politische und geistige Vorgeschichte des deutschen Faschismus“. Bis an den Zweiten Weltkrieg reicht Kurt Pätzolds Papier heran, das acht Thesen zum Jahr 1938 aufstellt. Anschließend bekämpft Gerd Wiegel apologetische Tendenzen in der Debatte um Modernisierungstrends im Nationalsozialismus und versucht einer drohenden „Nivellierung der deutschen Vergangenheit“ entgegenzuwirken (S. 225). Friedrich Tomberg zeigt, weshalb Hitlers „Aufstand gegen die Moderne“ und „gegen die objektive Tendenz der Geschichte“ scheitern musste, und ist der Ansicht, dass der Diktator „der stärksten Drogen“ bedurfte – die „bei dem Vegetarier und Antialkoholiker Hitler von eigener Art“ waren –, um sich über die Katastrophe hinwegzutäuschen, die ihm „von Anfang an“ vor Augen gestanden habe (S. 233). Die restlichen vier Aufsätze befassen sich mit „seelischen Langzeitfolgen“ der NS-Zeit (Jürgen Müller-Hohagen), kultureller Globalisierung (Dieter Senghaas), der „Vorstellungswelt von Elite und Masse“ (Kilian Stein) sowie mit sowjetischen und polnischen Komponisten (Christoph Keller).

Das einzig kohärenzstiftende Element dieses Bandes liegt wohl darin, dass es sich, zumindest überwiegend, um Beiträge zu einer Tagung handelt, die im Juni 1999 an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar veranstaltet wurde. Eingebettet in eine mehrmonatige Ausstellung über „‚Entartete Musik’ 1938 – Weimar und die Ambivalenz“ 2, eines der zentralen Projekte der Hochschule im Weimarer Kulturstadtjahr, ging es dort um das Thema „Der Fall Weimar: Moderne und Antimoderne im Spannungsfeld des 20. Jahrhunderts“. Das klingt ähnlich diffus wie der Titel des hier besprochenen Bandes. Und so ist es vielleicht auch müßig darüber zu rätseln, in welcher Beziehung die für die Publikation teilweise überarbeiteten Vorträge zum Konferenzthema einmal standen. Geht es nach dem Willen des Herausgebers, soll es jedenfalls nicht bei diesem einen Band bleiben. Geplant sind noch drei weitere Publikationen, die aus dem viertägigen Kolloquium hervorgehen sollen. Überschriften haben sich bereits auch gefunden. Um der Einheitlichkeit willen – schließlich folgt auch der übergreifende Reihentitel „Musik/Gesellschaft/Geschichte“ dem eingängigen Dreiheits-Duktus – hat sich Hanns-Werner Heister wieder für vieldeutige Begriffstriaden entschieden: „Kunst, Ästhetisches, Ästhetizismus“, „Biologismus, Rassismus, Rentabilität“, „Protest, Opposition, Widerstand“. Und das implizit bei Zygmunt Bauman entliehene Wort von der „Ambivalenz der Moderne“ soll die einheitsstiftende Klammer liefern. Im vorliegenden Band freilich taucht der polnisch-britische Soziologe nur ein einziges Mal auf, in Form eines anderthalbseitigen Exkurses (S. 248f.). Dabei hätte er einigen der hier versammelten Autoren/innen durchaus als Wegweiser dienen können, aus dem Begriffsdickicht ihrer Beiträge hinauszufinden. Angesichts der konzeptionellen Mängel wundert es nicht, dass weder die Deutsche Forschungsgemeinschaft noch die Weimarer Musikhochschule, die zuvor das Ausstellungs- und Tagungsprojekt gefördert hatten, sich „in der Lage“ sahen (S. 7), die Drucklegung der Konferenzbeiträge zu unterstützen. Es bleibt abzuwarten, was die folgenden Bände bringen werden.

Anmerkungen:
1 Heister, Hanns-Werner; Klein, Hans-Günter (Hgg.), Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, Frankfurt am Main 1984; vgl. auch: Heister, Hanns-Werner; Maurer-Zenck, Claudia; Petersen, Peter (Hgg.), Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die internationale Musikkultur, Frankfurt am Main 1993.
2 Vgl. dazu die zweibändige Dokumentation von: Heister, Hanns-Werner (Hg.), „Entartete Musik“ 1938 – Weimar und die Ambivalenz. Ein Projekt der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar zum Kulturstadtjahr 1999, Saarbrücken 2001.

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