J. Böhler: Die Wehrmacht in Polen 1939

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Titel
Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939


Autor(en)
Böhler, Jochen
Reihe
Fischer Geschichte 16307
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: S. Fischer
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Wissenschaftszentrum Berlin

Seit der „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung stehen die Verstrickungen der Streitkräfte des Deutschen Reiches in die nationalsozialistische Vernichtungspolitik im Interesse von Öffentlichkeit und Forschung. Mit seiner Dissertation zum Vorgehen der Deutschen Wehrmacht während des Überfalls auf Polen im September 1939 liefert Jochen Böhler, Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Warschau, einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte. In beiden Fassungen der Wehrmachtsausstellung datierten die Hamburger Forscher den Beginn des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges auf den 22. Juni 1941, den Tag des deutschen Überfalls auf die UdSSR. In seiner Dissertation stellt Böhler diese Chronologie in Frage und vertritt die These, dass der nationalsozialistische Vernichtungskrieg bereits im September 1939 begann. Die Darstellung konzentriert sich auf das Vorgehen der Wehrmacht während der Kampfhandlungen, das heißt auf die kurze Zeitspanne zwischen den frühen Morgenstunden des 1. September und dem sowjetischen Einmarsch in Ostpolen, der am 17. September begann und das Ende des Widerstandes der polnischen Armee einläutete.

Eingangs beleuchtet Böhler die Voraussetzungen des deutschen Überfalls: Dabei misst er sowohl der longue durée deutsch-preußischer Polenfeindschaft als auch den nationalsozialistischen Sozialisationsinstanzen, die viele der jungen Rekruten bereits durchlaufen hatten, entscheidende Bedeutung zu. So erklärt er die weite Verbreitung von „Antisemitismus“ und „Antislawismus“ (S. 18). Was für die Judenfeindschaft gut belegt wird und auch richtig ist, erscheint für die Slawenfeindschaft wenig überzeugend. Schließlich war das Deutsche Reich seit Ende August 1939 mit der Sowjetunion verbündet und kooperierte mit ihr und der Slowakei in dieser Teilung Polens unter totalitären Vorzeichen. Es handelte sich weniger um eine pauschale Slawenfeindschaft – die Kooperation zwischen den parteistaatlichen Dienststellen und Streitkräften des Reiches und der UdSSR ließ wenig zu wünschen übrig – als um den spezifischen „Volkstumskampf“ gegen die Polen, der bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht und nun von der NS-Führung zur Mobilisierung ihrer Soldaten eingesetzt wurde.

Bei der Erklärung der Wehrmachtsverbrechen gesteht der Verfasser dem „Freischärlerwahn“, der Angst vor Partisanentätigkeit, zudem größeres Gewicht als der nationalsozialistischen Indoktrination zu. Böhler betont eingangs, die Bedrohung deutscher Soldaten durch ein Volk polnischer franc-tireurs sei real nicht gegeben gewesen. Es ist jedoch zu fragen, ob die Angst vor Partisanen nicht einen realen Kern hatte. Schließlich lag sie in der Logik des von Deutschland erklärten und geführten völkischen Krieges, der schon nach 1918 auch von Freikorps geführt worden war, und bedeutete somit weniger eine „Sinnestäuschung“ (S. 19) oder „irrige Überzeugung“ (S. 157) als eine plausible Erwartungshaltung. Völkische Kriege sollten von der gesamten Bevölkerung, nicht nur von ihren Soldaten geführt werden. Schließlich wurde in der deutschen Propaganda nicht allein die polnische Armee, sondern die Bevölkerung in toto und die jüdischen Polen im Besonderen zum Feindbild stilisiert. Das deutsche Misstrauen gegenüber der feindlichen Umwelt dürfte sich zudem aus dem Gefühl gespeist haben, als Eroberer in ein fremdes Land zu kommen, das sie überfallen hatten und dessen Kultur sie nicht verstanden. Dass die polnische Seite erst im Winter 1939/40 einen militärischen Untergrund organisierte, ist eine andere Frage.

In seiner empirisch dichten Darstellung kann Böhler zeigen, wie sehr die Vorstellung eines omnipräsenten, heimtückischen Feindes das Handeln der Wehrmacht während des September 1939 beeinflusste. Gegenüber der Zivilbevölkerung kam es an vielen Stellen zu Übergriffen wegen vermeintlicher „Freischärlerei“. Die deutschen Soldaten erwarteten einen Gegner, der ihnen in offener Feldschlacht gegenübertritt. Wo dies nicht geschah und die polnische Armee aus der Deckung oder aus Ortschaften heraus gegen die Aggressoren operierte, sprach die Wehrmacht von „Fenster- und Heckenschützen“. Ihre Berichte zeigen, wie deutsche Soldaten gegen vermeintliche „Freischärler“ brutal und rücksichtslos vorgingen. Überraschenderweise führt der Verfasser dieses Verhalten der Deutschen Wehrmacht jedoch in der Regel nicht auf eine vorgefasste Vernichtungsabsicht zurück, sondern auf die Unerfahrenheit und emotionale Gereiztheit der Truppe. Dieser an sich plausible Befund steht in einer unerklärten Spannung zur eingangs postulierten These von der Wehrmacht als Trägerin eines vom NS-Regime intendierten Vernichtungskrieges. Die vom Verfasser präsentierten Quellen zeigen eine häufig verunsicherte, so impulsiv wie brutal reagierende Truppe, die in nervöser Angespanntheit ihre Feuertaufe erlebte. Die Soldaten des Vernichtungskrieges im Sommer 1941 hatten deutlichere Instruktionen und töteten auf Befehl.

Neben die Mentalitäten treten bei der Erklärung der Wehrmachtsverbrechen Fragen der Befehlslage und Truppenführung sowie ihres Verhaltens bei der Eroberung und Besatzung polnischer Ortschaften. Anschaulich kann Jochen Böhler herausarbeiten, wie sich die Befehlslage während des September 1939 änderte. Zunehmend gerieten polnische Zivilpersonen ins Visier der Wehrmachtsführung. So erhielt die 8. Armee bereits am 4. September einen Befehl, der die Erschießung vermeintlicher „Freischärler“, das hieß verdächtigter polnischer Zivilisten, billigte (S. 149). Am 10. September erging an die Heeresgruppe Nord der Befehl, das dort, wo aus der polnischen Bevölkerung Widerstand geleistet werde zum „Schutz der Truppe“ hinter der Front Häuser und Ortschaften niedergebrannt werden könnten (S. 152). Eindrucksvoll belegt werden auch die unzureichende Versorgung und Unterbringung polnischer Kriegsgefangener und die grausame Behandlung der jüdischen Bevölkerung. Eingangs seiner Darstellung zeigte der Autor, wie antisemitische Wahrnehmungsmuster einfache Soldaten prägten. Bei den „Blitzpogromen“, die dem deutschen Vormarsch folgten, waren neben Demütigungen und körperlichen Übergriffen auch Morde an der Tagesordnung. Plünderungen wurden häufig von Vergewaltigungen begleitet. Schon früh kam es aufgrund der unkontrollierten Gewalt zu Bedenken in der Wehrmachtsführung, die allerdings um die Disziplin ihrer Mannschaften fürchtete und nicht um Leib und Leben der jüdischen Bevölkerung besorgt war. Diese an Zivilist/innen begangenen Straftaten wurden nicht geahndet. Der Verfasser betont hier, dass die antijüdische Gewalt nicht situativ bedingt war – ihr ging keine tatsächliche oder eingebildete Bedrohung heraus. Es handelte sich vielmehr um eigennützig begangenen Raub, um Nötigung oder Mord.

Es ist das Verdienst der Arbeit, den Blick auf den September 1939 zu lenken und die Komplexität des verbrecherischen Geschehens jenseits der militärgeschichtlichen Gewissheiten des „Blitzkrieges“ aufzuzeigen. Deutlich zeigt sich jedoch auch die begrenzte Erklärungsmacht des gewählten Zeitabschnittes von nicht einmal drei Wochen. Ein Ausblick auf die Zeit der Besatzung wäre hilfreich gewesen; hier war allerdings nicht mehr die Wehrmacht der bestimmende Faktor in Polen. Zudem wäre wünschenswert, wenn Böhlers Ergebnisse noch stärker mit den Ergebnissen der vergleichenden Diktaturforschung in Beziehung gesetzt werden als das geschehen ist. Die eingangs vertretene These, dass die Wehrmacht bereits im September 1939 stark in Kriegsverbrechen verstrickt war, kann er gut belegen. Das rabiate Auftreten und die gezielten Verletzungen des Kriegsrechts können aus den zitierten Berichten verschiedener Truppenteile dargestellt werden. Allerdings bleibt fraglich, inwieweit der Begriff „Vernichtungskrieg“ die Ereignisse des Septembers treffend zu beschreiben vermag. Hier wären eine schärfere Definition und ein systematischer Vergleich mit den anderen Kriegsschauplätzen sinnvoll gewesen. Auch lässt der Verfasser nur an wenigen Stellen polnische Quellen zu Wort kommen. Aus ihnen wäre vielleicht zu erfahren gewesen, inwieweit die Bevölkerung eine Differenz zwischen dem deutschen Heer, der SS und den Einsatzgruppen wahrgenommen hat. Methodisch bleibt unklar auch, welche Verbindung Böhler zwischen älterem deutschen Dünkel gegenüber Osteuropa, der völkischen Ideologie, den rassistischen Stereotypen nationalsozialistischer Propaganda und dem konkreten Verhalten einzelner Wehrmachtseinheiten annimmt. Hier fehlt der zeithistorischen Forschung noch das Instrumentarium, um zu erklären, wie sich Weltbilder, mentale Dispositionen und Handeln unter den Bedingungen diktatorischer Herrschaft zueinander verhalten.

Eine Studie, die eine neue Chronologie der Verstrickung der Wehrmacht in den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg etablieren will, kommt nicht umhin, die Perspektive über den September 1939 hinaus zu erweitern. Schließlich stellt sich hier die Frage, wann aus einem modernen Krieg ein Vernichtungskrieg wird. Allein die Häufung von Kriegsverbrechen reicht kaum aus, vielmehr wäre es notwendig, ihre genozidale Grundierung zu zeigen. Was die Dimensionen der Gewalt, ihre Planung und auch die ideologische Aufladung betrifft, reicht der September 1939 nicht an den Sommer 1941 und insbesondere den folgenden Herbst heran. Nicht rassische Vernichtung und Antibolschewismus, sondern völkischer Nationalismus prägte noch das Denken und Handeln der Wehrmacht im „Polenfeldzug“. In vergleichender Perspektive handelte es sich hier eher um die Ouvertüre und nicht um den ersten Akt des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges. In dieser Richtung sollte man den Titel dieser aufschlussreichen Studie verstehen.

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