H.G. Hockerts (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland Bd. 5

Cover
Titel
Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 5: Bundesrepublik 1966-1974. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs


Herausgeber
Hockerts, Hans Günter
Erschienen
Baden-Baden 2006: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 1133 S. + 1 CD-ROM
Preis
€ 169,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Ayaß, Universität Kassel

In der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundesarchiv gemeinsam herausgegebenen elfbändigen „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“1 liegt nun auch der dritte von sechs Bundesrepublik-Bänden vor. Bis die Bände 4 und 6 erschienen sind (zu den Jahren 1957–1966 bzw. 1974–1982), hängt der hier besprochene Band 5 allerdings noch etwas in der Luft. Da nun insgesamt sieben von elf angekündigten Bänden gedruckt sind, gerät das glückliche Ende des großen Projekts langsam in Sicht.

Der vorliegende Band umfasst die Jahre 1966 bis 1974; er enthält somit die wichtigen Aufbruchsjahre der Großen Koalition und die zwei Kabinette Brandt/Scheel. Bandherausgeber ist der Münchener Historiker Hans Günter Hockerts, der jedoch ganz maßgeblich von Winfried Süß unterstützt wurde. Hockerts – ursprünglich eher Experte für den Nationalsozialismus und die Adenauerzeit – verfasste das einleitende Kapitel „Rahmenbedingungen“, Süß das zweite Einleitungskapitel „Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder“, während die abschließende „Gesamtbetrachtung“ dann von beiden zusammen geschrieben wurde. Für die 17 sachthematischen Unterkapitel zeichnen insgesamt 23 Autorinnen und Autoren verantwortlich.

„Die Große Koalition begann nicht als Koalition der Sozialpolitiker.“ (Süß, S. 159) In der von Haushaltskonsolidierung geprägten Koalition, in der erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Sozialdemokraten am Kabinettstisch saßen, gab es nur wenig sozialpolitische Gegensätze. Wie schon zuvor wurden wichtige Entscheidungen auf diesem Gebiet im Konsens der großen Volksparteien getroffen. Die Regierung Kiesinger/Brandt setzte einige wichtige sozialpolitische Impulse. Sie egalisierte – eine sozialpolitische Erblast beseitigend – sozialrechtliche Unterschiede zwischen Angestellten und Arbeitern, schuf einen Finanzierungsverbund zwischen der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten. Das Lohnfortzahlungsgesetz schließlich brachte die arbeitsrechtliche Gleichstellung von Angestellten und Arbeitern im Krankheitsfall.

Auch der Beginn der sozialliberalen Ära im Jahr 1969 war sozialpolitisch eher von Kontinuität geprägt, wenngleich bald deutliche Schwerpunkte gesetzt wurden. Der „Machtwechsel“ von 1969 – dies wird in den zusammenfassenden Artikeln und in den Einzelkapiteln an vielen Stellen herausgearbeitet – brachte neue Ziele. Anders als früher stellte die FDP die expansive Ausrichtung der sozialdemokratischen Sozialpolitik nicht mehr in Frage. In der umstrittenen betrieblichen Mitbestimmung, die längst politisches Hauptziel der DGB-Gewerkschaften war, erklärte sich die FDP allerdings nicht bereit, die Montanmitbestimmung auf alle Großunternehmen auszuweiten, sondern präferierte stark abgeschwächte Regelungen. Ein – die Gewerkschaften enttäuschendes – Mitbestimmungsgesetz wurde erst 1976 verabschiedet.

Wie Süß ferner herausarbeitet, setzte das zweite Kabinett Brandt/Scheel 1972 einige neue sozialpolitische Akzente, insbesondere im Bereich der Behinderten bzw. Schwerbeschädigten und der Besserstellung der Frauen in der Rentenversicherung. „Die meisten Felder der Sozialpolitik waren durch die Fortführung der seit 1969 getroffenen Richtungsentscheidungen bestimmt.“ (S. 167) Die Reformjahre 1966 bis 1974 lösten einerseits die Sozialpolitik weiter von der Arbeiterfrage und den erwerbsbezogenen Sozialversicherungssystemen durch Erweiterung auf weitere soziale Gruppen und Lebenslagen (S. 206). Andererseits bewirkten die weit gefasste „Humanisierung des Arbeitslebens“ und arbeitsrechtliche Regelungen auch eine Hochzeit der arbeitnehmerorientierten Sozialpolitik (S. 950).

Im Gegensatz zur DDR scheiterten im Westen alle Versuche, ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch zu schaffen, obwohl Willy Brandt dies 1973 ausdrücklich als Regierungsvorhaben ankündigte. Nach wie vor war das Arbeitsrecht auf viele Gesetze aufgesplittert und blieb über weite Strecken Richterrecht mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts als bestimmendem Faktor, nicht zuletzt im Arbeitskampfrecht mit umstrittenen Entscheidungen zur Aussperrung.

Das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 erweiterte bzw. verstärkte die Beteiligungsrechte der Betriebsräte und schrieb die Kompetenzenverteilung zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten fest. Der Kündigungsschutz für Betriebsratsmitglieder wurde auf Wahlvorstände und Bewerber ausgedehnt, wobei in dem von dem Arbeitsrechtler Reinhard Richardi verantworteten Kapitel leider nicht mitgeteilt wird, ob sich dies tatsächlich in einer vermehrten Einrichtung von Betriebsräten niederschlug. Die Tendenz, mehr über die Gesetzgebung bzw. das jeweilige Gesetzgebungsverfahren zu berichten als über die soziale Wirklichkeit, durchzieht allerdings auch andere Kapitel und Bände dieser Reihe.

Der lange nur wenig weiterentwickelte Arbeitsschutz, den Dietrich Bethge für diesen Band erforscht hat, erlebte unter Leitbegriffen wie „Lebensqualität“ und „Prävention“ einen erheblichen Aufschwung. Der Arbeitsschutz wurde im Untersuchungszeitraum 1966–1974 zu einem Schwerpunkt der Regierungsarbeit, wenngleich grundlegende gesetzliche Neuerungen nicht vorgenommen wurden. Wichtig war allerdings die Errichtung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung im Jahr 1972. Das Maschinenschutzgesetz von 1968 war ein Meilenstein im Unfallschutz – nicht zuletzt deshalb, weil es die alte Forderung nach Berücksichtigung möglicher Unfälle schon bei der Konstruktion einer Maschine berücksichtigte und zudem vom möglichen Gebrauch von Maschinen (privat – handwerklich – industriell) abstrahierte. Aber auch das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 setzte auf dem Gebiet des Schutzes arbeitender Menschen neue Maßstäbe, weil es weit über den klassischen Schutz vor Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten hinausging. Arbeitsschutz war nunmehr (auch) innerbetriebliche Angelegenheit bei der Planung von Arbeitsplätzen, Arbeitsablauf und betrieblicher Umgebung. Die „Humanisierung des Arbeitslebens“ wurde ein großes sozialpolitisches Feld mit viel einschlägiger Forschung. Die oft rüden industriellen Arbeitsbedingungen der Beschäftigten waren längst in greifbaren Widerspruch zum erreichten privaten Lebensstandard geraten. Hier und an anderen Stellen des Bandes wird deutlich, wie sehr die Sozialpolitik jener Jahre auf ein lebenslanges Normalarbeitsverhältnis ausgerichtet war.

Das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 machte die berufliche Fort- und Weiterbildung zum Kern einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, wenngleich die vielen „Umschulungen“ zunächst noch wenig zielgenau konzipiert waren. Die Ausgabenstruktur der Bundesanstalt für Arbeit verschob sich grundlegend in Richtung präventiver Maßnahmen.

In den Zeitraum 1966–1974 fallen wichtige demografische Wendepunkte, die allerdings seinerzeit noch vergleichsweise wenig thematisiert wurden. Nachdem noch 1964 der geburtenstärkste Jahrgang der Nachkriegszeit verzeichnet wurde, setzte ab 1967 ein Geburtenrückgang ein; 1972 wurden dann erstmals weniger Geburten als Sterbefälle registriert, woran sich bis heute nichts geändert hat. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg, und 1974 waren bereits 17,7 Prozent der Bundesbürger im Rentenalter. Schon damals redete man vom „Rentnerberg“. Für die Familienpolitik spielte dies allerdings noch keine große Rolle, wie Ursula Münch nachweist. Nicht Geburtenförderung, sondern Fragen wie die Reform des Scheidungsrechts, des Abtreibungsrechts, des Rechtes unehelicher Kinder und des Familienlastenausgleichs standen im Mittelpunkt der Debatten. Ab 1975 wurde das Kindergeld erstmals einkommensunabhängig gewährt.

Unübersehbar ist im Rückblick der Aufschwung der Rehabilitationen und sonstigen Hilfen für Behinderte. Auch in diesem Bereich spielten die Schlüsselbegriffe „Chancengleichheit“ und „Lebensqualität“ eine eminente Rolle. Regelrechtes Startsignal für die „Dekade der Rehabilitation“ war das „Aktionsprogramm der Bundesregierung zur Förderung der Rehabilitation“ von 1970. Das Rehabilitations-Angleichungsgesetz von 1974 harmonisierte die – gerade auch für die Betroffenen – verwirrende Rechtslage. Auch das Schwerbehindertengesetz wurde novelliert. Im Ergebnis wichtiger war wohl der Ausbau der Eingliederungshilfen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Allerdings – so resümiert Kapitelautor Wilfried Rudloff – konnte „die Erneuerung der institutionellen Strukturen mit der Entwicklung weit vorauseilender Politikprogramme und gesetzlicher Leitvorgaben nicht immer Schritt halten“ (S. 590). Die Betonung dieses „Randbereichs“ dürfte gegenüber dem bisherigen sozialpolitischen Gesamtblick auf den Berichtszeitraum des Bandes innovativ sein.

Auf dem Gebiet der Sozialhilfe stand zunächst die Durchsetzung der neuen Bestimmungen des 1962 in Kraft getretenen BSHG im Mittelpunkt. Die Weiterentwicklungen des BSHG betrafen vor allem Leistungsverbesserungen für behinderte Menschen. Peter Trenk-Hinterberger verdeutlicht in diesem Teil, dass gleichzeitig alte soziale Problemlagen neu entdeckt wurden. Unter dem neuen Sammelbegriff „Randgruppen“ subsumierte man die zum Teil noch in Barackenlagern lebenden obdachlosen Familien, aber auch deviante Jugendliche, Haftentlassene, Behinderte, „Nichtsesshafte“ etc.

Die Jahre um 1970 brachten die bisher größte Expansion im Schul- und Hochschulwesen in der deutschen Bildungsgeschichte, die Oskar Anweiler näher analysiert. Doch hier hörte die (in sozialpolitischen Fragen) viel zitierte Gemeinsamkeit der Volksparteien auf. Die Bildungspolitik war heftig umstritten und nach der neuen Ostpolitik das meist diskutierte Thema des Jahrzehnts. Der Schlüsselbegriff der Chancengleichheit verknüpfte Bildungspolitik eng mit der Sozialpolitik. Hockerts und Süß betonen im Schlusskapitel, dass mit diesem Aneinanderrücken der bis dahin weitgehend getrennt wahrgenommenen Politikfelder ein Pfadwechsel eingeleitet worden sei (S. 948).

Machbarkeitsglaube und Fortschrittsoptimismus ließen das Jahrzehnt um 1970 zur großen Zeit von (später meist wieder verschwundenen) Fachgremien und Beraterorganen werden (Bundesjugendkuratorium, Kuratorium Deutsche Altershilfe, Jugendhilferechtskommission, Deutscher Bildungsrat etc.). Die 1966 veröffentlichte Sozialenquête (später alljährlich: „Sozialbudget“) reihte sich ein in die bis heute fortgeführte Serie der (teilweise regierungsamtlichen) Berichte und Enquêten wie Familienbericht (zuerst 1968) und Jugendbericht (zuerst 1965), zu denen sich später noch der Altersbericht (zuerst 1993) sowie neuerdings der Armuts- und Reichtumsbericht (zuerst 2001) gesellten. Eine prominente Rolle spielte zudem die 1975 veröffentlichte Psychiatrie-Enquête.

Der im Titel des Bandes postulierte „vielfältige Aufbruch“ schlägt sich in den Teilkapiteln nicht immer nieder, was zum Teil an dem doch kurzen Berichtszeitraum von acht Jahren liegt – vieles, was zwischen 1966 und 1974 diskutiert und in die Wege geleitet wurde, wirkte sich erst in späteren Jahren aus. Außerdem erreichte der „Aufbruch“ nicht alle Teilbereiche der Sozialpolitik gleichmäßig. So resümieren Tilmann Harlander und Gerd Kuhn im Kapitel „Wohnungspolitik“, dass eine „wirkliche Neukonzeption“ des sozialen Wohnungsbaus unterblieb (S. 886). Durch die sich stark an der Gesetzgebung orientierende Konzeption der Edition konnte der gesellschaftliche Aufbruch zudem nicht in allen Facetten dargestellt werden.

Wie die übrigen Bände enthält auch der vorliegende einen Dokumententeil auf CD-ROM, der auf einem PC mühelos mit den bereits erschienenen Dokumenten-Dateien der anderen Bände zusammengefügt werden kann. Ein Verzeichnis der 158 Dokumente des Bandes befindet sich im Anhang, was eine erste Orientierung erleichtert. Die meisten dieser bislang größtenteils unveröffentlichten Quellen stammen aus dem Bundesarchiv. Wir finden unter anderem Gesetzentwürfe, innerministeriellen Schriftverkehr, aber auch ein Schreiben des Einwohnermeldeamtes Essen an eine ausländische Familie wegen Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aufgrund unangemessener Wohnverhältnisse. Das Vorwort der bisher erschienenen Bände enthält einen Hinweis auf eine weitere CD-ROM mit „statistischen Daten zu Wirtschaft, Finanzen, Einkommen und sozialen Institutionen“ in beiden deutschen Staaten, die über das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bezogen werden könne.2 Eine solche CD-ROM gibt es bislang offensichtlich nur für den SBZ/DDR-Teil. Allerdings sind beide Teile, wenngleich an unterschiedlichen Stellen, online zugänglich.

Anmerkungen:
1 Vgl. die bisherigen Rezensionen in H-Soz-u-Kult: von Uwe Kaminsky über Band 1 und 2 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-032>; von Jens Gieseke über Band 8 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-116>; sowie von mir über Band 3 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-182>; und Band 7 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-044>.
2 Gemeint sind folgende Veröffentlichungen: Berié, Hermann, Statistische Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band West, Bonn 1999, auch online unter URL: <http://www.wiso.uni-koeln.de/wigesch/bibliothek/digitbib/index_statistik.html>; Steiner, André (unter Mitarbeit von Matthias Judt und Thomas Reichel), Statistische Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band SBZ/DDR, Bonn 2006, auch online unter URL: <http://www.bmas.de/coremedia/generator/10060/statistische__uebersichten__zur__sozialpolitik__in__deutschland__seit__1945.html> (27.8.2007).

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