W. Form u.a. (Hgg.): Politische Justiz in Hessen

Titel
Politische NS-Justiz in Hessen. Die Verfahren des Volksgerichtshofs, der politischen Senate der Oberlandesgerichte Darmstadt und Kassel 1933-1945 sowie Sondergerichtsprozesse in Darmstadt und Frankfurt/M. (1933/34). 2 Teilbde.


Herausgeber
Form, Wolfgang; Schiller, Theo
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 65
Erschienen
Anzahl Seiten
1165 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Bartlakowski, Fakultät für Wirtschaft- und Sozialwissenschaften, Fachhochschule Osnabrück

Bereits Anfang der 1990er-Jahre ermöglichte das vom Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden durchgeführte Projekt „Widerstand und Verfolgung unter dem Nationalsozialismus in Hessen“ die Erschließung schwer zugänglicher Materialien zur NS-Strafjustiz in Hessen. Zunächst unter der Federführung der Marburger Professoren Dieter Meurer (Rechtswissenschaften) und Thomas Klein (Geschichtswissenschaften), später unter der Leitung von Dieter Rössner (Kriminalwissenschaften) und Theo Schiller (Politikwissenschaften) erfolgte die Sichtung und Untersuchung der Archivalien im Rahmen eines interdisziplinären, von der DFG geförderten Projekts. Mit der vorliegenden, zweibändigen Studie werden nunmehr die Ergebnisse des im Jahre 2002 abgeschlossenen Projekts präsentiert.

In den letzten Jahren wurde eine Vielzahl von Forschungsergebnissen zur NS-Strafjustiz veröffentlicht. So liegt beispielsweise für die Urteilspraktiken des Volksgerichtshofs sowie der Sondergerichte ein umfassender Forschungsstand vor (vgl. Bd. I, S. 17ff.). Auch wenn die Fülle der Publikationen zur NS-Justizforschung den Eindruck entstehen lässt, dass die Thematik erschöpfend behandelt worden sei, so bedürfen doch viele Fragestellungen nach wie vor der Erörterung und der Klärung. Gerade die Verfahren vor den Oberlandesgerichten wurden bislang eher randständig behandelt. Insbesondere der erste, rund 800 Seiten starke Teilband der hier angezeigten Studie beabsichtigt diese Forschungslücke zu schließen, wenngleich er sich auf die Oberlandesgerichte Kassel und Darmstadt beschränkt.

Mit seiner beeindruckenden Untersuchung ist es hierin dem einschlägig ausgewiesenen Politikwissenschaftler Wolfgang Form gelungen, erstmals eine nahezu vollständige Analyse politischer Strafverfahren zu Hochverrat, Landesverrat und Wehrkraftzersetzung auf OLG-Ebene zwischen 1933 und 1945 vorzulegen (Bd. I., S. 1-786). Der zweite Teilband der Gesamtstudie enthält nicht minder wichtige Beiträge. So untersucht Harald Hirsch Strafverfahren vor den Sondergerichten Darmstadt und Frankfurt am Main, die vornehmlich auf den Strafvorschriften der „Heimtücke-Verordnung“ vom 21. März 1933 sowie der „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933 basierten (Bd. II., S. 789-1041). In Ergänzung hierzu berichtet Michael Lojowsky über die politischen und sozialen Hintergründe der verfahrensbeteiligten Staatsanwälte und Richter (Bd. II., S. 1043-1103). Abschließend informiert Frank Dietmeier über die besonderen Rechtsbehelfe des außerordentlichen Einspruchs sowie der Nichtigkeitsbeschwerde (Bd. II., S. 1105-1163). Angesichts der inhaltlichen Vielfalt des Gesamtwerks soll im Folgenden der Schwerpunkt auf dem ersten Teilband der Studie liegen.

„Genau besehen gibt es gar keine Willkürherrschaft, sondern nur verschiedene Arten, einen Generalwillen zu erzeugen.“ Mit diesen Worten verlieh Adolf Hitler seinen politischen Ambitionen bereits frühzeitig Ausdruck. Die psychologische Erfassung und Mobilisierung der Nation sollte das Ergebnis konsequenter Durchdringung aller gesellschaftlichen Strukturen durch ein dichtes System der Überwachung, Reglementierung und Lenkung sein. Schon am 4. Februar 1933 wurde die „Verordnung zum Schutz des Deutschen Volkes“ erlassen, mit deren Hilfe politisch linksgerichtete Versammlungen und Presseberichte verboten werden konnten. Einige Tage später erging die „Verordnung zum Schutze von Volk und Staat“, die zu einer Aufhebung von Grundrechten wie persönliche Freiheit, freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit etc. „zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ führte. Mit der vagen ideologischen Formel vom „gesunden Volksempfinden“ oder dem Diktum, Recht sei, was dem Volke nütze, wurde dem einstigen Rechtsstaat der Boden entzogen, und es entstand eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Verhaftungswellen trafen insbesondere die politischen Gegner, so dass schon im Juli 1933 die Anzahl der politischen Häftlinge bei rund 27.000 lag und erste Konzentrationslager errichtet waren.

Die Größenordnung der eingeleiteten Hochverratsverfahren stellte die Justiz jedoch vor organisatorische Probleme. Zu ihrer Bewältigung wurden bei Oberlandesgerichten so genannte Hochverratssenate eingerichtet, so auch in Kassel und Darmstadt. Zu den weiteren Maßnahmen zählte auch die Einrichtung des Volksgerichtshofs sowie die massive Verschärfung der Straftatbestände des Hoch- und Landesverrats im Jahr 1934. Auf dieser Normenbasis entschied die politische Strafjustiz bis 1943. Durch die Konzentration auf das heutige Bundesland Hessen kann Form nahezu sämtliche Strafverfahren vor dem Reichsgericht, dem Volksgerichtshof sowie den Oberlandesgerichten Kassel und Darmstadt analysieren. Insgesamt waren dies 134 Verfahren vor dem Volksgerichtshof und 1.156 Verfahren vor den Oberlandesgerichten (vgl. Vorwort). Dabei veranschaulicht Form die administrativen Verfahrenabläufe zwischen den agierenden „Organen der Rechtspflege“ und zeigt, wie die gezielte Ausweitung der gerichtlichen und polizeilichen Handlungsmöglichkeiten „die Ausschaltung jeglicher Opposition einleitete und umsetzte“ (S. 2). Recht und Justiz wurden endgültig zu Werkzeugen des NS-Regimes.

Der Straftatbestand des „Hochverrats“ entstammte ursprünglich dem Allgemeinen Preußischen Landrecht und besaß bis zum Beginn des Dritten Reichs seine Gültigkeit nahezu unverändert. Im Rahmen der Forderung nach „schärferen Gesetzen“ wurde am 24. April 1934 ein Gesetz „zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens“ verabschiedet. Mit dieser „Verratsnovelle“ wurden die bisher geltenden Bestimmungen gebündelt, neu strukturiert und deutlich verschärft. Fortan drohte für „hochverräterische“ Handlungen eine Zuchthausstrafe von bis zu zehn Jahren, unter Umständen sogar eine lebenslange Freiheitsstrafe oder die Verurteilung zum Tode. Form belegt am Beispiel der OLGs in Kassel und Darmstadt, vor denen rund 97 Prozent der politischen Strafverfahren verhandelt wurden, dass das politische Strafrecht die Urteilspraxis eindeutig zu Lasten der Angeklagten auslegte. Dabei orientierten sich die Gerichte nach der in den 1930er-Jahren vertretenen „Tätertypenlehre“, die nicht die Handlung, sondern die handelnde Person zum Ausgangspunkt der strafrechtlichen Beurteilung erhob. Täter war, wer die äußeren Merkmale oder die Charakterzüge eines Täters aufwies, besonders dann, wenn die Tat nicht auf herkömmlichem Wege zu beweisen war. Form folgert daraus, „dass es sich um eine explizit erfolgsorientierte politische Strafjustiz handelte, bei der nicht der Weg, sondern das Resultat im Vordergrund stand“ (S. 7, 270).

Mit Kriegsbeginn wurde auch die „Wehrkraftzersetzung“ zu einem Delikt, dessen weiter Strafrahmen sowie dehnbarer Tatbestand einen gezielten Einsatz gegen Regimekritiker und Oppositionelle erlaubte. Ab 1940 ging die Ahndung dieses Tatbestands von der Wehrmachtsgerichtsbarkeit auf die Strafgerichte über. Form zeichnet hier freilich eine höchst differenzierte Rechtsprechung nach. So sah beispielsweise der Kasseler Strafsenat „seine Aufgabe in erster Linie in der strengen Maßregelung der Wehrkraftzersetzer, jedoch nicht in ihrer physischen Vernichtung“ (S. 782). Die Verhängung der Todesstrafe blieb weitestgehend dem Volksgerichthof vorbehalten.

Da die Bekämpfung der weltanschaulichen Grundeinstellung im Mittelpunkt der justiziellen Verfolgungspraxis lag, konnten alle Bürger/innen in die Fänge der NS-Justiz geraten. Dabei thematisiert Form auch ausländer- und geschlechterspezifische Aspekte: „Der weiblichen Seite des politischen Widerstands […] wurde offensichtlich weniger Gewicht beigemessen als vergleichbaren Handlungen bei Männern.“ Die Juristen und der politische Polizeiapparat reagierten jedoch „erst beim Überschreiten einer sicherlich nicht statischen Grenzlinie“, dann jedoch mit großer Härte. „Der Schluss liegt nahe, dass eine gravierende Missachtung der den Frauen zugedachten Rollenbilder den Strafrahmen ebenfalls beeinflusste“. (S. 192)

Insgesamt ist Form ein wohl komponiertes, in Umfang und Detailreichtum außerordentlich einleuchtendes, empirisch belegtes und analytisch durchdrungenes Werk gelungen, das einen wichtigen Baustein zur Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizgeschichte darstellt. Dem Buch sind viele Leser/innen – und natürlich viele Nachahmer/innen – zu wünschen.

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