B. Gotto: Nationalsozialistische Kommunalpolitik

Cover
Titel
Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933-1945


Autor(en)
Gotto, Bernhard
Reihe
Studien zur Zeitgeschichte 71
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Stelbrink, Soest

Die Kommunalverwaltung im NS-Staat war lange Zeit ein Stiefkind der Zeitgeschichtsforschung. Seit Matzeraths einflussreichem Standardwerk aus dem Jahr 1970 1, das die gänzliche Zerstörung der tradierten kommunalen Selbstverwaltung im komplizierten Machtgefüge des NS-Staates eingehend und plausibel darlegte, galt das Thema im Grunde als „ausgeforscht“. Die Kommunalverwaltungen erschienen fortan als zu vernachlässigende, weil entmachtete und fremdgesteuerte Exekutivinstanzen im Rahmen einer chaotisch wuchernden NS-Polykratie. Erst seit etwa zehn Jahren bahnt sich ein grundlegender und fruchtbarer Perspektivwechsel an, der seinen jüngsten Ausdruck in einem 2005 erschienenen wichtigen Sammelband fand. Die Herausgeber/in Mecking und Wirsching postulierten darin wohl zu Recht, dass „die Stadtverwaltungen auch und gerade unter den besonderen Bedingungen des NS-Regimes eigenständige Handlungsräume behielten bzw. sich neue Tätigkeitsfelder erschlossen, die sie aktiv, selbständig und dynamisch ausfüllten“.2

Auch Gotto geht es in seinem Buch primär um eine Wiederentdeckung der Kommunalverwaltungen als erfolgreiche und unverzichtbare Akteure innerhalb eines teils informellen, trotzdem aber relativ stabilen „nationalsozialistischen Herrschaftssystems“ (S. 4) auf lokaler und regionaler Ebene. Den Verwaltungsstil der Behörden sieht er dabei nicht durch Fraenkels schroffen Dualismus von „Normen- und Maßnahmestaat“ geprägt, sondern durch eine „spezifische administrative Normalität“ in allen Bereichen. Sie habe „Elemente der herkömmlichen Verwaltung“ mit der zunehmenden Übernahme von „Zielen und Methoden der nationalsozialistischen Ideologie und Rasseutopie“ (S. 2) verbunden. Die eigentliche Untersuchung der Augsburger Stadtverwaltung gliedert sich in fünf Teile. Nach einem Überblick über die Phase der Machtergreifung und -konsolidierung widmet sich Gotto zunächst eingehend der Organisation und Arbeitsweise der Behörde sowie deren Personal bis hinunter auf die Ebene der Abteilungsleiter. Anschließend wird das „kommunale Handeln im polykratischen Führerstaat“ (S. 173) exemplifiziert anhand der Fürsorge- und Gesundheitspolitik, des kommunalen Bauwesens und der städtischen Strukturpolitik. Teil vier widmet sich ausführlich der Tätigkeit der Stadtverwaltung im Krieg. Die Untersuchung wird abgeschlossen durch ein Kapitel zu den städtischen Funktionseliten der Augsburger NS-Zeit nach 1945. Nach Gotto wurde die Stadtverwaltung von 1934 bis Kriegsende durch einen Oberbürgermeister geleitet, der als loyaler „Alter Kämpfer“ der NSDAP über einen „festen Stand im regionalen und lokalen Netzwerk der NS-Herrschaft“ (S. 425) verfügte, effektive Kontakte nach Berlin pflegte und einen ausgeprägten Sinn für „bürokratische Denkweisen“ (S. 424) hatte. Er arbeitete in engstem Einvernehmen mit einem relativ moderaten und verwaltungsfreundlichen Gauleiter, der gleichzeitig als Regierungspräsident fungierte und damit dem strukturellen Dualismus zwischen Partei und Staat im Gau Schwaben viel von seiner Schärfe nahm. Auf diese Weise konnte die Stadtverwaltung trotz freiwilliger und weitgehender Kooperation mit den örtlichen Parteidienststellen ihre Kompetenzen wahren. Das bis auf wenige Schlüsselpositionen nur oberflächlich nazifizierte städtische Personal zögerte nicht, sich mit „Fleiß und Erfindungsreichtum“ (S. 146) in den Dienst des NS-Regimes zu stellen. Gotto kann im Folgenden belegen, dass die Augsburger Kommunalverwaltung nicht nur eine „ungeheure Arbeitslast“ (S. 433) mit großer Flexibilität und Praxisnähe bewältigte, sondern sich bis zum Kriegsende immer wieder gewisse Handlungsspielräume schaffte und Strategien entwickelte, um den „polykratischen Würgegriff“ (S. 170) und dessen negativen Folgen an der Basis abzumildern. Letztlich wurde die Behörde damit ein unentbehrliches „Fundament der Diktatur“ (S. 423) und verhinderte einen vorzeitigen Kollaps der NS-Herrschaft vor Ort.

Die umfangreichen Detailuntersuchungen Gottos bewegen sich durchweg auf hohem Niveau, die Arbeitsergebnisse sind differenziert und überzeugend vorgetragen. Positiv ist auch anzumerken, dass der Autor seine Resultate stets mit Entwicklungen in anderen Regionen vergleicht. Dass ihm dabei offenbar zahlreiche kleinere Fehler unterlaufen sind 3, ist zwar bedauerlich, fällt aber nicht wirklich ins Gewicht. Das Buch liefert somit sehr bedenkenswerte Argumente für eine gründliche Revision bisheriger Forschungsergebnisse zu den Kommunalverwaltungen im NS-Staat. Bisweilen, besonders in seiner prägnanten Zusammenfassung, entgeht Gotto jedoch nicht der Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wenn er etwa betont, dass die Selbstverwaltung durch die Nationalsozialisten „nicht abgeschafft und noch nicht einmal ausgehöhlt“, sondern lediglich „mit einem neuen Inhalt“ gefüllt und „in einen neuen Bezugsrahmen gestellt“ (S. 426) worden wäre, so erscheint diese überpointierte Sichtweise, die einen tradierten Terminus der Beliebigkeit preisgibt und von den Detailuntersuchungen Gottos nicht untermauert wird, fragwürdig. Gleiches gilt für die These, dass die „breit angelegte Zusammenarbeit“ der Stadtverwaltung mit der NSDAP „nichts grundsätzlich Neues“, sondern lediglich eine neue „Qualität der Einflüsse von außen“ (ebenda) dargestellt habe. Ferner wird die besagte Korrektivleistung der Gemeinden gegen die polykratische Zerrüttung sicherlich überschätzt, wenn man die Kommunen – ausgerechnet mit Worten Fricks – als „große Ausgleichsstelle“ bezeichnet, die „die Einheit der Gesamtverwaltung auch dem letzten Bürger gegenüber sicher[ge]stellt“ (S. 429) habe. Die Flut der zeitgenössischen Denk- und Klageschriften von Bürgermeistern und Landräten, zu denen auch der Augsburger Amtsinhaber beigetragen hat, sprechen da bei aller Zweckgebundenheit eine ganz andere Sprache. Vor allem stellt sich jedoch die Frage, ob es für die intendierte exemplarische Untersuchung über die „Systemfunktion der Gemeinden “ (S. 13) im NS-Staat eine glückliche Entscheidung war, als Untersuchungsobjekt ausgerechnet eine Stadt mit „Gauhauptstadtsbonus“ (S. 431) auszuwählen, deren Verwaltung zudem noch unter den geschilderten besonders günstigen Rahmenbedingungen arbeiten konnte. In einer solch komfortablen, generell aber untypischen Situation ließ sich die postulierte „Selbstverwaltung“ in einem „neuen Bezugsrahmen“ (S. 426) vielleicht trefflich praktizieren. Wie aber gestaltete sich diese „Selbstverwaltung“ in den zahllosen Städten, deren Bürgermeister nicht selten wechselten, ein gespanntes Verhältnis zu den Gau- und Kreisleitern hatten oder als „Märzgefallene“ unter hohem Anpassungsdruck standen?

Abschließend bleibt festzuhalten, dass Gotto trotz dieser einschränkenden Bemerkungen ein nicht nur gut lesbares, sondern auch sehr lesenswertes und wichtiges Buch geschrieben hat. Entsprechende Referenzstudien zu anderen Städten sollten möglichst bald folgen. In diesem Zusammenhang darf man auch auf die angekündigte Studie von Katrin Holly über die finanzpolitischen Gestaltungsspielräume der Städte Augsburg und Memmingen zwischen 1930 und 1945 gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Siehe Matzerath, Horst, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1970.
2 Zitiert nach: Mecking, Sabine; Wirsching, Andreas (Hgg.), Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. Systemstabilisierende Dimensionen kommunaler Herrschaft, Paderborn 2005, S. 6.
3 Angeführt seien hier nur drei Fehler, die den westfälischen Raum betreffen: S. 37 (Heuser Oberbürgermeister von „Dortmund“), S. 79 (Kreisleiter von Lippe als „stellvertretender Regierungspräsident“), S. 374 („Kreis Ostwestfalen-Lippe“).

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