A. Daum u.a. (Hrsg.): Berlin - Washington

Titel
Berlin - Washington, 1800-2000. Capital Cities, Cultural Representation, and National Identities


Herausgeber
Daum, Andreas W.; Mauch, Christof
Reihe
Publications of the German Historical Institute
Erschienen
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
$ 80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Schalenberg, Lehrstuhl Allgemeine Geschichte der Neuzeit und Sattelzeit, Universität Zürich

Die traditionellen Aufgaben, Ansprüche und Erscheinungsformen von Hauptstädten sind unter den Vorzeichen der Globalisierung, parallel zu denen von (souveräner) Staatlichkeit, fragwürdig geworden. Zwar gibt es weiterhin – wie zuletzt mit Astana in Kasachstan – den Typ der autokratisch verfügten, auf Zentralisierung und Monumentalismus setzenden, buchstäblich aus dem Boden gestampften Machtkapitale; ein international konkurrenzfähiges Wirtschafts- und Kulturleben garantiert eine solche aber mitnichten. Und so zeichnen sich die „global cities“ heute eher durch die gezielte Transzendierung des nationalen Bezugsrahmens aus. Zudem scheint sich eine Funktionentrennung staatlicher Belange (Regierung, Oberster Gerichtshof, Nationalbank, Nachrichtendienste, etc.) und ihre Verteilung über verschiedene Städte bewährt zu haben, zumal in föderal strukturierten Gemeinwesen.

Insofern ist es ein lohnendes Unterfangen, gerade Berlin und das seit 1800 als Regierungssitz der Vereinigten Staaten dienende Washington zu vergleichen, wie es der vorliegende, aus einer Konferenz am German Historical Institute Washington (GHIW) hervor gegangene Sammelband in zwölf Beiträgen tut. Er lässt Raum für verschiedene inhaltliche Schwerpunktsetzungen und methodische Zugänge, kann aber insgesamt der neueren Politischen Kulturgeschichte zugerechnet werden, deren Interesse an Performanz, Erinnerung, Zeichen und (gebauten) Räumen empirisch vertieft wird. Besonders aufschlussreich erscheinen diejenigen Beiträge, welche eine explizit vergleichende Perspektive einnehmen – die übrigen bemühen sich zumindest um Seitenblicke auf die jeweils andere Stadt.

In seiner mustergültigen, gedankenreichen Einführung „Capitals in modern history: Inventing urban spaces for the nation“ (S. 3-28) gelingt es Andreas Daum, auf 26 Seiten die wesentlichen Fragestellungen des Bandes vorzustellen, eine elegant eingeflochtene Vorschau auf einzelne Beiträge zu geben, über die Fußnoten die Forschungsliteratur in beachtlicher Breite zu erschließen sowie hilfreiche Typologisierungen vorzunehmen: in fünf Phasen der Hauptstadtgründungen resp. -verlegungen seit der Renaissance (S. 5ff.), gefolgt von einer Differenzierung der Funktionen von Hauptstädten in politische, wirtschaftliche, ethnisch-soziale und kulturelle, die wiederum in intellektuelle, symbolische, performative und Tradition stiftende untergliedert werden (S. 13ff.). Daum legt Wert auf den prinzipiell globalhistorischen Charakter seiner Ausführungen, wiewohl Berlin und Washington auch bei ihm besondere Aufmerksamkeit genießen, und schließt mit der These der fortdauernd großen Relevanz von Hauptstädten, auch und gerade in Zeiten der Globalisierung.

Diesen Faden greift Carl Abbott, Verfasser eines Standardwerks zur Geschichte der amerikanischen Hauptstadt 1, in seinem Beitrag „Washington and Berlin: National capitals in a networked world“ auf (S. 101-124). In kritischer Absetzung von der „world city“ bzw. „global city“-Hypothese, wie sie von Saskia Sassen und anderen vertreten wird, namentlich mit Blick auf die Finanzmärkte und den von ihnen abhängigen Dienstleistungen, legt er dar: „Washington is an anomaly that requires rethinking several ancillary premises of world-city theory and reminds us of the richness of urban experience“ (S. 118). Stattdessen schlägt Abbott eine Unterteilung in „production, gateway, and transactional cities“ vor, wobei er Berlin und Washington dem letzteren Typus zurechnet. Beide seien durch ihre geografische Lage und die im 19. Jahrhundert vor allem auf die Nationsbildung konzentrierten Aufgaben „latecomers as global imperial capitals“ (S. 110), ungeachtet ihres grundsätzlich international-kosmopolitischen Charakters.

Stärker in die Politik- und Verwaltungsgeschichte blickt dagegen Alan Lessoff in seinem Beitrag „Washington under Federal Rule, 1871-1945“ (S. 235-262) zurück. Als „Bundesstadt“ ohne nennenswerte Mitspracherechte entwickelte sich die amerikanische Kapitale zunehmend zu einer Projektionsfläche des Staates und seiner Bürokratie inklusive Stadtplanern und anderen stadttechnischen Experten; Lessoff erläutert vor allem den von Alexander Shepherd konzipierten „Comprehensive Plan of Improvements von 1871, „an American version of Haussmannization“ (S. 245), und den vom „City Beautiful Movement“ imprägnierten „McMillan Plan“ von 1902 näher. In punkto Staatsbezug übertraf es Berlin, das ja bis weit ins 19. Jahrhundert hinein seinerseits wesentlich von Hof, Regierung, Militär und Polizeipräsidium abhing, dann aber durch Industrialisierung und private Initiativen ein deutlich diversifiziertes Wirtschafts- und Kulturleben zu entfalten vermochte, welches im frühen 20. Jahrhundert sogar paradigmatische Züge großstädtisch-metropolitaner Erfahrungen annahm.

Diese Ansicht wird geteilt und exemplifiziert vom Mitherausgeber des Bandes und Direktor des GHIW, Christof Mauch, der sich „Capital Gardens: The Mall and the Tiergarten in comparative perspective“ (S. 201-216) annimmt. Der Berliner Volksgarten hätte trotz der zunehmenden „Füllung“ durch Denkmäler der Hohenzollern, hoher preußischer Militärs und bildungsbürgerlicher Identifikationsfiguren einer bunten Vielfalt von Nutzern, auch protestierenden, offen gestanden, während die Washingtoner Mall im engeren Sinne politisch-zeremoniellen Zwecken gedient und eine ernst-affirmative Grundhaltung zum Staat eingefordert habe. Mehr zur Protestkultur in den beiden Hauptstädten findet sich in den komplementär zu lesenden Aufsätzen von Belinda Davis („,Everyday’ Protest and the culture of conflict in Berlin, 1830-1980“, S. 263-284) und Lucy Barber („Marches on Washington and the creation of national public spaces, 1894 to the present“, S. 285-303).

Kenneth Bowling und Ulrike Gerhard wagen gar einen diachronen Vergleich, wenn sie in ihrem detailgenauen Aufsatz „Siting Federal Capitals: The American and German debates“ (S. 31-49) beschreiben, wie knapp nach den mitunter hitzigen Diskussionen von 1783-90 resp. 1989-91 die Entscheidungen für die Regierungssitze Washington und Berlin als wahrscheinlichsten Orten für die erhoffte nationale Integration fielen. Brian Ladd 2 befragt in „Socialism on display: East Berlin as a capital“ (S. 217-231) die bekanntesten architektonischen und urbanistischen Maßnahmen der DDR auf ihre politischen Implikationen. Seine nüchtern-kritische Einschätzung der „provision of bread and circuses“ (S. 231) durch die SED dürfte kaum noch strittig sein.

Sehr anregend ist daneben Martin Geyers auf Quellenstudien basierender, Wissenschafts-, Kultur-, Institutionen- und Politikgeschichte verknüpfender Essay „Prime meridians, national time, and the symbolic authority of capitals in the nineteenth century“ (S. 79-100), der die langwierigen Debatten um die Einführung eines amerikanischen Nullmeridians nachzeichnet und im Vergleich dazu die „Normalzeit“ als Staatsangelegenheit in Preußen und namentlich in Berlin. Hiergegen wirkt Walter Erharts „Written Capitals and capital topography: Berlin and Washington in travel literature“ (S. 51-78), ungeachtet interessanter Detailbeobachtungen und der Bemühung semiotischer Theorieheroen, geradezu konventionell.

Bei manchen Beiträgen, in denen mit der Topografie oder einzelnen Gebäuden argumentiert wird, hätte man sich gut erläuternde Abbildungen, z.B. auch Pläne, vorstellen können; lediglich Janet Wards Aufsatz „Monuments of Catastrophe: Holocaust architecture in Washington and Berlin“ (S. 155-200) enthält einige fotografische Aufnahmen der Autorin aus Berlin – freilich nicht des im Text untersuchten Holocaust Memorial Museums in Washington. Der Gebrauch des Index (S. 305-318) – inzwischen eher ein Luxus für einen Sammelband – gestaltet sich nicht immer leicht, weniger durch die Kumulation von Personen-, Autoren-, Titel-, Orts- und Sachlemmata als durch manche Zuordnungen: Der Abstand zwischen „Berliner Dom“ und „Palace of the Republic, Berlin“ oder zwischen „Berlin Museum“ und „Jewish Museum, Berlin“ scheint hier beinahe weiter als vor Ort.

Auch andere kleinere Fehler haben sich in den Band eingeschlichen. Der „Grünewald“ (S. 265, 282) oder der „Templower Berg“ wären mit etwas Phantasie freilich durchaus zu finden; Arnold (S. 136 u. 148, statt Arno) Breker irritiert heute nicht in erster Linie orthografisch, das Denkmal für Haydn im Tiergarten – und erst recht seine Musik – werden das überflüssige „e“ verkraften (S. 210), und Alfred Grosser (nicht Grossner S. 44, Fußnote 30) dürfte bekannt genug sein, um ihn als Kritiker des in seinen Augen irreführenden Bonn-Vichy-Vergleichs zu erkennen. Die von Napoleon entwendete Quadriga ist allerdings, anders als von Dietmar Schirmer in seinem ansonsten gut informierten Beitrag „State, Volk, and monumental architecture in Nazi-era Berlin“ (S. 127-153) behauptet, nicht erst 1871 auf das Brandenburger Tor zurückgekehrt (S. 141), sondern bereits 1814.

Dies alles sind erträgliche Beeinträchtigungen eines gelungenen Bandes, der regelrecht dazu einlädt, hauptstädtische Räume neu zu erkunden: im Hinblick auf symbolische Zeichen bzw. Ansprüche, auf die Spuren politischer und wirtschaftlicher Macht, schließlich auf die Interpretation und (Um-)Nutzung durch die Bürger in unmittelbarer Nähe des „Souveräns“. Der komparative Blick, wie er hier praktiziert und postuliert wird, kann dabei den Horizont nur weiten.

Anmerkungen
1 Abbott, Carl, Political Terrain: Washington, D.C., from tidewater town to global metropolis, Chapel Hill 1999.
2 Einem breiteren Publikum bekannt durch: Ladd, Brian, Ghosts of Berlin. Confronting German history in the urban landscape, Chicago 1997