J. G. Müller: Der Kreis Bergheim um 1827

Titel
Der Kreis Bergheim um 1827. Preußische Bestandsaufnahme des Landes und seiner Bevölkerung, bearb. v. Sabine Graumann


Autor(en)
Müller, Johann Georg
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Richter, I: Altes Archiv, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf

Nachdem die preußische Verwaltung seit Beginn des 19. Jahrhunderts medizinische Ortsbeschreibungen anfertigen ließ, dauerte es nach dem Übergang der Rheinlande im Zuge des Wiener Kongresses nicht lange, bis auch für diese Landesteile verlässliche Übersichten des öffentlichen Gesundheitswesens, so genannte medizinische Topografien, in Auftrag gegeben wurden. Die insgesamt in der nach 1815 eingerichteten Rheinprovinz, und damit auch im Kölner Regierungsbezirk, als mangelhaft angesehene Organisation der Medizinalverwaltung sollte auf Basis dieser, auf die einzelnen Kreise bezogenen Erhebungen reformiert sowie institutionell intensiviert werden – aus staatlicher Sicht letztlich mit dem Ziel, das nationalökonomische Gut einer gesunden Bevölkerung zu pflegen. Dabei trafen sich die staatlichen Bemühungen durchaus mit Intentionen, welche Mediziner vertraten, die im Rückblick als fortschrittlich gelten. Ihnen ist wohl Johann Georg Müller (geb. 1780 in Mülheim, gest. 1842 in Düsseldorf) zuzurechnen. Er wurde der in seiner Funktion als Physikus für den 1816 im Rahmen des Regierungsbezirks Köln eingerichteten Kreis Bergheim – in gleicher Weise wie die übrigen zehn Kreisphysiker – Ende des Jahres 1824 mit der Aufgabe betraut, eine Übersicht der Gesundheits- und Krankheitsverhältnisse mit Blick auf die geografische Umwelt zu verfassen, die auch die alltäglichen Lebenssituationen der Menschen einbezog. Die Ergebnisse hatte er in einer von der Medizialverwaltung explizit vorgegebenen Schematisierung darzustellen.

Diese nun in der Bearbeitung von Sabine Graumann vollständig edierte Beschreibung und Zusammenstellung Müllers behandelt vor allem die Jahre 1820-1828 und ist die erste von drei geplanten, unter Graumanns Bearbeitung zu publizierenden Bänden, die sich auf das heutige Gebiet des Kreises Bergheim beziehen. Es sollen Editionen der parallel entstandenen Topografien der Kreise Lechenich und des Landkreises Köln folgen.

Die für die Sozialgeschichte der öffentlichen Gesundheit zentrale Quellengattung der medizinischen Topografie, welche darüber hinaus mitunter als eine Landesbeschreibung anzusehen ist, hat eine lange Publikationsgeschichte, erschienen doch edierte bzw. teilweise edierte und kommentierte Topografien einzelner Kreisen schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In jüngerer Vergangenheit folgten, freilich unter modernen Editionsgrundsätzen, Darstellungen zu Mülheim (1965-1970/1989), Bonn und Gummersbach (1988), Solingen (1991), Siegkreis (1997), Köln (1999, allerdings Stadt) und Monschau (2000), so daß mit diesen Editionen nicht nur das sozialgeschichtliche Forschungspektrum, sondern vielleicht auch die Orts- und Landesgeschichte zukünftig anregende Impulse erhalten werden. Darüber hinaus könnte beispielsweise Müllers Beschreibung der heute teilweise nicht mehr vorhandenen Flora und Fauna (vgl. S. 36/98-135), des Braunkohlenabbaus (S. 135f.) oder der Wohnverhältnisse, Bekleidung und Ernährungsgewohnheiten (S. 149-169/173-179) auf das Interesse auch einer nichtwissenschaftlichen Leserschaft stoßen.

Einleitend stellt Graumann den Lebensweg des Autors ausführlich vor (S. 1-29). Sie reflektiert dann die Quellengattung historisch und begrifflich. Die biografischen Angaben zu Müller ergänzt sie um eine detaillierte und informative Darstellung der sozialen Situation der auf Kreisebene agierenden Mediziner und erläutert berufliche Veränderungen der Chargen in jenen Jahren. Sowohl die Aufgabenbereiche von Physikus und Chirurg werden anschaulich beschrieben wie deren spezifische Situation im hier betrachteten Raum herausgestellt. Der Bearbeiterin, die eine auf dem Gebiet der Medizingeschichte ausgewiesene Wissenschaftlerin ist, dürfte es hiermit zudem gelungen sein, das von Müller in seiner Topografie – in Abweichung von dem vorgegebenen Schema – nicht beabeitete vierte Kapitel (Medizinalwesen bzw. -personal) in weiten Teilen zu ersetzen. Ihre Ausführungen werden durch das beigegebene Glossar häufig vorkommender Begriffe und Maß- sowie Gewichtseinheiten ergänzt. Quellen- und Literaturverzeichnis, ein verlässliches Namens- und Ortsregister sowie eine beigelegte zeitgenössische Karte des Kreises erleichtern die Orientierung.

Inhaltlich werden in Müllers Topografie (S. 76-234), welche Graumann zwecks Wahrung möglichst großer Authentizität mit nur geringfügigen sprachlichen Modernisierungen wiedergibt, hauptsächlich drei Themen behandelt. Im ersten Teil werden die „Beschaffenheit des Landes“ (Lage, Klima, Bodenverhältnisse, Fauna und Flora) beschrieben. Der zweite Teil umfaßt die Darstellung des ‚physischen und moralischen Zustands’ der Kreisbevölkerung (Wohnung, Kleidung, Nahrungsweise, Erwerbsformen, Kindererziehung etc.). Der Abschnitt beginnt mit einer Geschichtsdarstellung von der germanischen Zeit bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Von Interesse dürfte dabei vor allem die vom Autor eingenommene Perspektive sein, die einen Eindruck der Geschichtskenntnisse und -vorstellungen eines gebildeten Arztes der damaligen Zeit vermittelt, nicht zuletzt auch seine Bewertung der politischen Entwicklung, wobei er sich nur beiläufig als ein gegenüber der französischen Revolution und deren Folgen kritischer Beobachter erweist. Ähnlich verhält es sich mit seiner auf medizinische Zweifel zurückgehenden Ablehnung der katholischen Taufpraxis („die nach dem katholischen Ritus im allgemeinen in der Kirche geschehen soll“, S. 190), die ihn insbesondere zu winterlicher Zeit bei großen Entfernungen zwischen Geburtshaus und Kirche besorgt. Obwohl Katholik, wiegt für Müller hier seine methodisch doch schon deutlich der Empirie verpflichtete ärztliche Profession schwerer als die religiöse Tradition, der die meisten seiner von ihm als ungebildet charakterisierten Glaubensangehörigen offenbar folgen. Als überzeugter Anhänger staatlicher Ordnungspolitik, aber sicher auch aus dem Gefühl der Verpflichtung gegenüber seinem Dienstherrn heraus, richtet Müller verschiedentlich Appelle an die preußische Regierung, sie möge verstärkt in die als mangelhaft dargestellten Verhältnisse eingreifen, etwa hinsichtlich der Ernährung und Hygiene. Er dehnt dies selbst auf persönliche Verhaltensweisen wie die Kleiderwahl aus („So rächt sich die Natur an unsern gepanzerten Mädchen und Weiber[n] ... Dem Uebel sollte gesteuert werden, wozu höhere Medizinalbehörden wohl das ihrige beitragen könnten.“, S. 157).

Im abschließenden dritten Teil thematisiert Müller den „Krankheitszustand“ der Einwohner, wobei die Behandlung der Kinderkrankheiten breiteren Raum einnimmt. Alles in allem ist er mit dem Gesundheitszustand der rund 28.000 Einwohner (1825) seines Kreises zufrieden, den er als Ergebnis einer Zusammenwirkung der Faktoren Klima und Lebensumstände versteht; dabei nimmt er zugleich starke Unterschiede zwischen vermögenden und armen Menschen wahr. Der Abhandlung sind 13 Tabellen beigefügt, die topografische Übersichten sowie Aufstellungen zum Bevölkerungsstand, Gewerben, Krankheiten und medizinischen Behandlungen, unter anderem Impfungen und Hebammentätigkeit, geben.

So bleibt resümierend die Edition dieser Quelle zu begrüßen, die für unterschiedlich angelegte Fragestellungen nutzbar ist. Sie bietet für den behandelten Raum einen, wenn auch aus der subjektiven Perspektive des Autors gewonnenen Eindruck von den Lebensformen unterschiedlicher Bevölkerungsschichten vor der Industrialisierung. Die historische Einordnung und Kommentierung durch die Bearbeiterin ist insgesamt als sehr gelungen zu bezeichnen. Besonders der große Arbeitsaufwand bei der Ergänzung der lateinischen Pflanzennamen um die heutigen deutschen Namen (S. 111ff.) ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben. So bleibt nur Marginales zu kritisieren. Bei den vor dem Abdruck des Quellentextes eingefügten Abbildungen ist die Wiedergabequalität trotz einwandfreier Vorlagen nicht durchgängig gut (vgl. Abb. 17); fraglich bleibt auch, ob der Abdruck aller Karten sinnvoll war, ist doch z.B. auf Abb. 5 (Regierungsbezirk Köln) aufgrund des Maßstabes kaum etwas zu erkennen. An einigen Stellen wäre die Einfügung von Zwischenüberschriften wünschenswert gewesen. Vielfach werden Nachweise bzw. Verweise auf Online-Adressen gegeben, die leider in einigen Fällen bereits für den Rezensenten nicht mehr auffindbar waren. Vereinzelt sind stilistische Laxheiten zu bemängeln. Inhaltlich mag man einzelne Bewertungen nur eingeschränkt teilen, etwa ob Müller „als Vorreiter der wenig später aufkommenden Bewegung der wissenschaftlichen Hygiene“ (S. 41) anzusehen ist. Das bleibt angesichts einer wohl kaum nachzuweisenden Wirkung dieser einen von insgesamt elf Topografien, die allein im Regierungsbezirk Köln erstellt wurden, auf die dortige Regierung sicher zweifelhaft (vgl. S. 73, wo Graumann konstatiert, „daß die Studie von Dr. Müller im wesentlichen ohne sichtbare direkte Auswirkungen zu sein scheint“ (S. 73).