Westfälisches Landesmedienzentrum: Aufbau West

Cover
Titel
Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder


Autor(en)
Höper, Hermann-Josef; Kuhn, Anja; Zech, Björn
Herausgeber
Landschaftsverband Westfalen-Lippe
Erschienen
Anzahl Seiten
1 CD-ROM/DVD
Preis
19,90 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas E. Fischer, Berufsfachschule Screen-Design, Hamburg

Es geht auch ohne Schnipselstil: Zeitzeugen, die länger als ein paar Augenblicke zu Wort kommen, zeitgenössische Dokumentarfilme, die ungeschnitten gezeigt werden, Dokumentationen, die nicht auf plakative Collage und Authentizismus, sondern auf die Geduld des Zuschauers bauen. Nur: Dahinter steht dann kein Fernsehsender, sondern ein Museum.

Die Erinnerung an Vertreibung, Flüchtlingselend und Wiederaufbau hat derzeit Konjunktur in Literatur, Fernsehen, Film und im Ausstellungswesen, wobei gerade dieser Bereich in der Regel eine glückliche Balance zwischen historischer Zuverlässigkeit, Begrenzung der Stoffmenge und emotionaler Ansprache erreicht. So auch hier. Die vorliegende DVD präsentiert zum einen die Ergebnisse und ausgewählte Exponate einer kürzlich beendeten Ausstellung im Westfälischen Industriemuseum in Dortmund, zum anderen drei Filme zum Thema, die in den Jahren 1949 bis 1954 entstanden sind. Dazu ist das Medium geteilt in einen fernsehfähigen Videoteil und eine ohne Installation ablaufende Multimedia-Anwendung für Windows und MacOS.

Im Multimedia-Teil werden die verschiedenen Aspekte der Vertreibungsgeschichte in Bild und Text übersichtlich, wenn auch knapp vorgestellt: Zunächst der Alltag im deutschen Mittelosteuropa vor und während des Krieges, dann die Flucht vor der Front bzw. die gewaltsame Vertreibung unmittelbar nach Kriegsende, die wenigen Erinnerungsstücke, die neben dem Allernotwendigsten ins Handgepäck gepasst hatten, nach einer Odyssee über mehrere zufällige Stationen das Ankommen in unbekannten Ortschaften mit oft unwilligen, selbst Mangel leidenden Nachbarn, das langsame Errichten eines neuen Alltags, die Sorgen um Essen, Wohnung und Arbeit, das Mitwirken am Wiederaufbau und schließlich die allmähliche Integration. Nachdem die insgesamt über zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene zunächst in die ländlich geprägten Besatzungsgebiete gelenkt worden waren, übertraf Ende der 1940er Jahre die Zuwanderung nach Nordrhein-Westfalen diejenige aller anderen westdeutschen Bundesländer, denn hier befanden sich mit Bergbau und Schwerindustrie die seinerzeit wichtigsten Wirtschaftszweige. 1960 stammte jeder fünfte Einwohner in NRW aus dem Osten.

Der rote Faden dieser multimedialen Erzählung sind die autobiografischen Schilderungen von vier Zeitzeugen, die bei Kriegsende zwischen sieben und 23 Jahre alt waren und aus Kleinstädten in Schlesien, Westpreußen und dem Sudetenland stammten. Der Jüngste etwa wuchs in einer ländlich geprägten Großfamilie auf, die durch die allein erziehende Mutter zusammengehalten wurde. Im eisigen Winter 1945 floh er mit Lazarettzügen zunächst nach Stettin, dann über Berlin und Thüringen in die „Mondlandschaft“ von Bochum, wo er zuerst die Volksschule beendete und dann als Bergjungmann und später als Hochöfner arbeitete. Die Älteste in dieser Runde hatte bei Kriegsende schon geheiratet, traf nach überstürzter Flucht und dem Passieren mehrerer Flüchtlingslager hochschwanger im Dorf Nordwalde ein, wo sie mit ihrer Familie zuerst auf einem Bauernhof untergebracht wurde und somit bei aller Bedrängnis wenigstens eine gesicherte Ernährungsgrundlage hatte. Obwohl 1952 ein Eigenheim gebaut wurde, behielt sie ihre schlesischen Bräuche bei, besuchte Schlesiertreffen und fuhr nach dem Ende des Kalten Krieges mit ihren Kindern einmal „nach Hause“.

Ergänzt wird der Multimedia-Teil unter anderem durch ein paar interaktive Karten, mehrere Zitate zum Begriff „Heimat“, eine zweiminütige Radioreportage über den Zigarettenschwarzmarkt in Köln 1947 und vor allem durch ein Quiz mit 36 Fragen, das sich allein oder zu dritt spielen lässt und vor allem für den Einsatz im Schulunterricht gedacht ist. Auch das Schlusskapitel ist vor allem für Schüler gedacht: Hierin geht es um die Spuren, die sich von den Vertriebenen heute noch finden lassen: Überbleibsel auf dem Dachboden, Ausstellungsstücke in den Heimatstuben, Straßennamen oder Waren mit ostdeutscher Herkunft wie „Schneekoppe“-Produkte (nach einem Berg im schlesischen Riesengebirge) oder Käthe-Kruse-Puppen. Elf Bücher werden zum Lesen empfohlen, darunter Grass’ „Im Krebsgang“, Tanja Dückers’ „Himmelskörper“ und Willi Fährmanns Jugendbuch „Das Jahr der Wölfe“.

Der Video-Teil zeigt nach einem 15-minütigen Einführungsfilm drei zeitgenössische Produktionen: Rudolf Kipps „Report on the Refugee Situation“ (1949, von 37 auf 25 Minuten gekürzt, deutschsprachige Fassung) handelt von illegalen Grenzgängern, dem Leben in den Flüchtlingslagern, den tragischen Gesprächen mit den Registrierungsbeamten und machte seinerzeit auch international Furore. Elisabeth Wilms’ „Stadt in Schutt und Asche“ (1951, 44 min.) war gedacht, dem Weltkirchenrat und anderen karitativen Einrichtungen zu zeigen, wo und wie ihre Hilfe verwendet wurde, und den Zuschauern Hoffnung zu vermitteln, auch wenn die abgebildete Not und Unterernährung im ausgebombten Dortmund erschütternd wirkt. Alexander Treleanis „Denn wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“ (1954, 13 min.) war ein Werbefilm für die von der evangelischen Kirche und dem Land NRW errichtete Flüchtlingssiedlung Espelkamp zwischen Minden und Osnabrück, als Hauptdarsteller der spielfilmartigen Rahmenhandlung agierte der junge Horst Tappert. Zu allen Filmen finden sich Kurzfassungen und Zusatzinformationen im Multimedia-Teil.

Insgesamt handelt es sich in technischer Hinsicht um eine solide, schnörkellose Produktion mit guter Benutzerführung (wobei nur die „schließen“-Schaltfläche ungünstig positioniert ist). Alle Texte, Bilder und Filme des Multimedia-Teils liegen auch als einzelne Dateien vor oder lassen sich aus der Anwendung heraus als druckfähige PDFs exportieren. Das beigefügte 16-seitige Booklet enthält alle wichtigen Angaben zu Software, Quellen und Impressum. Erhältlich ist die DVD direkt beim Westfälischen Landesmedienzentrum, für 45 Euro erhält man das Recht, die Filme auf der DVD öffentlich vorzuführen. Auch der Begleitkatalog zur Ausstellung ist weiterhin verfügbar.

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