Titel
Den Fluchtweg zurückgehen. Remigration nach Nordrhein und Westfalen 1945-1955


Autor(en)
Lissner, Cordula
Reihe
Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 73
Erschienen
Anzahl Seiten
395 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marita Krauss, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Für das Thema der Remigration nach 1945, also der Rückkehr aus dem nationalsozialistischen Exil nach Deutschland, liegen bisher vergleichsweise wenige fundierte Studien vor. Es ist daher sehr erfreulich und verdienstvoll, dass Cordula Lissner ihre Dissertation diesem Thema gewidmet hat. Die Beschränkung auf ein Bundesland und eine relativ kurze Zeitspanne ermöglicht es ihr, exemplarisch tiefer zu graben; sie fördert dabei viel Wissenswertes und bisher nicht Bekanntes zutage. Der landesgeschichtliche Ansatz ist für das Thema besonders sinnvoll, geht es doch dabei immer auch um die regionale Aufnahmegesellschaft und ihre spezifischen Bedingungen, um die Politik der jeweiligen Besatzungsmächte, um die Hilfsangebote durch regionale und lokale Partei- und Gewerkschaftsverbände, um die Unterstützung durch die jüdischen Gemeinden vor Ort.

Bereits die geografische Lage konnte zu Unterschieden führen: So kamen in den ersten beiden Nachkriegsjahren viele Rückkehrer illegal aus den westlich angrenzenden Ländern nach Nordrhein-Westfalen, deutlich mehr als in andere Bundesländer. Lissner berichtet anhand von Einzelschicksalen über Rückwege, Ankunft, Entschädigungspolitik, über Startchancen für Exilrückkehrer/innen auf kommunaler, regionaler und Landesebene, über Neuanfänge in Beruf und Alltag. Das gesellschaftspolitische Engagement von Remigranten/innen zeigt sie am Beispiel der Tätigkeit für den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden, für die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ und in der oft bis hin zu einer erneuten Emigration verstörenden Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus.

Lissners biografische Untersuchungsgrundlage, ein Sample von 427 Personen, die auch im Anhang mit Kurzbiografien wiedergegeben sind, spiegelt die Problematik aller Remigrationsforschung: Remigranten sind nicht Mitglieder einer gut organisierten „Gruppe“, sondern mehr oder weniger bekannte Einzelne, die sich nur mühsam aufspüren lassen, sei es im „Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933“, sei es in Archiven, in Nachlässen, durch Erzählungen und Empfehlungen. Lissner hat mit großer Mühe erfreulich viele neue Bestände für die Remigrationsforschung erschlossen, darunter Entschädigungsakten, Kaderakten remigrierter Kommunisten, „Oral-History-Interviews“ in nordrhein-westfälischen Gedenkstätten und Dokumentationszentren, punktuell auch die Überlieferung der jüdischen Gemeinden. Das ist sinnvoll und ergiebig. Das Buch erweitert und ergänzt die bisherigen Kenntnisse über Remigranten/innen, auch wenn die in der Einleitung versprochenen „kulturwissenschaftlichen und erfahrungsgeschichtlichen“ Perspektiven im Hauptteil der Arbeit nicht unbedingt zu weiterreichenden neuen Forschungsergebnissen oder Fragestellungen führen.

Da sich bisherige Forschungen zum Thema Remigration schwerpunktmäßig mit der Frage befassten, ob und inwiefern Exil und Rückkehr in den Ausgangs- oder Zielländern zu Veränderungen, zu Transfers, zu Wissenschaftswandel führten, war die Fokussierung auf bestimmte Gruppen nahe liegend – man mag sie „Eliten“ nennen oder „Personen des öffentlichen Lebens“. Doch auch bisher ging es in der Remigrationsforschung schon um die schwierigen inneren Prozesse, die Exilierung und Rückkehr begleiteten, um die bedrückende Abwehr der in Deutschland Gebliebenen gegenüber Emigranten/innen und Remigranten/innen vor allem mit jüdischem Familienhintergrund, um die ausgebliebenen Rückrufe, die kaum vereinbaren Perspektiven „von außen“ und „von innen“ sowie die Schwierigkeiten der Emigranten, nach einer Rückkehr wieder in Deutschland Fuß zu fassen. „Elitenforschung“, gegen die sich Lissner wendet, bedeutete keineswegs, „nur eine kleine Gruppe ‚erfolgreicher‘ Remigranten zu betrachten“ (S. 12).

Es ist verdienstvoll, ganz bewusst nach den „Unbekannten“ in der Geschichte zu forschen; das betrifft zum Beispiel Rückkehrerinnen, die hier angemessen berücksichtigt werden. Doch auch sehr viele der von Lissner betrachteten Menschen gehören zu den Personen des öffentlichen Lebens: Das gilt für die Remigrierten in Parteien und Gewerkschaften, für die Debatte um Thomas Mann, für die Korrespondenzen von Wissenschaftlern wie Werner Milch und Richard Alewyn, für den Umgang mit kommunistischen Künstlern/innen und Theaterleuten. Warum also diese Abgrenzungsattitüde gegenüber der bisherigen Forschung zur Remigration? Ähnlich ist es übrigens mit der Migrationsforschung; diese „blendet die Erfahrungen der Migranten und Migrantinnen“ keineswegs „vollständig aus“, wie Lissner meint (S. 15). Migrationsforschung ist eine internationale, ungemein facettenreiche Forschungsrichtung, genuin interdisziplinär, multiperspektivisch und vielfach auch erfahrungsgeschichtlich bestimmt. So gut und wichtig es ist, dass Lissner „Erfahrungsgeschichte“ betreibt und anmahnt: Letztlich unterscheiden sich die von ihr untersuchten Themenfelder, auch wenn sie ausführlich über Einzelbiografien erzählt werden, nicht grundsätzlich von bisherigen Forschungen.

In der „Schlussbetrachtung“ greift Lissner die eigenen Fragestellungen aus der Einleitung wieder auf; doch diese – durchaus interessanten – Überlegungen knüpfen nur sehr mittelbar an die Buchkapitel an. Sollte tatsächlich das „kommunikative Beschweigen“ der NS-Zeit (Hermann Lübbe) auch mit dem Wunsch verbunden gewesen sein, die veränderten Rollenbilder der Geschlechter im Exil zu vergessen, so traf dies sicherlich gleichermaßen für diejenigen zu, die nicht im Exil gewesen waren und nun die veränderten Rollen aus der Kriegszeit vergessen wollten. Aber galt der Wunsch nach Vergessen nicht doch vorrangig anderem? Auch der Zusammenhang von Zugehörigkeit zu bestimmten Altersgruppen, also „Generationen“, und Exil- bzw. Remigrationsbiografie lässt sich mit weitgehend identischen Ergebnissen in Forschungen zur Vertriebenenintegration nach 1945 finden. Es hätte hier nicht geschadet, solche Ergebnisse vergleichend einzuarbeiten. Überdies gab es für Remigranten/innen der ersten Generation keineswegs nur die Möglichkeit, sich zuzuordnen oder fremd zu bleiben; es war vielmehr gerade die erste Generation, die transkulturell lebte – so etliche Journalisten/innen, Juristen/innen, Wissenschaftler/innen und Künstler/innen, die in mehreren Welten zu Hause waren und die Grenzen häufig überschritten.

Die Beschränkung auf die ersten zehn Nachkriegsjahre und auf ein Bundesland ermöglicht Lissner jedoch den Mikro-Blick auf die Strukturen und zeitlichen Phasen. Sie bestätigt viele Forschungsergebnisse, aber auch manche Vermutungen – und sie macht Unterschiede sichtbar, die durch weitere Länderstudien profiliert werden sollten. Die vielen Einzelschicksale, die ausführlich geschildert und manchmal auch bebildert werden, geben den Rückkehrern/innen Gesicht und Stimme. Das ist zweifellos eine der Stärken des Buches, das dadurch anschaulich und in weiten Strecken berührend wird. Remigrationsforschung erweist sich einmal mehr als großes Puzzle, in dem sich Einzelteile umso besser zuordnen lassen, je mehr man bereits zusammengesetzt hat.

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