Th. Mergel u.a. (Hgg.): Geschichte zw. Kultur und Gesellschaft

Titel
Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beitraege zur Theoriedebatte


Herausgeber
Mergel, Thomas; Welskopp, Thomas
Reihe
Beck'sche Reihe 1211
Erschienen
München 1997: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 12,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Dirk van Laak, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universitaet

Mitten in der Arbeit an einer Darstellung zur Alltagsgeschichte erreicht den Rezensenten die Anfrage, den angezeigten Band zu besprechen. Warum nicht, das passt doch, denkt er in der Erwartung, dass er hier vielleicht auch etwas ueber die Fortsetzung des Streits zwischen Alltags- und Strukturgeschichte erfaehrt. War die vormals so einseitige Orientierung der Gesellschaftsgeschichte an den grossen Strukturen nicht durch die Geschichte 'von unten' recht wirkungsvoll in Frage gestellt worden? Waren nicht hierdurch an die Dimensionen des Subjektiven, der Erfahrungen, des Fremden im scheinbar Bekannten erinnert worden, die in der historischen Sozialwissenschaft so abwesend schienen? Mit wenigen Bemerkungen wird die Alltagsgeschichte in dem Band jedoch als blosse Oppositionsbewegung mit "einer gewissen spiegelbildlichen Einseitigkeit" (S. 25) gegenueber der Sozialgeschichte beiseitegeschoben. Statt der alltags- und erfahrungsgeschichtlichen Herausforderung ist namentlich von Hans-Ulrich Wehler die "Herausforderung der Kulturgeschichte" angenommen und in einem Kommentar zu diesem Band sogar zur fuenften grossen Grundlagendiskussion der deutschen Geschichtswissenschaft geadelt worden (S. 351, vgl. auch die Besprechung von Thorsten Benner auf diesem Forum am 4. Januar 1999).

Diesen Ton des Bedeutsamen konnte man letzthin des oefteren vernehmen, etwa auch von Ute Daniel, die Clio sogar unter einem "Kulturschock" waehnt (Daniel 1997). Doch trotz solcher Beschwoerungen eines einschneidenden Kurswechsels will sich in der Zunft der Eifer eines Lamprecht-Streits oder der Theoriedebatte der fruehen 70er Jahre bislang nicht recht einstellen. Statt dessen gibt es in den USA bereits ein politik- und ereignisgeschichtliches "rollback" gegen die postmodernen Abstraktionen und begrifflichen Verschrobenheiten der neuen Kulturgeschichte, die so neu nun auch nicht mehr ist. Es scheint, als sei die Pluralisierung der methodischen Ansaetze - gluecklicherweise! - inzwischen derart fortgeschritten, dass die Kaempfe der geschichtswissenschaftlichen Giganten, die frueher diese Debatten und die Nachwuchsrekrutierung dominierten, nicht laenger diese Exklusivitaet fuer sich beanspruchen koennen. Die Herausgeber konstatieren denn auch mit einem gewissen Zweckpessimismus: "Wahrscheinlich faellt bislang nur uns, den Herausgebern, auf, wie sehr sich in dieser Hinsicht auch in der deutschen Geschichtswissenschaft eine Tendenzwende abzeichnet" (S. 11).

In der Einleitung wird Geschichte definiert als moegliches Geschehen zwischen Struktur und Handlung, in dem in komplex geschichteter, gleichwohl konstanter und regelmaessiger Weise miteinander kommuniziert wird. Theorien werden hier vorgestellt als durch das Vetorecht der Quellen revidierbare Denkmodelle mittlerer Reichweite. Das sind angenehm offene, aber heute wohl auch weithin konsensfaehige Vorstellungen. Wozu also die rhetorischen Forderungen nach einer "Radikalitaet der geforderten Umorientierung" (S. 69), die Thomas Welskopp in einem Beitrag zu "Geschichte und Gesellschaft" kuerzlich noch verstaerkt hat. Darin unterstellte er der Sozialgeschichte deutliche "Alterserscheinungen" und forderte dazu auf, "die Historische Gesellschaftswissenschaft fit fuer das naechste Jahrhundert" zu machen (Welskopp 1998).

Neue Generationen reiben sich an den alten, das ist wohl ein ehernes Gesetz der Geschichte und ihrer Wissenschaft. Die Hinwendung zur neuen Kulturgeschichte hat sich freilich evolutionaer aus den Forschungsfragen der letzten zehn, zwanzig Jahre entwickelt. Schon 1974 hatte Werner Conze die Sozialgeschichte staendig "in der Erweiterung" gesehen. Es stimmt dennoch, dass es einer "methodisch gewendeten Gesellschaftsgeschichte" (S. 69) bedurfte, damit sie sich endlich des Lebens ganzer Fuelle zuwenden konnte. Schliesslich beansprucht sie, in Wehlers Worten (und Taten) "das schwierige Werk synthetischer Darstellungen" weiterzutreiben (S. 351), und das hatte bislang gerade bei kulturellen Phaenomenen nicht in jeder Hinsicht ueberzeugen koennen. Aber das ist ein von Wehler laengst eingestandenes Defizit.

Die Beitraege des vorliegenden Bandes wollen den Theoriehaushalt der Sozialgeschichte weiter anreichern. Dabei folgen sie einem aehnlichen Schema: Zunaechst wird jeweils ein Forschungsfeld beschrieben, das meist aus den anstehenden Qualifikationsarbeiten der Autoren entnommen ist. Sodann werden Theoretiker oder Theoreme vorgestellt, von denen man sich methodische Erweiterungen erhofft. So stellen der Reihe nach Thomas Welskopp Max Weber und Anthony Giddens vor, Sven Reichardt skizziert Pierre Bourdieus Habitus-Konzept, Rudolf Schloegl wendet Niklas Luhmann auf die Froemmigkeit katholischer Stadtbuerger an, Gunilla-Friederike Budde beschreibt den Wandel geschlechtergeschichtlicher Zugaenge der letzten Jahre, Raymond C. Sun erinnert an Antonio Gramscis Theorem der "kulturellen Hegemonie", Siegfried Weichlein untersucht den Nationalismus als soziale Einheits- und Ordnungsvorstellung, Thomas Mergel verfolgt den Weg der unterschiedlichen Modernisierungstheorien seit den 50er Jahren, kultur- und sozialanthropologische Ansaetze werden von Thomas Sokoll rekapituliert, Paul Nolte charakterisiert diverse Gesellschaftstheorien und soziale Selbstbeschreibungen seit dem 19. Jahrhundert und Friedrich Jaeger laesst sich auf kommunitaristische Modelle der "civil society" ein. Suzanne Marchand schliesslich versucht die Anregungen und Begrenzungen Michel Foucaults abzuwaegen. Die meisten Beitraege versuchen, die Leistungsfaehigkeit der Ansaetze jeweils an einem Fallbeispiel zu demonstrieren.

Nun sind die meisten der hier vorgestellten Theoretiker bereits seit laengerem in den Buecherregalen der Historiker vertreten, gehoeren sie doch fast ausnahmslos zum festen Bestandteil der 'Suhrkamp-Kultur'. Sollte ihnen gleichsam aus den Grabbelkisten vor den Uni-Mensen heraus eine zweite Karriere beschieden sein? Es ist auffaellig, dass die Resuemees der Beitraege fast durchweg merkwuerdig blass und eher handzahm ausfallen. Keiner der Mitarbeiter ist ausgeritten, um heilige Kuehe zu schlachten, statt dessen bemuehen sich alle um eine vermittelnde Position zwischen den Ebenen und den Methoden der Forschung. Dabei werden allerdings Elemente zusammengefuehrt, die zuvor oft recht willkuerlich getrennt worden sind. Besonders die geradezu leitmotivische Gegenueberstellung von Handlungs- und Strukturtheorie wirkt allzu gewollt, schliesslich sind Max Weber jetzt seit mindestens 80 Jahren, Norbert Elias seit 60 Jahren, die Ansaetze der "Annales" und Michel Foucaults seit gut 40 Jahren auf dem Markt, und wer wollte ernsthaft behaupten, dass sie, die immer schon nach den Interaktionen und Wechselwirkungen zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen gefragt haben, in der deutschen Geschichtswissenschaft keine Spuren hinterlassen haetten?

Thomas Welskopp dichotomisiert dabei wiederum am staerksten: "Die Konsequenz der gegenwaertigen Debatte zwischen Sozial- und Kulturgeschichte ist eine - jeweils spiegelbildliche - Verabsolutierung einer strukturellen oder einer akteursorientierten Perspektive, so als ob die Frage nach den Menschen und den Verhaeltnissen zumindest prinzipiell als eine alternative entscheidbar waere." (S. 41f.) Diese und andere Feststellungen verabsolutieren jedoch ihrerseits, und man fragt etwas erstaunt, was sich in solch konstruierten Behauptungen spiegelt. Fast ist man versucht, die hier vorgestellten Beschreibungsmodelle "Habitus", "autopoietisches System" oder "kulturelle Hegemonie" auf das Unternehmen selbst anzuwenden. Denn so offen und angeregt man sich gegenueber den hier vorgestellten Theoremen auch gibt, der in der Einleitung formulierte Anspruch wirkt doch unter dem Strich eher selbstbezueglich. Dazu traegt auch bei, dass man in dem abschliessenden Kommentar Wehlers die autoritative Rezension gleichsam mitgeliefert hat: Und so spricht der Uebervater dem Unternehmen dreimal Lob und dreimal Tadel aus, sechs der Beitraeger geraten ins Toepfchen der gelaeuterten Gesellschaftsgeschichte und sechs ins Kroepfchen. Dass die Kritik weitgehend auf die nicht-Bielefelder Beitraeger beschraenkt bleibt, wird wohl ein Zufall sein.

Der Rezensent erlaubt sich zu diesem Gutachten ein dissenting vote: Als besonders ueberzeugende und informative Herleitungen verdienen die Beitraege von Gunilla-Friederike Budde, Thomas Mergel und Thomas Sokoll hervorgehoben zu werden. Bei Thomas Welskopp, Paul Nolte und Friedrich Jaeger bleibt, so viel Anregungen sie im einzelnen aufnehmen und weitergeben, der Mehrwert des Gesamten dagegen etwas im Dunkeln. Doch gehoeren auch sie keineswegs zu den Beitraegen, auf die man laut Wehler (S. 353) muehelos haette verzichten koennen. Allerdings moechte man einige der Beitraeger an das Wort Karl Raimund Poppers erinnern, dass sich die Klarheit der Gedanken auch in der Klarheit der Sprache und Argumente sollte wiederfinden lassen. Eine Rueckkehr zur Theoriesprache der siebziger Jahre koennte fuer die Konjunktur des oeffentlichen Interesses an Geschichte, von der die Historiker nun seit zwanzig Jahren profitieren, jedenfalls fatale Folgen haben.

Insgesamt aber ist mit Wehler uebereinzustimmen, dass sich der Band um eine produktive Weiterfuehrung theoretischer Ansaetze an exemplarischen Objekten der Forschung bemueht. Die von Wehler konstatierte "wohltuende Abwesenheit von bilderstuermerischer Heilsgewissheit" (S. 352) ist einer neuen Generation geschuldet, die in ihrem Werdegang einen "mehr oder weniger unorthodoxen Umgang mit theoretischen Ueberlegungen gelernt hat" (S. 10), die sich nicht in erster Linie von politischen Ueberzeugungen, sondern von Neugier treiben laesst und sich ueberdies ihr "Irritationsvermoegen" bewahrt hat (Conrad/Kessel 1998). Diese erkenntniskritische Laeuterung ist vielleicht das wichtigste Ergebnis der Postmoderne gewesen. Indem politische Vorannahmen reduziert und unterschwellige Paradigmen ueber den vermeintlich "normalen" Verlauf gesellschaftlicher Modernisierung vermieden werden, hat die Komplexitaet des historisch Konstatierbaren wieder zunehmen koennen.

Freilich: An die Vielschichtigkeit des Wirklichen, die Ambivalenzen des politischen und oekonomischen Fortschritts, die Sensibilitaet fuer moegliche Alternativen im historischen Prozess und die Grenzen des Erhabenen im Erleben des Einzelnen haben nicht in erster Linie Theoretiker gleich welcher Reichweite erinnert. In die historische Forschung sind diese Ebenen durch die Praxis der Alltagsgeschichte zurueckgekehrt. Mag sie auch theoretisch rasch an Grenzen gestossen und institutionell weitgehend gescheitert sein, ihre Bedeutung fuer eine Pluralisierung der geschichtswissenschaftlichen Ansaetze und ihre Wirkung auf den Sitz der Geschichte "im Leben" sind dennoch enorm gewesen. Davon laesst sich der Rezensent auch nach der Lektuere dieses anregenden Bandes nicht abbringen. Oder sollte er bei seiner Arbeit selbst der autopoietischen Suggestion erlegen sein?

Zitierte Literatur:

Ute Daniel: Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 48, Heft 4-5/1997, S. 195-218, 259-278.
Thomas Welskopp: Die Sozialgeschichte der Vaeter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft, Heft 2/1998, S. 173-198.
Christoph Conrad/Martina Kessel: Blickwechsel: Moderne, Kultur, Geschichte, in dies. (Hg.): Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 10.

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