T. Großbölting: SED-Diktatur und Gesellschaft

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Titel
SED-Diktatur und Gesellschaft. Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in Magdeburg und Halle


Autor(en)
Großbölting, Thomas
Reihe
Studien zur Landesgeschichte 7
Erschienen
Anzahl Seiten
518 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegrid Schütz, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen

Ein Mangel an Bürgerlichkeit in der ostdeutschen (Teil-)Gesellschaft wird seit der Vereinigung von Publizisten, Politikern und Intellektuellen immer wieder beklagt. Es fehle in den neuen Ländern an einer "Kultur des Unternehmerischen, des Geistes und der Vielfalt", während "die Kultur der Gleichmacherei, des Proletarischen und des Antikapitalistischen" dominiere. Mit anderen Worten: Der SED und ihrem ideologisch motivierten Projekt, in der DDR eine sozialistische Gesellschaft zu konstruieren, sei es nicht nur gelungen, das Bürgertum "als Klasse" zu zerschlagen, sondern auch die damit einhergehende Bürgerlichkeit zu beseitigen oder zumindest in Nischen zurückzudrängen, wo sie keine gesamtgesellschaftlich prägende Kraft mehr entfalten konnte. 1

Die historische Forschung hat sich bisher vor allem einzelnen traditionell bürgerlichen Professionen (Pfarrern, Ärzten, Professoren) zugewandt; daneben wurde analysiert, wie die SED partiell bürgerliche Verhaltensmuster favorisierte und bürgerliche Kulturwerte vereinnahmte. 2 Doch insgesamt wissen wir wenig über die Beharrungskraft des bürgerlichen Milieus im Angesicht der doppelten Herausforderung durch die SED, welche zwischen anfänglicher Bündnispolitik und diktatorischer Gesellschaftskonstruktion changierte.

Die breit angelegte und quellengesättigte Dissertation von Thomas Großbölting schließt nun einige Lücken in diesem Feld. In den beiden Städten Magdeburg und Halle untersucht er "Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung" vom Kriegsende bis nach dem Mauerbau. Gegenstand seiner Arbeit sind bildungsbürgerliche und wirtschaftsbürgerliche Vergesellschaftungen: die Magdeburger Abendredegesellschaft Vespertina, der aus Professoren der Universität Halle bestehende Spirituskreis und die in denselben Städten ansässigen Industrie- und Handelskammern. Zum Teil stammten sie schon aus dem 19. Jahrhundert, hatten NS-Zeit und Weltkrieg überdauert, und ihre Mitglieder wollten in bewährter Manier und tradiertem Selbstverständnis am Wiederaufbau einer bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland mitwirken. Doch schon früh zeigte sich, dass das, was die neuen Machthaber auf der einen und die alten Eliten auf der anderen Seite unter politischem und wirtschaftlichem Neuanfang verstanden, nicht miteinander zu vereinbaren war.

Großbölting verbindet das von den Bielefelder Bürgertumsforschern entwickelte Konzept der Bürgerlichkeit als Set von Wertorientierungen, Verhaltensweisen und Konventionen mit dem aus dem Frankfurter Bürgertumsprojekt stammenden Focus auf die Stadt als bürgerlichem Lebensraum mit lokal bestimmten Konstituierungsfaktoren. Der erste Teil (B) beschreibt den Neuanfang in Magdeburg und Halle, die lokalen Lebenslagen nach Kriegsende, die Wiederanfänge kommunaler Selbstverwaltung sowie die beginnende Neuordnung des öffentlichen Raums durch SMAD und SED. Zugleich richtet er den Blick auf die "Krise der Selbständigkeit" (Tenfelde), die einen zentralen Bestandteil bürgerlicher Existenz und bürgerlichen Selbstverständnisses unterhöhlte; die langsame Marginalisierung der bürgerlichen Parteien, die zunehmende Kontrolle von Kultureinrichtungen, die Beschränkung der bürgerlichen Lokalzeitungen, die Umstrukturierung des Vereinswesens werden ebenfalls einbezogen. Großbölting arbeitet ein lokales Panorama heraus, vor dessen Hintergrund die im Anschluss untersuchten bürgerlichen Eliten agierten, und skizziert so den "Weg von der 'bürgerlichen' zur 'sozialistischen' Stadt" (96).

Der zweite Teil (C) untersucht die beiden bildungsbürgerlichen Zirkel, den Hallischen Spirituskreis und vor allem die Magdeburger Abendredegesellschaft Vespertina: ersterer ein Zusammenschluß von zwölf Ordinarien und der Universität verbundenen Persönlichkeiten überwiegend aus den Geisteswissenschaftlichen Fakultäten, letzterer ein ebenso großer privater Kreis, in dem sich in erster Linie Geistliche, Ärzte, Angehörige der Verwaltung und Leiter der höheren Magdeburger Schulen als "Abendsprecher" versammelten.

Beide Gruppen rekrutierten neue Mitglieder durch Kooptation, wobei eine angesehene berufliche Stellung im jeweiligen Bereich, eine standesgemäße bürgerliche Lebensführung und ein "sittlicher" Charakter vorausgesetzt wurden (108). Sie pflegten bürgerliche Geselligkeit und gelehrten Austausch: Von "Goethe und das Dämonische" über Meineckes "Deutsche Katastrophe" bis zu "Atheismus und christlicher Glaube" reichte die Palette der Referate bei der Vespertina. Im engeren Sinne (tages-)politische Themen wurden ursprünglich ausgeklammert; doch in der Nachkriegszeit ist eine zunehmende Politisierung der Gespräche zu verzeichnen, welche immer stärker die äußeren Veränderungen des politischen Lebens reflektierten.

Zudem betrieb der Spirituskreis explizite Hochschulpolitik: Berufungen an die Universität Halle wurden in diesem Kreise ebenso vorentschieden wie inneruniversitäre Ämter vergeben. Die SED sah wohl nicht ganz zu unrecht im Hallenser Professorenzirkel eine zweite Universitätsleitung – noch dazu eine, welche die ausgeprägte Gegnerschaft zum Sozialismus einte – und ging mit Hilfe der Staatssicherheit gegen sie vor. Der Spirituskreis löste sich 1958 auf, doch konnte damit die Beurlaubung bzw. Versetzung der Mitglieder nicht mehr verhindert werden. Die meisten von ihnen flohen anschließend in den Westen.

Das Schicksal der Magdeburger Vespertina nahm einen etwas anderen Verlauf: Bereits bis 1952 hatte die Hälfte der Abendsprecher die SBZ bzw. DDR verlassen; sie zu ersetzen, gelang den Verbliebenen nicht in der gewohnten Weise, da, wie im ersten Teil dargelegt, die soziale Rekrutierungsbasis immer stärker eingeschränkt worden war: Weder in den nach und nach eingesetzten Funktionsträgern der Stadtverwaltung noch im neu bestimmten Leiter des städtischen Museums oder im Direktor der Ausbildungsstätte für Neulehrer erwarteten die Bildungsbürger Geistesverwandte. In der Nachkriegszeit entstammten die zur Abendredegesellschaft stoßenden Persönlichkeiten daher lediglich zwei klassisch dem Bildungsbürgertum zuzurechnenden Berufsgruppen: Ärzten und Pfarrern.

Mehr als die Hälfte der Neuzugänge waren Geistliche, manche von ihnen auch in herausgehobenen Positionen in der provinzsächsischen Kirchenleitung, zu der ohnehin schon immer ein enger Kontakt gepflegt worden war. Die Kirchenvertreter nutzten das Gespräch im Kreis der Gleichgesinnten, um sich Rückhalt für die immer heftiger werdenden Konflikte mit der Staats- und Parteiführung zu verschaffen. Dadurch gerieten einige der Mitglieder ins Visier der Staatssicherheit, die sogenannte operative Vorgänge und zersetzende Maßnahmen einleitete. Einzelne Abendsprecher wurden verhaftet, und in der Folge zerfiel der Kreis – nach mehr als hundertdreißigjährigem Bestehen – langsam. Die traditionsreiche bildungsbürgerliche Vergesellschaftung hatte also den konfliktreichen Umbau der sozialen Strukturen im Osten Deutschlands äußerlich intakt überdauert, erlag dann aber dessen mittelfristigen Folgen.

Wieder anders verlief die Geschichte der anhaltinischen Industrie- und Handelskammern in der SBZ/DDR. Nach dem Verbot aller Unternehmerverbände blieben sie die einzigen Institutionen wirtschaftsbürgerlicher Vergesellschaftung. Zunächst dienten sie der internen Verständigung unter den Mitgliedern und der Interessenvertretung nach außen. Vor allem die Bezirkskammern und die Fachausschüsse der Landeskammer äußerten dabei sowohl an einzelnen Maßnahmen als auch an der grundsätzlichen Linie der SED-Wirtschaftspolitik deutliche Kritik. Dieser Protest konnte zunehmend neutralisiert werden, indem die Kammern zu Hilfsorganen der staatlichen Wirtschaftsverwaltung reduziert wurden. Parallel dazu entzogen die "heißen" und "kalten" Enteignungen der 40er und 50er Jahre den Selbständigen die ökonomische Grundlage; damit brach auch die Tradierung des ökonomischen und des kulturellen Kapitals ab, so dass weder die Betriebe noch das Fachwissen und auch nicht das Selbstverständnis an die nachfolgende Generation weitergegeben werden konnten. Die Verstaatlichungen des Frühjahrs 1972 setzten nur den endgültigen Schlusspunkt unter einen langen Prozess der Aushöhlung und Auszehrung wirtschaftsbürgerlicher Existenz in der DDR.

War das Bürgertum 1945 also "am Ende oder am Anfang" (Niethammer)? Weder noch, ließe sich mit Großbölting resümieren. Vielmehr meldete es sofort nach der Ablösung der nationalsozialistischen Machthaber seinen politischen und gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch wieder an und rekurrierte dabei organisatorisch und ideell auf die Konzepte und Erfahrungen der Weimarer Republik. Die "deutsche Katastrophe" hatten Bildungs- und Wirtschaftsbürger nach eigenem Verständnis ohne Diskreditierung überstanden, im Gegenteil, sie fühlten sich zur Neugestaltung der Gesellschaft geradezu berufen.

Doch trotz anfänglich propagierter Bündnispolitik waren die neuen Machthaber im Osten Deutschlands nicht ernsthaft daran interessiert. Vielmehr entwickelte sich ein "politischer und semiotischer Dauerkonflikt um Macht und Deutungsmacht" (424), in dem das Bürgertum sukzessive unterlag. Die Bürger traten den Rückzug ins Private an oder die Flucht in den Westen. Die Durchsetzung des eigenen Herrschaftsanspruches gelang der SED zwar nicht auf Anhieb, wie auch das Bürgertum sein politisches, ökonomisches und soziales Kapital nicht auf einen Schlag einbüßte. Doch am Ende des Prozesses stand die weitgehende und in mancher Hinsicht irreversible Entbürgerlichung der ostdeutschen Gesellschaft – soweit Großbölting, dem mit dieser flüssig geschriebenen und gut zu lesenden Studie ein wichtiger Nachweis für die Kontinuität bürgerlicher Existenz im 20. Jahrhundert einerseits und ein präziser Blick auf die "Grenzen der Diktatur" (Bessel/Jessen) andererseits gelungen ist.

Dennoch bleiben der Rezensentin am Ende Zweifel, ob die zwei eher kleinen und privaten bildungsbürgerlichen Gelehrtenzirkel einerseits und die wirtschaftsbürgerliche Interessenpolitik betreibenden Industrie- und Handelskammern andererseits hinsichtlich ihrer Vergesellschaftungsart und ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit – trotz gemeinsamer Bürgerlichkeit – nicht doch mehr unterscheidet als sie eint – und sich das Zusammenbinden in einer Untersuchung eher auf Kosten als zu Gunsten einer klaren Thesenbildung für die Gesamtarbeit ausgewirkt hat. So muss am Ende Vieles im Allgemeinen bleiben, während die Ergebnisse auf der Ebene der beiden Großkapitel C und D wesentlich prägnanter geraten.

Besonders hervorzuheben sind dabei die äußerst spannenden ideengeschichtlichen Abschnitte von C.IV, welche die ordnungspolitischen Vorstellungen der Magdeburger Abendsprecher vom 19. Jahrhundert bis in die zweite Nachkriegszeit analysieren. In überzeugender Weise kann Großbölting hier tragende Säulen des bildungsbürgerlichen Denkens und ihre Kontinuitäten über Jahrzehnte herausarbeiten: Die aus der bürgerlichen Kulturkritik der Jahrhundertwende stammende Angst vor angeblich drohender Vermassung und die in einem zutiefst protestantisch geprägten Weltbild wurzelnde Kritik an einer fortschreitenden Säkularisierung, welche zwangsläufig in völligem Nihilismus enden müsse, sowie ein mit rassistischen Elementen verwobener Nationalismus durchzogen die Diskussionen in der Vespertina wie rote Fäden von den 1920er bis in die 1950er Jahre.

Mit dem Nationalsozialismus konnten sich die Magdeburger Bildungsbürger arrangieren, zum einen weil es partielle Überschneidungen im Weltbild gab, zum anderen weil die geistige Welt der Bürger von der Politik nicht in Frage gestellt wurde. Die Durchherrschungsversuche der SED dagegen wurden von Beginn an als Bedrohung empfunden, da sie sich auf die christlich-abendländischen Fundamente von Staat und Gesellschaft richteten. Gegenüber dem "Bolschewismus" schotteten sich die Bildungsbürger systematisch ab und errichteten statt dessen "im Kreise Gleichgesinnter eine Sonderwelt [...], mit der man sich geistige Autonomie zu wahren versprach und in deren Raum man sich permanent die Hoffnung auf ein im nationalen Wesen gründendes Gesamtdeutschland zusprach" (218).

Diese Abschnitte über die geistigen Wertorientierungen, mit denen die Abendsprecher den Weg aus den zwanziger Jahren über die NS-Zeit in die Nischen der SED-Diktatur gingen, wo ihre Bürgerlichkeit schließlich aufgrund der doppelten Isolierung von innen und von außen in einer Sackgasse endete, sind mit größtem Gewinn zu lesen.

Anmerkungen:
1 Frank Pergande: Der Sozialismus siegt. Chronik eines Kulturkampfes mitten in Deutschland, in: FAZ vom 25.10.2001.
2 Christoph Kleßmann: Relikte des Bildungsbürgertums in der DDR, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 254-270; Anna-Sabine Ernst: "Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus". Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945-1961, Münster 1997; Ralph Jessen: Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen 1999; Anna-Sabine Ernst: Erbe und Hypothek. (Alltags-)Kulturelle Leitbilder in der SBZ/DDR 1945-1961, in: Kultur und Kulturträger in der DDR. Analysen, hg. von der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat, Berlin 1993, S. 9-72; Lothar Ehrlich/Gunther Mai (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, Köln/Weimar/Wien 2000.

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