F.-M. Balzer (Hrsg.): Justizunrecht im Kalten Krieg

Cover
Titel
Justizunrecht im Kalten Krieg. Die Kriminalisierung der westdeutschen Friedensbewegung im Düsseldorfer Prozess 1959/60


Herausgeber
Balzer, Friedrich-Martin
Reihe
PapyRossa-Hochschulschriften 64
Erschienen
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Nehring, Department of History, University of Sheffield

Die Bedeutung des Kalten Krieges für die bundesdeutsche Rechtsordnung und Rechtsprechung gehört zu den noch wenig beackerten Feldern der Zeitgeschichtsforschung. Während mittlerweile exzellente Studien zur Geschichte des Verfassungsrechts der Bundesrepublik vorliegen1, fehlen bislang Arbeiten, welche die Rechtspraxis genauer untersuchen. Besonders im Hinblick auf die ganz unterschiedlichen Ausdeutungen des Grundsatzes der „streitbaren Demokratie“ durch die Gerichte seit 1949 ließen sich hier für die Praxis der westdeutschen Demokratie sehr interessante Einsichten erwarten. Der Leser nimmt deshalb den Band über „Justizunrecht im Kalten Krieg“ mit großen Erwartungen zur Hand. Doch leider werden diese Erwartungen voll und ganz enttäuscht. Die Aufmerksamkeit heischenden Titelschlagwörter „Justizunrecht“ und „Kriminalisierung“ lassen schon aufhorchen, und in der Tat erhält man letztlich eine Sammlung mehr oder weniger zeitgenössischer Quellen, welche entweder selbst aus den späten 1950er und frühen 1960er-Jahren stammen oder Positionen aus jenen Jahren unreflektiert wiedergeben.

Gegenstand des vom Abendroth-Schüler Friedrich-Martin Balzer herausgegebenen Bandes ist der Düsseldorfer Prozess von 1959/60, an dessen Ende sechs Mitglieder des „Friedenskomitees der Bundesrepublik Deutschland“ wegen „Rädelsführerschaft einer verfassungsfeindlichen Vereinigung“ zu Gefängnisstrafen (meist auf Bewährung) verurteilt wurden. Organisatorisch gehörte das „Friedenskomitee“ zu den Bemühungen des SED-Regimes, in der Bundesrepublik eine vor allem bürgerlich geprägte Koalition für die deutsche Einheit und gegen die Wiederbewaffnung zu schaffen. Ideengeschichtlich fügte sich das Komitee in die entstehende intellektuelle Landkarte des Kalten Krieges ein, indem es im Westen über den traditionellen Pazifismus hinaus für die „Friedensziele“ der DDR und der Sowjetunion werben sollte. Sozialhistorisch war das Komitee sowohl im kommunistischen als auch im nationalneutralistischen Milieu verankert.2

Eine diese Zusammenhänge historisch erfassende und systematisierende Einleitung besitzt der Band nicht. Der seinerzeit engagierte Rechtsanwalt Heinrich Hannover (Jg. 1925) hat eine kurze einleitende Bemerkung über die „vergessenen Justizopfer“ des Kalten Krieges beigesteuert. Spätestens hier offenbart sich dem Leser, dass das Ziel weniger in der historischen Bearbeitung des Stoffes besteht. Der Entstehungszusammenhang des Bandes liegt in einer von der Linkspartei und einigen Gewerkschaften unterstützten Kampagne zur Wiedergutmachung für Opfer des Kalten Krieges, ordnet sich also in Bezug auf die politische Semantik, wenn auch nicht in seiner politischen Richtung, in den erneut populären deutschen Opferdiskurs ein.

Den Auftakt des Hauptteils (Teil II) bildet der Wiederabdruck einer schon im Jahr 1960 im linksprotestantischen Blatt „Stimme der Gemeinde“ abgedruckten Zusammenfassung des Prozessverlaufs, verfasst vom seinerzeit in „politischen Verfahren“ engagierten Rechtsanwalt Diether Posser. Zeugenaussagen werden ausführlich dokumentiert, allerdings ohne dass Zitate durch Quellenangaben kenntlich gemacht würden. Auch die Angabe der Originalquelle ist unvollständig. Walther Ammann, zusammen mit Posser als Verteidiger in verschiedenen „politischen“ Strafverfahren tätig und auch seinerzeit im Düsseldorfer Verfahren für das Friedenskomitee engagiert, steuert eine dokumentarisch-bewertende juristische Analyse „Zur Frage der Wahrheitsfindung in politischen Strafverfahren“ bei. Darauf folgt das Plädoyer Friedrich Karl Kauls für die angeklagten Mitglieder des Friedenskomitees.

Der dritte Teil des Buch bietet vor allem zeitgenössische Analysen aus der Sicht der DDR, so eine von Rudolf Hirsch verfasste Gerichtsreportage sowie ein weder klar als Dokumentation noch als Essay ausgewiesenes Kapitel „Wie in der DDR über den Düsseldorfer Prozess berichtet wurde“. Im vierten Teil des Buchs findet der Leser zeitgenössische Nachbetrachtungen zum Prozess vom britischen Friedensaktivisten Denis Noel Pritt, von Walter Diehl (einem der Angeklagten) sowie aus den 1980er-Jahren stammende Erläuterungen Heinrich Hannovers. Der Herausgeber stellt abschließend noch einige Thesen „wider die Tabus der bundesdeutschen Geschichte“ auf, welche die von Hannover eingangs erhobenen Forderungen nach einer Amnestie und einer Wiedergutmachung für die Verurteilten wiederholen.

Zentrale Fragen werden gar nicht erst gestellt. Der Band konzentriert sich auf den Prozess selbst, bietet aber nichts über die tatsächlichen Verbindungen der Angeklagten zum kommunistischen Milieu in der Bundesrepublik und der sozialgeschichtlichen Verankerung seiner Protagonisten. Letztlich ergibt sich das diagnostizierte „Justizunrecht“ für die Autoren direkt aus ihrer Interpretation der Kanzlerschaft Adenauers als „Restauration“ und der bundesdeutschen Gesellschaft als „nachfaschistisch“. Zudem findet man keine systematischen Gedanken zum Friedensdiskurs in der Bundesrepublik des Kalten Krieges sowie zur Art und Weise, wie jener Diskurs auch durch die Friedenspropaganda der DDR und westdeutsche Friedensbewegungen geprägt wurde. Ebenso fehlen systematische Erörterungen darüber, was denn nun den Düsseldorfer Prozess zu einem Beispiel „politischer Justiz“ machte und wie die Legitimität von Staat und Recht jeweils verhandelt wurde. Interessierte Leser seien hier auf die aus ähnlicher Perspektive verfasste Erörterung Alexander von Brünnecks sowie auf Dirk Blasius’ kriminalitätshistorisches Überblickswerk verwiesen.3 Für den Zusammenhang des Düsseldorfer Prozesses wäre wichtig gewesen, was genau der Grundsatz von der „streitbaren Demokratie“ dort bedeutete. Hinweise auf die neuere Literatur, welche den Prozess in die Sozialgeschichte der Bundesrepublik einordnet, besonders auf Till Kösslers wegweisende Studie zur Sozialgeschichte des Kommunismus in der Bundesrepublik, fehlen.4

Letztlich ist der Band nicht nur im Verhältnis zur neuesten Forschung veraltet, sondern reproduziert auch die Sicht auf den Kalten Krieg aus der Perspektive von Protagonisten der Zeit um 1960. Gerade in jener Zeit direkt nach dem KPD-Verbot von 1956 konnte man nämlich zwei nun prominenter werdende Positionen in den Debatten finden, welche dieser Sammelband genau wiedergibt. Das war zum einen die Perspektive jener Gegner des KPD-Verbots wie Heinrich Hannover und Diether Posser, welche ein Ende der Stigmatisierung des Kommunismus forderten und so die vormals eindeutig anti-kommunistisch gepolten Debatten der Bundesrepublik zu pluralisieren halfen. Zum anderen waren da jene aus dem kommunistischen Milieu, besonders aus dem Umkreis des Friedenskomitees, welche sich über verschiedene Protestbewegungen zunehmend in die westdeutsche Gesellschaft integrieren wollten. Es überrascht, wie stark sich intellektuelle Grundbestände dieser Perspektiven noch lange nach dem Ende des Kalten Krieges erhalten zu haben scheinen.

Selbst als Quellensammlung ist der Band nur eingeschränkt zu gebrauchen. Die zeitgenössischen Texte sind mit nur ungenügenden Quellenangaben abgedruckt (z.B. fehlende Seitenangaben); Kürzungen werden nicht klar kenntlich gemacht. Leider wurde hier eine Chance vertan, ein wichtiges und vernachlässigtes Thema auf die zeithistorische Tagesordnung zu setzen. Der als cantus firmus durchlaufende politische Anklageduktus mindert die historische Brauchbarkeit dieses Bandes ganz erheblich. Selbst aus politischer Warte hätte der Herausgeber wahrscheinlich durch eine solide, unaufgeregt argumentierende Edition mehr erreicht als durch diese im Gestus des Marktschreiers verfasste Sammlung. Interessierte Leser, welche sich einen besseren Eindruck vom persönlichen Engagement der beteiligten Rechtsanwälte machen wollen, seien deshalb weiterhin auf die Memoiren Heinrich Hannovers und Diether Possers sowie auf die zeitgenössische Dokumentation des Verfahrens verwiesen.5

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B.: Günther, Frieder, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2004.
2 Vgl. dazu Doering-Manteuffel, Anselm, Im Kampf um „Frieden“ und „Freiheit“. Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Koordinationen deutscher Geschichte im Zeitalter des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 29-47; Staadt, Jochen, Die geheime Westpolitik der SED. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation, Berlin 1993.
3 Brünneck, Alexander von, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968, Frankfurt am Main 1978; Blasius, Dirk, Geschichte der politischen Kriminalität in Deutschland 1800-1980, Frankfurt am Main 1983.
4 Kössler, Till, Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland 1945-1968, Düsseldorf 2005, bes. S. 413-417.
5 Hannover, Heinrich, Die Republik vor Gericht, 2 Bde., Berlin 1998/2001; Posser, Diether, Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951-1968, München 1991, bes. S. 254-258; Kraschutzki, Heinz (Hrsg.), Staatsgefährdung? Ein dokumentarischer Bericht über den Düsseldorfer Prozeß gegen Angehörige des Friedenskomitees der Bundesrepublik Deutschland, Hannover 1961.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch