G. Müller: Goethe und die Universität Jena

Titel
Vom Regieren zum Gestalten. Goethe und die Universität Jena


Autor(en)
Müller, Gerhard
Reihe
Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen 6
Erschienen
Anzahl Seiten
799 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruediger vom Bruch, Institut für Geschichtswissenschaften Lehrst. für Wissenschaftsgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin (z.Zt. Historisches Kolleg, München)

Die im Rahmen des SFB 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ erarbeitete monumentale Studie zu Goethes Universitätspolitik in Jena stellt, in dieser Reihenfolge, eine bedeutende Forschungsleistung dar zur Geschichte der Universität Jena und des deutschen Hochschulwesens um 1800, zur politischen Geschichte Sachsen-Weimar-Eisenachs in der Regierungszeit Carl Augusts und zur Biographie Goethes. Sie ist keine Spezialstudie im Sog des großen Namens, sondern eine Landschaftsvermessung gegen den lastenden Schatten, sie erweitert gewissermaßen unser Goethebild en passant, weil ohne Goethe nun einmal die auf Jena bezogene Universitätspolitik in diesem Zeitraum nicht zu verstehen ist, sie fügt sich in den Trend der besten Studien zum Goethejubiläum 1999 ein, nämlich konsequente Historisierung durch eine ungemein subtile Kontextualisierung dieses „unzeitgemäßen Zeitbürgers“, wie ihn Heine nannte. Nach Müller war Goethes Universitätspolitik „vor allem die empirische Praxis eines sich als ‚Geschäftsmann’ verstehenden Fürstendieners im Alten Reich“, verankert in der Tradition der Aufklärungsphilosophie und einer im 18. Jahrhundert an den Universitäten gelehrten „Politik“, in Verantwortung für das „allgemeine Beste“, gewürzt durch die „patriotischen Phantasien“ eines Justus Möser, orientiert am Bestehenden, an der „Lebenswirklichkeit des Alten Reiches“ und zugleich verknüpft mit den an Universitäten nicht erlernbaren Machttechniken der Arcana Imperii. Ein breiter und kundiger Forschungsaufriss bettet Goethes politisches Denken und Handeln ein in Grundtendenzen des 18. Jahrhunderts, insbesondere eine säkulare Verrechtlichung des Politischen in den Aushandelungsprozessen des Alten Reichs. Zustimmend werden die Goethe-Einschätzungen von Ekkehart Krippendorff („politische Ethik des Regierens als Orientierungsnorm“) und von Jutta Linder („Amtstätigkeit als Form der Weltaneignung“) aufgegriffen, eine Briefstelle an Carl August von 1784 bringt Goethes Maxime auf den Punkt: „Man muß Hindernisse wegnehmen, Begriffe aufklären, Beyspiele geben, alle Theilhaber zu interessiren suchen, das ist freylich beschweerlicher als befehlen, indessen die einzige Art (...) zum Zweck zu gelangen und nicht verändern wollen sondern verändern.“

Die international ausstrahlende, vielfach an die Berliner Neugründung von 1810 angekoppelte deutsche Forschungsuniversität des 19. Jahrhunderts war kein Phönix aus der Asche, die Universitätslandschaft im späten Alten Reich war weniger heruntergekommen, als das vorwiegend politisch erklärbare „Universitätssterben“ um 1800 und spätere Unwertsurteile nahe legen; die von den 1694 bzw. 1737 gegründeten Reformuniversitäten Halle und Göttingen ausgehenden Modernisierungsimpulse reichten keineswegs nur als kräftiger, aber schmaler Strom mit der Verlängerung Berlin ins 19. Jahrhundert hinein, sondern stimulierten in einer mobilen, um Studenten ringenden akademischen Konkurrenzwelt auch anderswo bereits im späten 18. Jahrhundert Reformen. Es gab mehrere „Realtypen deutsche Universität“ auf dem Weg zu einer in sich verfestigenden Fachdisziplinen vielfältig disziplinierten Forschungsuniversität, und Jena war einer von ihnen, neben Göttingen selbstverständlich, aber auch neben Leipzig etwa, wie die bisherigen Studien des allzu früh verstorbenen Markus Huttner vermuten lassen. Entscheidendes und durchgängiges Erfolgskriterium in einer Zeit, die noch keine Drittmittelquoten und allenfalls indirekte Evaluierungsformen kannte, war die Frequenzentwicklung, die studentische Nachfrage vor allem von „Ausländern“, worauf sich die Universitäten als „Anbieterkartell“ einzustellen hatten.

Gerade die nicht traditionell durch Stiftungen und Donate begüterten, sondern wie Halle und Göttingen ganz auf den Staatszuschuss bzw. die Wirtschaftskraft der Studenten angewiesenen Universitäten mussten sich breit profilieren; Leipzig musste auf das nahe Halle reagieren, und das notorisch arme, von mehreren Fürsten mehr schlecht als recht unterhaltene thüringisch-sächsische Jena suchte sich Nischen als Profilierungschance. Wie Müller zeigt, bewirkte bereits vor Goethes Auftreten die bislang als erfolglos eingeschätzte Visitation von 1767/68 durchaus eine „innovative Restauration“ der vom Göttinger Erfolg aufgeschreckten Saale-Universität. Während Goethes amtlicher Tätigkeit entfaltete sich dann eine den Namen verdienende Hochschulpolitik vom zunehmend unter den Nutritatoren dominierenden Weimar aus. Goethe, der aufgeklärt-pragmatische Realist war, so die Bilanz, kein Hochschulreformer, wie etwa der Freiherr von Münchhausen in Göttingen oder Wilhelm von Humboldt in Berlin, vielmehr betrieb er eine „defensive Modernisierung“, welche Neues zuließ, soweit es sich in gegebene Strukturen einfügte. Er verwandte insgesamt weit mehr Sorge als bislang bekannt auf die Universität Jena, welche er als „kreatives Refugium“ gegenüber dem Weimarer Hof schätzen lernte, bis er schließlich 1825 Weimar und Jena als „zwey Enden einer großen Stadt“ charakterisierte.

Mehrere Phasen lassen sich unterscheiden. Unter dem Eindruck der Revolution in Frankreich suchte Goethe an dem in Jena bereits etablierten, aber wie auch anderswo zunehmend brüchigen Bündnis von aufgeklärter Herrschaft und Intellektuellen durch eine Art geistiger „Gewältigung“ der Revolution festzuhalten, baute er gemeinsam mit Herder in Philosophie und Naturforschung durch glanzvolle Berufungen einen „Freihafen“ der Wissenschaft. Zugleich legte er strukturell das Fundament für jene vielzitierte „extraordinäre“ Universität in einem doppelten Wortsinn, durch vielfältige Sonderzuwendungen an die durchweg unterfinanzierte Universität, und zwar an kärglich besoldete, aber innovativ-dynamische außerordentliche Professoren, um sie, neben Förderung ihrer Loyalität gegenüber dem Hof, zu einem privaten Unternehmertum (Sammlungen, Bibliotheken, Spezialgebäude et cetera) für eben jene Infrastruktur anzuregen, auf die der moderne Wissenschaftsbetrieb angewiesen war. Noch vor der dramatischen Krise Jenas 1803 mit der hohen Abwanderung von Professoren hatte Goethe die entsprechende Infrastruktur in Halle und in Göttingen inspiziert; ab 1803 konzentrierte er sich über die bisherigen einzelnen Leuchttürme hinaus auf einen systematischen Ausbau der historisch-empirischen Wissenschaften und sicherte zugleich die staatliche Kontrolle über die sich ausdifferenzierende Infrastruktur, um nicht von gemeinsam mit ihren Sammlungen oder Zeitschriften abziehenden Professoren abhängig zu sein.

Ganz neues Licht fällt auf den nach dem Desaster vom Oktober 1806 ungemein rührigen Goethe, der mit einigem Geschick Napoleons vorübergehenden Ansatz zu „moralischen“ nach den militärischen Eroberungen im Sinne eines „Rheinbundpatriotismus“ für eine Profilierung Weimar-Jenas zum kulturellen Mittelpunkt eines gleichsam entpolitisierten Nationalbewusstseins nutzte und so die Universität in einem komplizierten Schlingerkurs über die Napoleonische Zeit hinweg rettete. Ob freilich die deutsche Universität sich bis 1815 in einer Krise befand, gar als Auslaufmodell gegenüber dem konkurrierenden französischen Spezialschulmodell, wie die mit Fragezeichen versehenen einschlägigen Kapitelüberschriften eher nicht nahe legen, beantwortet die eher eng geführte, wohl in Forschungsfragen bestens bewanderte, aber über das Material sich kaum hinauslehnende Arbeit weniger; in Jena jedenfalls verlief der Übergang von einer relativ autonomen Korporation zu einer straff geführten staatlichen Anstalt mit weitgehend autonom sich entfaltenden Einzelwissenschaften ziemlich bruchlos.

Die weitere Entwicklung ist für Jena von Belang, weniger für die allgemeine Universitätsgeschichte; so die vorübergehende Entfremdung Goethes von dem ihm allzu konstitutionell-liberalen Carl August, die erneute Annäherung nach den Karlsbader Beschlüssen, Goethes Konzentration auf die Bibliothek als Herzstück der Forschungsuniversität. Festzuhalten bleibt freilich, mit welchem Geschick Goethe mit der extraordinären Universität ein Jena-spezifisches innovatives Strukturmodell zur universitären Verankerung vor allem der neu sich herausschälenden naturwissenschaftlichen Disziplinen nutzte, zunächst als subsidiäre Leistungen zur Anstachelung von Privatinitiativen, nach 1803 dann unter strikter Staatskontrolle.

Die mustergültige Arbeit von Gerhard Müller trägt einen gewichtigen Baustein für die These bei, dass die neue deutsche Forschungsuniversität auf einem breiteren und zugleich vielgestaltigeren Fundament entstand, als meist angenommen, geprägt durch unterschiedliche, in der Stoßrichtung aber ähnliche Wege eines Übergangs von einer altständischen Gelehrtenkorporation zu einer staatlich straff kontrollierten und zugleich durch systematischen Ausbau der Infrastruktur vorangetriebenen, disziplinär verfassten Wissenschaftseinrichtung, welche an die Stelle der Autonomie der Korporation und ihrer Professoren sowie einer zuvor schwer zu bändigenden Studentenschaft die Lehrende wie Lernende disziplinierende Autonomie der Wissenschaften setzte. Bei allen, für Goethe subtil aufgezeigten Unterschieden zwischen beiden Staatsmännern, dem defensiven Modernisierer und dem tatsächlich als Hochschulreformer agierenden Wilhelm von Humboldt, treten doch zahlreiche Gemeinsamkeiten bis in die humanistischen Grundüberzeugungen hinein zu Tage, auch in der Nutzung eines (bei beiden in ähnlicher Weise?) entpolitisierten, weil durchweg kulturell aufgeladenen Nationalbewusstseins im Übergang zwischen einem vormaligen Reichspatriotismus und einem heraufdämmernden liberalen Nationalismus. Gemeinsam mit der faszinierend komplementären, im Frühjahr 2007 als Bd. 20 der Reihe „Pallas Athene“ mit dem schönen Titel „Wort und Tat“ erschienenen Jenaer Habilitationsschrift von Klaus Ries über das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert verfügt die deutsche Universitätsgeschichtsschreibung für die spannende Transformationsepoche vom späten 18. zum frühen 19. Jahrhundert über eine einzigartige und zugleich der besonderen Bedeutung Jenas gerecht werdende Tiefenschärfe.