W. Curilla: Die deutsche Ordnungspolizei

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Titel
Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrußland 1941-1944.


Autor(en)
Curilla, Wolfgang
Erschienen
Paderborn 2005: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
1041 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Lehnstaedt, Institut für Zeitgeschichte München

Das hier zu besprechende Werk ist keine leichte Kost. Das liegt zum einen am gewählten Thema, zum anderen an seinem Umfang. Fast 950 Seiten Text wollen bewältigt sein, und der Aufbau der Untersuchung macht ein Lesen von vorne bis hinten fast unmöglich: Wolfgang Curilla hat weniger eine monografische Interpretation der Bedeutung der deutschen Ordnungspolizei für den Holocaust im so genannten Reichskommissariat Ostland vorgelegt als vielmehr ein detailliertes Nachschlagewerk zu den Verbrechen der einzelnen Polizeieinheiten. Die gewählte Darstellungsform erinnert stark an die Urteilsbegründung eines Gerichts, in der alle für das Strafmaß relevanten Fakten angeführt werden, einschließlich einer Übersicht über die Vorbedingungen für das Verbrechen. Bedenkt man den Werdegang des Autors – Curilla ist Jurist und war von 1978 bis 1993 Senator in Hamburg, unter anderem für Justiz –, kann dies nicht wirklich überraschen.

So werden, bevor die Beteiligung der Ordnungspolizei am Genozid an den Juden untersucht wird, in einem ersten Teil auf über einhundert Seiten die Vorbedingungen für den Völkermord dargelegt. Zunächst wendet Curilla sich dem Schicksal der Juden in Deutschland bis zu ihrer vollständigen Deportation zu, um anschließend einen Überblick über die Geschichte der Ordnungspolizei im Dritten Reich zu geben. Danach folgt ein Aufriss der deutschen Vorbereitungen und Planungen für den Krieg gegen die Sowjetunion, den schließlich die „Einführung“ mit einem Kapitel über Auftrag und Handeln der Einsatzgruppen bis zum Sommer 1941 abschließt. Diese werden im Buch auch an anderer Stelle ausführlich besprochen, was etwas verwundert, denn streng genommen sind sie Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes und mithin keine Truppen der Ordnungspolizei. Eine explizite Begründung für ihre Aufnahme in das Buch gibt Curilla nicht an.

Insgesamt referiert der einführende Überblick den aktuellen Stand der Forschung, ohne neue Erkenntnisse beisteuern zu können und zu wollen. Schon hier offenbart sich jedoch das Faible Curillas für Zahlen und Daten, wogegen die großen Linien und Interpretationen ein wenig zurücktreten. Wer das Buch als Nachschlagewerk benutzen möchte, wird diesen ersten Teil als Hilfsmittel begrüßen; für die eigentlich zu untersuchende deutsche Ordnungspolizei im Baltikum und in Weißrussland aber hätten auch deutlich weniger Seiten als Einführung gereicht.

Der Hauptteil des Buches mit über siebenhundert Seiten widmet sich den verschiedenen Polizeieinheiten im Reichskommissariat Ostland, wobei die Grobeinteilung geografisch nach Baltikum und Weißrussland erfolgt. Detailliert in Einzelkapiteln vorgestellt werden nun fast fünfzig verschiedene Polizeibataillone, -regimenter, -direktionen und -kommandos, Einsatzgruppen und -kommandos sowie die Posten der Kommandeure der Sicherheitspolizei, wobei im Text zahlreiche weitere Einheiten kurze Erwähnung finden. Die Quellenbasis dafür bilden neben einem vierzigseitigen Literaturverzeichnis und den einschlägigen Archiven in Deutschland und Lettland vor allem west- und ostdeutsche staatsanwaltschaftliche Ermittlungs- und Gerichtsverfahren. Curilla übersah dabei allerdings die Ermittlungen des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Der Nachweis der ansonsten durchaus akribischen Recherche wäre aber besser nicht bloß auf ein Verzeichnis der gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen beschränkt geblieben, sondern hätte auch durch ein Quellenverzeichnis erfolgen sollen. So müssen sich die Leser/innen auf der Suche nach den relevanten Beständen mühsam durch den umfangreichen Fußnotenapparat wühlen.

Die einzelnen Kapitel des Buches folgen einem immer gleichen, sehr systematischen Aufbau: Zunächst werden Informationen zur Aufstellung der jeweiligen Truppe geliefert, vor allem zur geografischen Herkunft der Angehörigen, dem Aufstellungsdatum und den Kommandeuren. Nach der Nennung der betreffenden Justizverfahren werden die einzelnen Verbrechen der Polizisten mit allen verfügbaren Fakten zu Tatort und -zeit, Opfern, Tätern und Verantwortlichen aufgelistet. Dabei wird jede Tat einzeln nummeriert und detailliert belegt. Hervorgehoben werden muss besonders die umfassende Diskussion der Opferzahlen: Curilla referiert die verschiedenen Zählungen und Schätzungen von Justiz und Historie, wägt ab und begründet anschließend seine eigene Einschätzung sehr überzeugend. Ein Vergleich mit dem ähnlich aufgebauten Buch Stefan Klemps über die Nachkriegsermittlungen gegen Polizeibataillone macht deutlich, wie ausführlich Curilla dokumentiert und erörtert.1 Die methodische Reflexion der Justizquellen ist dagegen weniger ausgeprägt als bei Klemp, dessen Interesse auch vorrangig der bei Curilla außen vor bleibenden strafrechtlichen Verfolgung der Verbrechen gilt. Allerdings ist auch anzumerken, dass Klemp in seiner wesentlich knapperen Form sämtliche Polizeibataillone auf rund der Hälfte der Seiten untersucht und dennoch eine deutlich gelungenere Synthese vorlegt.

Im Anschluss an den Hauptteil werden summarisch die Verbrechen der Ordnungspolizei in den anderen Gebieten der Sowjetunion vorgestellt. Die Darstellung beschränkt sich auf eine schlaglichtartige Auswahl der größten Massaker und stellt nur eine kursorische Übersicht über den Tatkomplex dar. Das gilt auch für die immerhin einhundert Seiten umfassende Beschreibung anderer Tätergruppen des Holocausts wie Sicherheitspolizei, (Höhere) SS- und Polizeiführer, Zivilverwaltung, Wehrmacht und Waffen-SS. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden hier Kommandoverhältnisse und Morde aufgezeigt, die ebenfalls Gegenstand von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen waren. Die Untersuchung bleibt jedoch auf die individuelle Schuld reduziert. Kollektive Verantwortung, die Schaffung von Bedingungen für die Morde bzw. die Ausübung von struktureller Gewalt werden nur am Rande erwähnt. In diesem Sinne kann auch das „Die subjektive Seite“ titulierte Kapitel nicht überzeugen. Es bleibt weitgehend bei einer Zahlenstatistik zu den Bataillonen stehen bzw. greift Einzelbeispiele von mehr oder weniger fanatischen Nationalsozialisten heraus. Weder bringt Curilla eine echte Synthese oder neue Interpretationen, noch stellt er tatsächlich individuelles Erleben dar. Hier muss Christopher Brownings Untersuchung des Polizeibataillons 101 weiterhin als Referenz gelten.2

Trotz der oben genannten Einschränkungen hat Wolfgang Curilla ein wichtiges und wertvolles Buch vorgelegt. Seine Übersicht über die Beteiligung der deutschen Ordnungspolizei am Holocaust im Baltikum und in Weißrussland ist so vollständig, wie sie momentan nur sein kann. Die Benutzbarkeit der geordneten Darstellung wird durch den Fettdruck der jeweiligen Tatorte noch erhöht. Das mit zweiundvierzig Seiten äußerst umfangreiche Personen-, Orts- und Einheitenregister ermöglicht darüber hinaus einen weiteren schnellen Zugriff auf die gesuchten Fakten. Wer sich also künftig mit den deutschen Verbrechen im Reichskommissariat Ostland beschäftigt, wird dieses Buch äußerst nützlich finden. Dazu sollte das Werk allerdings als Handbuch benutzt und nicht als Monografie gelesen werden.

Anmerkungen
1 Klemp, Stefan, „Nicht ermittelt“. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Ein Handbuch, Münster 2005.
2 Browning, Christopher, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993.

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