M. M. Eggers u.a. (Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte

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Titel
Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland


Herausgeber
Eggers, Maureen M.; Kilomba, Grada; Piesche, Peggy
Erschienen
Münster 2006: Unrast Verlag
Anzahl Seiten
549 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Breger, Germanic Studies, Indiana University

„Race does not exist. But it does kill people“ (Collette Guillaumin, zit. nach S. 342): Obwohl ‚Rassen’ keine biologische Realität sind, hat das Rassenkonzept „soziale, ökonomische, politische, psychologische Fakten geschaffen, hat nachhaltig und bis in die Gegenwart hinein unsere Wahrnehmung der Welt strukturiert“ (Fatima El-Tayeb, S. 7). Der vorliegende Sammelband, die erste deutsche Anthologie zum Thema Weißsein und Weißseinsforschung, spürt auf facettenreiche Weise dieser scheinbar einfachen Einsicht nach. Sie erweist sich beim Lesen nicht nur als erschreckend wenig selbstverständlich, sondern gibt auch den Blick auf komplexe Implikationen frei, zu deren Theoretisierung hier ein grundlegender Beitrag geleistet wird.

Die Kernthese der Critical Whiteness Studies, dass ‚Rasse’ im hegemonialen Diskurs der westlichen Moderne an Schwarzen Subjekten sichtbar gemacht wird, während Weißsein als unmarkierte Norm funktioniert, ist vergleichsweise neu nur aus weißer Mehrheitsperspektive; „für Minderheiten im weißen Westen“ stellten Critical Whiteness Studies schon vor ihrer akademischen Etablierung „eine notwendige Überlebensstrategie“ dar (El-Tayeb, S. 8). Erst in den 1990er-Jahren aber vollzog sich im Rahmen anglo-amerikanischer Forschungsbereiche wie Critical Race Studies und Postcolonial Studies auf breiterer Basis eine „Fokuserweiterung auf Weißsein als Subjekt, Norm und Agens von Rassialisierungsprozessen“, welche die Differenzkategorie Rasse als relationale ernst nimmt (Susan Arndt, S. 342) 1; und im deutschsprachigen Diskurs kommt dieser Paradigmenwechsel erst jetzt allmählich an 2.

So wenig originell die Klage über deutsche Verspätungen sein mag, so grundlegend ist dennoch diese doppelte Struktur der Nachträglichkeit, die ins Zentrum der vom vorliegenden Sammelband geleisteten Theoriearbeit weist. Das breite Spektrum transdisziplinärer, wissenschaftlicher und künstlerischer Auseinandersetzungen mit der Kategorie Weißsein, das der Band dokumentiert, wird durch diese doppelte Klammer zusammengehalten: Es geht einerseits um die Frage nach „Transferpotentialen, Grenzen und Leerstellen, die sich aus der transatlantischen Applikation“ von Critical Whiteness Studies eröffnen (Die Herausgeberinnen, S. 12). Andererseits stehen mit „Fragen nach der Originalität, der Adressiertheit und dem Nutzen“ der sich nun etablierenden Forschungsrichtung (Peggy Piesche, S. 14) die Signifikanz und das historische Gewicht zur Debatte, die Schwarzen und weißen Positionalitäten 3 in dem Prozess zukommt, einen kritischen Diskurs über Weißsein im Machtraum universitären Wissens zu etablieren.

Der ebenso umfassende wie genaue Blick auf spezifisch deutsche Geschichte(n) in europäischen ebenso wie transatlantischen Zusammenhängen ist eine dezidierte Stärke des Bandes. Die Konturierung dieses Blicks beginnt mit der grundlegenden konzeptuellen Entscheidung, das vertrautere anglo-amerikanische Theorievokabular ins Deutsche zu übertragen, um die historische Belastung eines Worts wie ‚Rasse’ nicht distanzierend (im doppelten Sinne) aufzuheben, sondern analytisch zu verfolgen (siehe Arndt, S. 343). Zu überwinden ist dabei der spezifische „Widerstand gegen eine [...] Markierung von Weißsein in Deutschland“ (Maureen Maisha Eggers, S. 19), der einen zentralen Bestandteil der seit 1945 anhaltenden Tabuisierung von ‚Rasse’ bildet. Dieser Widerstand artikuliert sich nicht zuletzt im Mythos der relativen Irrelevanz deutscher Kolonialgeschichte, deren Signifikanz gegen die von Antisemitismus und Shoa ausgespielt wird, auf Kosten nicht zuletzt der wesentlichen „Verbindungen zwischen der Historizität Schwarzer Präsenz in Europa und dem Nationalsozialismus“ (Eggers, S. 20).

Vor diesem Hintergrund bilden die Kolonialgeschichte und ihre Aktualität einen wichtigen Themenschwerpunkt des Bandes, mit Aufsätzen beispielsweise zu kolonialen Spuren im Machtraum Berlin (Kien Nghi Ha) und zur endgültigen Etablierung der diskursiven Kongruenz von Deutschsein und Weißsein im historischen Zusammenhang kolonialer Auseinandersetzungen (Katharina Walgenbach). Einen weiteren Fokalisationspunkt bildet die wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung einzelner disziplinärer Diskurse; individuelle Beiträge widmen sich der Normierung und Normalisierung weißer Blicke in traditionellen Disziplinen wie der Philosophie (Arnold Farr) und Psychologie (Timo Wandert/Randolph Ochsmann) ebenso wie den neu etablierten Forschungsfeldern der Kulturwissenschaften (Carsten Junker) und – mit einer scharfen, aber insgesamt berechtigten Kritik – der Geschlechterforschung (Eske Wollrad).

Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der institutionelle Kontext der gegenwärtigen Universitätslandschaft, den zahlreiche Beiträge konturieren. Während traditionelle Studiengänge wie „Afrikawissenschaften“ oft heute noch eher exotische Sehnsüchte bedienen als kritische Zugänge zu kolonialen Strukturen vermitteln (Aretha Schwarzbach-Apithy), fehlen hierzulande Institute für African Diaspora, Critical Race oder Postcolonial Studies ebenso wie entsprechende Denominationen von Professuren in unterschiedlichen Fächern. Auch wenn im Graduierten- und Forschungsbereich zu Beginn des 21. Jahrhunderts erste Ansätze drittmittelgeförderter Institutionalisierung zu erkennen sind 4, bleiben Studierende oft auf die wenigen Seminarangebote angewiesen, die Rassismus „als Sonderthema im Bereich der Geschlechterstudien“ behandeln – eine Struktur, die den „Ausschluss durch Einbeziehung“ systematisiert (Junker, S. 432). Komplettiert wird das Bild durch das fast vollständige Fehlen von Dozenten of Color, das anders als die Unterrepräsentanz weiblicher Lehrender in Deutschland bislang kaum zum Thema geworden ist (Grada Kilomba und zahlreiche andere Beiträger/innen).

Vor diesem Hintergrund wird die Signifikanz der Positionalitätsfrage deutlich, die schon die Struktur des vorliegenden Bandes prägt. Die Anordnung der Beiträge in (vorangestellte) Schwarze und weiße Perspektiven, verbunden durch mehrere Aufsätze am „Übergang“ der Co-Autorschaft, erinnert die im hegemonialen Diskurs unterrepräsentierten Schwarzen Anfänge wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Weißsein und markiert zugleich den Beginn eines Dialogs, der auf gleichberechtigter Basis oft noch von strukturellen Rassismen verhindert wird (El-Tayeb, S. 9; Die Herausgeberinnen, S. 11-13). Auf theoretischer Ebene stellt sich insbesondere die Frage danach, wie die Kategorien Schwarz und weiß im Spannungsfeld des Wissens um den konstruierten und zugleich wirkmächtig realen Charakter von Rasse sinnvoll zu konzeptualisieren sind. Wie lässt sich eine Balance halten, in der das Wissen um „die fragile Komplexität“ der instabilen „Konstruktion Weißsein“ sich nicht in den Mythos verschiebt, dass sich die Zugehörigkeit zum weißen Kollektiv aufheben ließe (Piesche, S. 17), sei es durch das kritische Bewusstsein der anti-rassistischen Weißseinsforscherin oder die quasi ausgleichenden Effekte ihrer eigenen marginalisierten Position als Frau oder Osteuropäerin?

Der Band dokumentiert hier nicht zuletzt kontroverse Positionierungen. Dezidiert kritisiert Arndt diskursive Figuren der ‚Weißseinshierarchisierung’, die auf der These aufbauen, dass „Weißsein verhandelbar, temporär und reversibel“ sei (S. 348). Während sie den im anglo-amerikanischen Diskurs entwickelten Konzepten aktionistischen ‚Rassenverrats’ eine klare Absage erteilt (S. 350), akzentuiert der Beitrag von Jinthana Haritaworn trotz gleichfalls scharfer Kritik an der Ausformulierung des Konzepts durch Noel Ignatiev auch seine potentiell produktiven Aspekte im Kontext einer „Multithemenpolitik“, die das im hegemonialen Diskurs – aktuell zum Beispiel um Islam und Frauenrechte – beliebte Ausspielen von Rasse gegen Geschlecht unterläuft. Entscheidend ist dabei freilich, dass der im kritischen Diskurs begehrte Status der Minderheitenzugehörigkeit nicht durch Analogisierung wahlweise aneignet wird (nach dem Motto: „Frau – fast – gleich Schwarz“), sondern im Hinblick darauf ausgearbeitet, wie die (individuell unverfügbaren) Relationen zwischen ineinander verwobenen, aber nicht aufeinander abbildbaren Kategorien in spezifischen historischen Kontexten entwickelt worden sind (siehe auch Eggers, S. 20).

Hinsichtlich der Historizität von Grenzziehungen zwischen Schwarz und weiß ist beispielsweise auf Sander Gilmans für den vorliegenden Band ins Deutsche übersetzten Beitrag zur Diskursivierung der „jüdische[n] Nase“ zu verweisen. Kontrovers evaluiert werden andere Fallbeispiele: Während Walgenbach den historischen Diskurs über die drohende ‚Verkafferung’ deutscher Kolonialisten als Zeichen dafür interpretiert, dass Weißsein erworben oder verloren werden kann (S. 382), argumentiert Arndt, dass „die kolonialistische Mentalität Weißsein als ‚Natur’ (im Sinne Roland Barthes’) setzt, die zwar überlagert [werden], aber nicht verloren gehen kann“ (S. 351). Die (weiße) Rezensentin möchte diese konkrete Debatte im Verweis auf das historische Ineinander von Naturalisierungs- und Degenerationsdiskursen vermitteln, das die Grenzlinie zwischen den ‚Rassen’ nach den zuweilen konfligierenden Maßgaben kolonialer Dominanz über Schwarze und kolonialer Disziplinierung weißer Subjekte mehrschichtig dramatisierte. Entscheidend ist dabei allerdings die Unterscheidung verschiedener Ebenen rassistischer Gewalt: Auch ein diskursiv nachdrücklich ‚verkafferter’ deutscher Kolonisator war rechtlich noch kein Schwarzer Kolonialuntertan.

Angesichts der beschriebenen Komplexitäten zeigt sich die Relevanz weiterer Überlegungen, wie genau das komplexe Feld rassistischer Unterscheidungen innerhalb weißer ebenso wie an der Grenze zwischen weißen und Schwarzen Positionierungen am besten theoretisch vermessen werden kann: Sind Peripherie-vs. Zentrum-Konstruktionen geeigneter als Modelle interner Hierarchisierung (Arndt, S. 349ff.; siehe auch Eggers, S.20)? Und wie lassen sich Fragen zum Beispiel nach der differentiellen Positionierung nicht-jüdischer vs. jüdischer Polen/innen in der nationalsozialistischen Ideologie beantworten: eher durch die Unterscheidung verschiedener Rassialisierungsprozesse oder durch eine terminologische Differenzierung zwischen Prozessen der Rassialisierung vs. Ethnisierung (vgl. Arndt, S. 353)? Der vorliegende Band stellt solche Fragen zur Debatte. Mit seiner thematischen wie perspektivischen Vielstimmigkeit und dem hier nur auszugsweise referierten Reichtum theoretischer Vorschläge und historischer Fallstudien bildet er eine unverzichtbare Grundlage für die deutsche Auseinandersetzung mit dem Thema Weißsein im Kontext kritischer Rasse-Forschung.

Anmerkung:
1 Ich folge hier der Schreibregelung des Bandes: ‚Rasse’ bezeichnet die biologistische Konstruktion und Rasse die kritische Analysekategorie (13).
2 Vgl. Einzelstudien wie: Walgenbach, Katharina, ‚Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur’. Koloniale Diskurse zu Geschlecht, ‚Rasse’ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt am Main 2005; Wollrad, Eske, Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion, Königstein 2005.
3 Ich folge wiederum der Schreibregelung des Bandes: weiß wird kursiviert, um den Konstruktcharakter des Begriffs zu markieren, ohne ihn mit der „Bedeutungsebene des Schwarzen Widerstandspotenzials“ auszuzeichnen, das der Großschreibung von Schwarz eingeschrieben ist (S. 13).
4 Zu nennen sind hier die Graduiertenkollegs „Postcolonial Studies” (München) und “Identität und Differenz” (Trier) sowie die Einrichtung von BEST (Black European Studies; Mainz).

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