J. Rainer u.a (Hgg.): Muddling Through in the Long 1960s

Titel
Muddling Through in the Long 1960s. Ideas and Everyday Life in High Politics and the Lower Classes of Communist Hungary


Herausgeber
Rainer, János M.; Péteri, György
Reihe
Trondheim Studies of East European Cultures & Societies 16
Erschienen
Trondheim 2005: Selbstverlag
Anzahl Seiten
225 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Árpád von Klimo, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Die ungarische Zeitgeschichte wendet sich verstärkt bisher nur kaum untersuchten Forschungsgebieten, neuen Themen und Methoden zu. Der hier zu besprechende Band versammelt einige, für die englische Version überarbeitete Beiträge eines 2004 auf Ungarisch erschienen Buches. So begrüßenswert die Übersetzung ins Englische ist, so schade ist es auch, dass dies mit einem editorischen Abstieg des Werkes von einer sehr schönen gebundenen ungarischen Originalausgabe zu einem „grauen“, wahrscheinlich schwer zu beschaffenden Selbstdruck einherging. 1 Doch trösten die sehr hohe Qualität und die thematische wie methodische Vielfalt der Beiträge über diesen ästhetischen Mangel hinweg.

Die hier versammelten sieben Einzelstudien und die Einleitung der Herausgeber bieten Einblicke in bisher kaum bekannte Aspekte der Kádárzeit und können daher als herausragender Beitrag für eine zukünftige vergleichende Erforschung Europas in den 1960er-Jahren angesehen werden. Dies umso mehr, als es sich um sieben sehr unterschiedliche, sehr verschiedenartige Themen und Herangehensweisen repräsentierende Beiträge handelt. Das Werk enthält sowohl Aufsätze über die Veränderungen innerhalb der ungarischen Parteispitze (Péteri) oder die ideologische Neuausrichtung der politischen Kultur im Zeichen des „Reformjahrzehnts“ (Kalmár), als auch faszinierende Einblicke in Konsumgewohnheiten und Lebensstile eher marginalisierter Gruppen (Valuch, Tóth, Horváth) sowie ideengeschichtliche Abhandlungen über die Reformen in Staat und Landwirtschaft (Varga). Auch die Beziehungsgeschichte, etwa der Austausch der Ideen der „Neuen Linken“ zwischen Ungarn und dem Westen, oder die Einflüsse westlicher Jugendkultur auf Ungarn werden berücksichtigt (Kovács, Horváth).

Mitherausgeber des Buches und Direktor des `56er-Institutes, János M. Rainer, versucht in seinem einleitenden Essay die 1960er-Jahre in Ungarn politik-, sozial- und kulturhistorisch zu verorten. Er unterscheidet zwei Phasen, die Jahre 1956-63, die von der brutalen Unterdrückung der Oppositionsbewegung sowie kritischer Intellektueller oder Arbeiter geprägt war, und die Jahre zwischen 1962/63 und 1972/73, die er als „Reformdekade“ kennzeichnet. Zugleich gab es aber auch Entwicklungen, die dieser Zweiteilung widersprachen: So habe Kádár bereits unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstands von 1956 Entstalinisierungsmaßnahmen, personelle und ideologische Veränderungen eingeleitet, während es in der gesamten Zeit dann auch immer wieder zu Rücknahmen von politischen und ökonomischen Reformschritten kam. Kádár ging es um eine Konsolidierung der Parteidiktatur, ein besseres Verhältnis zwischen Regime und Gesellschaft bei gleichzeitigem Festhalten am Bündnis mit der Sowjetunion. Aufgrund der traumatischen Erfahrungen von 1956 sei die Führung der ungarischen KP meist vorsichtig, manchmal auch widersprüchlich, stets eher tastend vorgegangen, habe sich immer mit der sowjetischen Parteispitze abgesprochen und sei zugleich stets bedacht gewesen, die ungarische Gesellschaft nicht zu sehr zu belasten.

Die radikalen ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandlungen, die Ungarn in den 1960er-Jahren veränderten, können aber nur sehr begrenzt rein nationalgeschichtlich erfasst, geschweige denn verstanden werden. Ein Teil der Reformen hing mit der zunehmenden Notwendigkeit zusammen, Ungarn in den Welthandel zu integrieren. In den Jahren nach 1956 ging es zunächst um eine Überwindung der diplomatischen Isolation des Landes. Schließlich öffnete die ungarische Staatsführung schrittweise die Grenze für ihre Bürger, auch nach Westen (Passgesetz 1963), genau in der Zeit, als sich die DDR mit einer Mauer umgab! Was dies alles für die „einfachen“ Menschen bedeutete, wie sehr politische Rahmenbedingungen und Alltag ineinander verwoben waren, und wie etwa Arbeiterinnen sich ihr Leben zwischen Zwängen und Möglichkeiten in ständigen, kleinteiligen Verhandlungen mit ihrer näheren Umgebung gestalteten, darüber gibt der Beitrag von Eszter Tóth Auskunft.

In ihrem Aufsatz “Flats, gardens, oranges, Kennedy rings. Symbolic possessions depicted in life-course interviews with workers decorated in the Socialist period” (S. 160-198), der auf Lebenslauf-Interviews mit einigen Arbeiterinnen einer Budapester Strumpffabrik beruht, beschreibt und analysiert Tóth einige wichtige Aspekte des Lebens und Alltags dieser von der „großen Politik“ scheinbar so fernen Gruppe. Man erfährt etwas über die Migration aus Dörfern nach Budapest seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die allerdings nicht dazu führte, dass die Migrantinnen einfach urbane Lebensweisen annahmen. Vielmehr entstanden in den Siedlungen, in den Wohnungen, die sich die Arbeiterinnen auf manchmal sehr ungewöhnliche Weise auf dem hart umkämpften inoffiziellen Wohnungsmarkt nach jahrelangen Mühen verschafft hatten, ganz neue Lebensformen. So gestaltete sich das Verhältnis zwischen Arbeitsplatz, Verwandten und Nachbarn in einigen Bereichen eher nach den Gewohnheiten, die aus den ländlichen Herkunftsorten mitgebracht wurden, als nach städtischen Traditionen.

Der Wohnungsschlüssel, den in die Stadt reisende Verwandte „immer unter der Matte“ fanden, kann ebenso wie die komplexen Beziehungen zu „bösen“ und „guten“ Nachbarn in der Logik der gegenseitigen Hilfe und sozialen Überwachung verstanden werden, wie sie lange Zeit die Dorfgemeinschaften gekennzeichnet hatten. Doch spielte sich alles in einem sehr komplizierten, keineswegs einfach von der „Staatsmacht“ oder „der Partei“ kontrollierten oder auch nur initiierten Rahmen ab, denn auch dieser Rahmen war Teil des alltäglichen Aushandelns, der nicht nur auf Patronage, Vetternwirtschaft, Korruption oder ähnliche Erscheinungen zurückgeführt werden kann.

Kurios mutet etwa an, dass der Staat sich erhoffte, das sehr drängende und nie wirklich gelöste Problem der Wohnungsknappheit durch so genannte „Pflegeschaftsverträge“ zu lindern. Danach verpflichtete sich eine Wohnungssuchende (fast immer waren es Frauen) dazu, eine ältere, kranke Dame zu pflegen, wofür sie dann mit der Übertragung (nicht: Erbe) der Mietwohnung nach dem Tod des Pflegefalls belohnt werden sollte. Das führte zu zahlreichen, oft sehr giftigen Streitereien, weil sich entweder die „freiwilligen“, nebenberuflichen Pflegerinnen oder die zu Pflegenden ausgenutzt fühlten, weil Nachbarn oder Verwandte sich in das Verhältnis einmischten. Wenn auf dem legalen Wege rare Konsumgüter „illegal“ verkauft wurden, versuchte die Staatsmacht, Stärke zu demonstrieren, verfing sich aber nicht selten in den alltäglichen Netzen von Abhängigkeiten, Gefälligkeiten, Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen. Auch der Beitrag von Sándor Horváth über die seit den späten 1950er-Jahren sich ausbreitenden alternativen Jugendkulturen in Ungarn, deren Identitätskonstruktionen mit Anleihen aus der westlichen Teenagerkultur, die zugleich symbolisch in den realsozialistischen Alltag integriert und damit kulturell transformiert wurden, gibt tiefe Einblicke in das komplizierte Verhältnis zwischen Staat und Bürgern in der Diktatur.

Der Studienband ist für die Lektüre all jener dringend zu empfehlen, die sich mit dem politischen und sozialen Wandel Europas in den 1960er- Jahren des 20. Jahrhunderts befassen und die sich nicht mit einer oberflächlichen Betrachtung der selbsternannten Zentren des Kontinents zufrieden geben.

Anmerkungen:
1 „Hatvanas Èvek“ Magyarországon. Tanulmányok. [„Sechziger Jahre“ in Ungarn. Studien] Rainer, János M. (Hg.), Budapest 2004. Dieser Band enthält 17 Studien und umfasst über 500 Seiten, damit ist in der englischen Ausgabe mehr als die Hälfte des Originalbandes weggelassen worden.

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