Titel
Eine Hitler-Jugend. Sozialisation, Biographie und Geschichte in einer soziologischen Fallstudie


Autor(en)
Kannonier-Finster, Waltraud
Erschienen
Innsbruck 2004: StudienVerlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 19,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Edgar Forster, Universität Salzburg, FB Erziehungswissenschaft und Kultursoziologie, edgar.forster@sbg.ac.at

In einer exemplarischen Fallstudie untersucht die Innsbrucker Soziologin Waltraud Kannonier-Finster, „wie im Nationalsozialismus männliche Jugendliche durch die Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend in ihrem Weltbild geprägt und auf ihre Rolle als Soldaten in der Deutschen Wehrmacht vorbereitet wurden“ (S. 17). Mit dieser Studie verbindet die Autorin drei Interessen:
Erstens untersucht sie am Beispiel des 1925 in einer ländlichen Region Österreichs geborenen Alois Hauser die Bedeutung der Hitler-Jugend als Sozialisationsagentur. Wie kann man die Faszination und Bindungskraft erklären, die diese Teilorganisation der NSDAP auf die Jugendlichen ausübte und wie gelang es ihr, den Jugendlichen jene bedingungslose Opferbereitschaft einzupflanzen, die als eine wesentliche Voraussetzung für die spätere Wehrbereitschaft galt?
Zweitens geht es Kannonier-Finster um Fragen des Erinnerns und Vergessens. Wie kann Alois Hauser die Jahre der Hitler-Jugend und das Kriegserleben als „schöne Zeit“ bewahren? Und wie kontextualisiert eine soziologische Forschung solche Erzählungen? Das Buch räumt methodologischen Reflexionen breiten Raum ein. Auf der einen Seite werden die Quellen des biographischen Erzählens problematisiert, zum anderen wird der Forschungsprozess selbst als eine Form der Tradierung von Familiengeschichte begriffen. Dies wird in Interviews mit Familienangehörigen zum Thema. Die Autorin knüpft dabei an frühere Studien über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit und Exemplarische Erkenntnis an (1). Bereits in dem Band "Exemplarische Erkenntnis" (1998) präsentiert Waltraud Kannonier-Finster die Lebensgeschichte des Alois Hauser und formuliert methodische und theoretische Rahmenbedingungen für deren Analyse (2). Dort wird erzählte Geschichte als narrative Symbolisierung von Erfahrungen begriffen. Sie hat eine ähnliche Funktion wie das Freudsche Fort-Da-Spiel, denn sie wird zur Quelle des Trostes über erlittene Schmerzen und den Verlust geliebter Objekte. Weil solche Geschichten Unsagbares in Szene setzen oder in Bildern fassen, müssen sie über den Weg des szenischen Verstehens entschlüsselt werden. Im vorliegenden Buch treten dagegen das soziologische Verstehen der individuellen Lebensgeschichte und damit Fragen der Objektivierung stärker in den Vordergrund. Erzählte Geschichten werden als Interpretationen erster Ordnung begriffen und von wissenschaftlichen Interpretationen zweiter Ordnung unterschieden. Diese haben Interpretationen der ersten Ordnung zum Gegenstand. Sie erklären die Regelhaftigkeit der Entstehung von Interpretation erster Ordnung und machen die Subjektivität sowie die soziale Bedingtheit verständlich. In die Interpretation geht schließlich auch der Forschungsprozess als „Bühne“ des Dramas der Tradierung eines Ausschnitts der Hauserschen Familiengeschichte ein. Deswegen müsse, so Kannonier-Finster, die Lebensgeschichte des Alois Hauser ausführlich präsentiert werden, damit sie nicht nur als Steinbruch benützt wird, „um eigene Deutungen der Vergangenheit zu plausibilisieren“ (S. 28).
Der dritte Aspekt der Studie schließt hier an: Über das Verstehen des Einzelfalls hinaus soll die Geschichte Alois Hausers Aufschluss über grundlegende Mechanismen geben, „wie soziale Systeme Jugendliche zu kontrollieren und manipulieren imstande sind“ (S. 20). Zugleich aber soll gezeigt werden, wie Spielräume für die „Entwicklung von Eigensinn, Experimentierfreude und utopisches Denken“ (ebd.) genutzt werden.
Das Buch "Eine Hitler-Jugend" gliedert sich in lebensgeschichtliche Abschnitte des Protagonisten Alois Hauser: Soziale Herkunft, Elternhaus und Kindheit werden ausgeleuchtet, Hausers HJ-Mitgliedschaft und seine Zeit bei der deutschen Wehrmacht bilden den Schwerpunkt der Darstellung, außerdem werden Kriegsgefangenschaft und Heimkehr sowie das Leben nach 1945 rekonstruiert. Zwischen diese Kapitel der lebensgeschichtlichen Rekonstruktion schieben sich wirtschaftliche, soziale und politische Analysen, die die subjektiven Berichte kontextualisieren. Hinzu kommen theoretische und methodische Abschnitte (über Jugend und Adoleszenz oder über "Das Tagebuch als sozialwissenschaftliche Quelle"). Dieser Aufbau entspricht dem methodologischen Anspruch, die subjektive Deutung zu präsentieren, sie durch soziale, politische und ökonomische Kontexte zu objektivieren und zu kontrastieren und dabei den Blick auf den Forschungsprozess einzubeziehen.
Alois Hausers erzählte Biographie ohne Heldentaten und Dramen ist die eines „Namenlosen“, so Christian Fleck im Vorwort (3). Hauser fällt nicht auf, er hat keine besondere Mission zu erfüllen und nimmt keine hervorragende Stellung ein. Seine Begeisterung für die HJ ist auch viele Jahre später noch augenscheinlich, im Interview aber bleibt sie vage; und seine Enttäuschung über die Wehrmacht entspringt nicht der Kritik am nationalsozialistischen Herrschaftsapparat, sondern ist Ausdruck „gebrochener Erwartungen“ (S. 125), einmal gehegter großer Hoffnungen und Träume. So entsteht der Eindruck einer an Erlebnissen und Erfahrungen armen Biographie, für die eine Reihe von Spaltungen typisch sind: Der HJ, erzählt er, sei er nicht wegen der Ideologie beigetreten, sondern „wegen dem Sport“ und in der Wehrmacht gekämpft habe er zum Schluss nicht mehr für das System, sondern wegen seiner Auffassung der Soldatenrolle: „Und Alois Hausers Loyalität und Ergebenheit gelten nicht in erster Linie dem ‚Führer’ und dem Nationalsozialismus. Alois Hauser ist seiner Soldatenrolle verschrieben. Es sei ein großer Unterschied gewesen zwischen dem, ‚was Soldat ist und was parteipolitisch ist’.“ (S. 125 f.) Diese Spaltungen, die die Rekonstruktion charakterisieren und nicht unbedingt den damaligen Erfahrungen entsprechen müssen, aber vermutlich noch vor 1945 eingesetzt haben, bilden auch den Rahmen für jene Enthistorisierungsarbeit der eigenen Geschichte nach 1945, die den nahtlosen Übergang in die Nachkriegsordnung möglich gemacht hat. Die katholische Kirche war dabei auch für Alois Hauser eine wichtige Ressource: „Nach 1945 gibt es in der Kirche Tendenzen, die Erfahrungen der Heimkehrer in einem religiösen Kontext zu deuten. Krieg und Gefangenschaft werden als schmerzliche Perioden eines Leidensweges der Männer betrachtet, die von konkreter Geschichte nahezu vollständig befreit sind. Diese Interpretationen stützen das allgemeine Bedürfnis, den ideologischen Weltanschauungskrieg, an dem man soeben noch teilhatte, zu entideologisieren.“ (S. 149) Die Spaltungen sind deshalb ein wichtiger Rahmen der Enthistorisierungsarbeit, weil sie die Grundlage dafür bilden, dass aus den damaligen Erfahrungen jugendliche Abenteuergeschichten werden, die nicht mehr historisch, sondern anthropologisch begriffen werden. Das Kapitel Jugend und Adoleszenz als Übergangsphase, das als – notwendige – Begriffsklärung angelegt ist, ist von dieser Anthropologisierung nicht völlig frei.
Das Buch "Eine Hitler-Jugend" von Waltraud Kannonier-Finster ist kein weiteres Buch über die Hitler-Jugend und die Lebensgeschichte des Alois Hauser überrascht nicht. Sie ist nur allzu bekannt, seit die Biographieforschung einen derartigen Boom erlebt hat und Lebensgeschichten zu einem festen Bestandteil (populärer) Geschichtsschreibungen geworden sind. Aber gerade die Popularisierung der Arbeit mit lebensgeschichtlichen Dokumenten lenkt den Fokus auf die Stärke des Buches, auf die Frage nämlich, wie man Lebensgeschichten rekonstruieren und objektivieren kann, welche allgemeinen Erkenntnisse sich daraus gewinnen lassen und welche Bedeutung der Forschungsprozess für die Tradierung von Geschichte, von historischem Wissen und historischen Erfahrungen hat.
Das Augenmerk meiner Lektüre und Kritik richtet sich denn auch auf Aspekte des Forschungsprozesses, darauf, wie die Autorin das Interview führt, wie sie die Erzählungen aufnimmt, interpretiert und zu einer biographischen Rekonstruktion verdichtet. Die Qualität des Buches besteht meines Erachtens darin, den gesamten Forschungsprozess sichtbar zu machen. Insbesondere die längeren Ausschnitte aus den Interviews geben einen guten Einblick in das Verhältnis zwischen der Forscherin und des von ihr befragten ehemaligen Hitlerjungen und Soldaten. Dies eröffnet den Raum für eine Reihe von methodologisch relevanten Fragen nach den Voraussetzungen, Ressourcen und Grenzen biographischer Forschungsarbeit, aber über die RezipientInnen mit ihren Erwartungen und Übertragungen, die es zu bestimmen gilt.
Deswegen ist es nicht unwichtig festzuhalten, dass sich nach der ersten Lektüre Enttäuschung darüber eingestellt, wie wenig Hausers Geschichte „hergibt“. Banal ist vielleicht nicht seine Lebensgeschichte (wie ließe sich darüber auch urteilen), aber die Art und Weise, wie sie erzählt wird. Die Erinnerungen überschreiten nur selten gängige Meinungen und oft gehörte Stereotypen über den Nationalsozialismus und Wehrmachtserfahrungen. Die Erzählungen sind oft weit von Erfahrungen entfernt, zu sehr scheint sich Geschichte wie ein eingefrorener Klumpen aus Bildern und Redeweisen in der Erzählung durchzusetzen. Liegt das am Thema? Ist die Methodenwahl problematisch? Oder müsste die Interviewerin ihre zurückhaltende Position aufgeben? Schließlich: Wie kommt es zu dieser Enttäuschung? Mit welchen Erwartungen beginnt man die Lektüre? Mit der Erwartung, ein Schuldeingeständnis zu lesen, eine differenzierte Reflexion der eigenen Lebensgeschichte und eine kritisch Distanz zu ihr? Resultiert die Enttäuschung nicht aus der Erwartung, über eine – schmerzliche – Lernerfahrung zu lesen? Die Geschichte eines Mannes, der sich an seiner Geschichte abgearbeitet hat? Umgekehrt wird aber auch die Erwartung enttäuscht, dass sich hier eine hartnäckige Widerspenstigkeit zeigt, sich seine Geschichte umdeuten zu lassen. Vielleicht besteht die Enttäuschung darin, dass die Geschichte des Nationalsozialismus nicht tiefere Spuren hinterlässt, zumindest nicht in der Geschichte, die von Alois Hauser erzählt wird. Die Geschichte ist wie die Rechtfertigung der Jugend- und Kriegserfahrung eine ‚ahistorische Geschichte’, seltsam zeitlos und allgemein.
Durch die Interpretationen hindurch stellt sich ein eigentümlicher Eindruck ein: Der Text repräsentiert nicht die Geschichte eines Hitler-Jungen und eines jungen Soldaten der deutschen Wehrmacht, sondern er markiert vielmehr das Scheitern dieser Repräsentation. Gerade der Aufbau des Buches – die Konfrontation der erzählten Lebensgeschichte mit sozialen, politischen und ökonomischen Analysen des Nationalsozialismus – verstärkt diesen Eindruck, denn die Bilder, die durch die historischen Zugänge entstehen, lassen sich im Interviewmaterial nicht wieder finden, aber nicht, weil er eine andere Geschichte erzählt, sondern weil Alois Hauser ihr die Bedeutung entzieht. Mit der verfehlten Repräsentation zerfällt auch die Phantasie, as close as possible an die Wirklichkeit der damaligen Zeit heranzukommen. Patti Lather setzt sich mit den methodologischen Konsequenzen dieser Einsicht auseinander, wenn sie von den Grenzen der Stimme spricht, die die Lebensgeschichte erzählt und den Spuren in dieser Stimme, die zwischen den Ruinen des Realismus auftauchen und mir als Leser meinen Lektüre-Eindruck der Banalität vorführt (4). Gerade in der spröden Darstellung und der zurückhaltenden Interpretation der Lebensgeschichte von Alois Hauser eröffnet sich der Raum für neue methodologische Einsichten, zu denen Waltraud Kannonier-Finster herausfordert.

Anmerkungen:

(1) Ziegler, Meinrad/Kannonier-Finster, Waltraud (unter Mitarbeit von Marlene Weiterschan): Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Mit einem Beitrag von Mario Erdheim. Wien u.a.: Böhlau 1997 (2. Aufl.). – Kannonier-Finster, Waltraud/Ziegler, Meinrad (Hg.): Exemplarische Erkenntnis. Zehn Beiträge zur interpretativen Erforschung sozialer Wirklichkeit. Innsbruck/Wien: StudienVerlag 1998.

(2) Kannonier-Finster, Waltraud: „Der Krieg war eigentlich immer bei uns.“ Fallstudie über Biographie, Familie und Geschichte – ein Bericht. In: Kannonier-Finster, Waltraud/Ziegler, Meinrad (Hg.): Exemplarische Erkenntnis. Zehn Beiträge zur interpretativen Erforschung sozialer Wirklichkeit. Innsbruck/Wien: StudienVerlag 1998, S. 205-224.

(3) Fleck, Christian: Władek, Stanley, Alois Hauser und andere. Die Einzelfallstudie in der Soziologie. In: Kannonier-Finster, Waltraud: Eine Hitler-Jugend, a.a.O., S. 7-15.

(4) Vgl. Lather, Patti: Postbook: Working the Ruins of Feminist Ethnography. In: Signs – Journal of Women in Culture and Society, Vol. 27 (2001), No. 1, 199-227. Vgl. auch Signs – Journal of Women in Culture and Society, Vol. 30 (2005), No. 4: New Feminist Approaches to Social Science Methodologies.

Diese Rezension wurde betreut von:
Dr. Rita Casale, Pädagogisches Institut, Universität Zürich
rcasale@paed.unizh.ch

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension