K. Piepenbrink: Christliche Identität und Assimilation

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Titel
Christliche Identität und Assimilation in der Spätantike. Probleme des Christseins in der Reflexion der Zeitgenossen


Autor(en)
Piepenbrink, Karen
Reihe
Studien zur Alten Geschichte 3
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Verlag Antike
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Lambrecht, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz

Im Zentrum der Aufmerksamkeit gegenüber Äußerungen spezifisch christlichen Selbstverständnisses in der Spätantike und der Auseinandersetzung mit dem inneren Zustand der Kirche und ihrem Verhältnis zur Außenwelt stehen gewöhnlich asketische Auffassungen. Mit dieser Konzentration des Forschungsinteresses auf Radikalpositionen gerät die Situation normaler Durchschnittsgläubiger in einer gemischten heidnisch-christlichen Lebenswelt aus dem Blickfeld. Dem will Karen Piepenbrink entgegenwirken, indem ihre Studien "gezielt diejenigen [Reflexionen des innerchristlichen Diskurses untersuchen, welche die Situation 'durchschnittlicher' Christen beleuchten" (S. 20). Probleme im Zusammenhang mit der Einbeziehung des Christentums in die Alltagswelt des Römischen Reiches der Spätantike wie Fragen der Identität und Angleichung ("Akkulturation", "Assimilation"), ja synkretistischer Phänomene etwa der religiösen Praxis macht sie zum Gegenstand ihrer Untersuchung. Werke zur Patristik wie die von Robert Markus und Christian Gnilka 1 beschäftigen sich aus anderem Blickwinkel mit diesen Phänomenen; Piepenbrink kritisiert bei Markus methodische Unzulänglichkeiten wie die fehlende Differenzierung zwischen Quellenaussage und eigener Interpretation, bei Gnilka die zwischen Osten und Westen des Reiches und zwischen Prinzipat und Spätantike. Als Zeitrahmen steckt sie das Jahrhundert von Konstantin bis zum Tode des Augustinus im Jahre 430 ab und begründet dies mit der Einheitlichkeit dieses Zeitraumes nach dem Ende des Verfolgungsdrucks, der Ausbreitung des Christentums und seiner Abgrenzung von heidnischen Glaubensformen in dieser Periode, was aufgrund der Normalisierung der Lage des Christentums günstige Voraussetzungen für das Eingehen auf Alltagsprobleme der Christen im spätrömischen Reich bot. Dabei beschränkt sie sich ohne hinreichende Begründung (S. 21: "aufgrund der Unterschiede, die […] aus politischen wie aus kulturellen Gründen […] bereits a priori zu vermuten sind") auf den Westteil des Römischen Reiches.

In fünf Themenfeldern breitet Piepenbrink ihren Gegenstand aus: Sie zeigt zunächst an der "Hinwendung zum Christentum" (Kap. 2) die Prozesshaftigkeit der conversio normaler Christen samt damit verbundener Anfechtungen und Rückschläge auf. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie in diesem Zusammenhang dem Verhältnis von Verhalten und Glauben, Fragen hinsichtlich der Taufe und der Aneignung der christlichen Lehre. Weiterhin geht es um die Qualität des Christentums ("Zugehörigkeit zur Kirche: 'Gute' und 'schlechte' Christen", Kap. 3) in der Praxis von Glauben und Verhalten, insbesondere um das Verhältnis der Kirche zu den mali und deren Einfluss auf die boni. Der gesellschaftlichen Einbindung der Christen trägt die Darstellung der "Zugehörigkeit zu verschiedenen Gemeinschaften: Bezugs- und Normenkonflikte" (Kap. 4) Rechnung. Hier geht es um den Umgang mit Sündengefährdungen unterschiedlichen Grades, denen der Christ aufgrund seiner gesellschaftlichen Einbindung ausgesetzt ist, wie sie sich in den Bereichen von Ehe und Familie, in Fragen des Sozialprestiges, im Umgang mit Reichtum und im Verhältnis zum Staat ergeben können, wenn er den Bezug auf Gott und die Ausrichtung auf irdische Güter in der rechten Weise abzuwägen gehalten ist. Ein grundlegendes Feld der Auseinandersetzung ist das Verhältnis von Christentum und Heidentum ("Pagane Religion", Kap. 5); die Gegebenheiten der spätantiken Gesellschaft bieten typische moralische Konfliktfelder wie das Spielewesen, aber auch glaubensgefährdende Themen wie die Astrologie, Wunder, Opfer, Totenmähler, ferner die Notwendigkeit des Umgangs mit der Ambivalenz von Musik und Tanz. Neben der Abgrenzung zwischen christlichem und paganem Verhalten erweist die Praxis, dass "auch auf der Ebene des Glaubens die Grenze zwischen heidnisch und christlich fließend ist" (S. 335). Probleme für den Christen bieten schließlich "Bildung, Philosophie und Rhetorik" (Kap. 6), die pagan geprägt, deren Kenntnis jedoch Voraussetzung für bestimmte Laufbahnen ist. Der Christ kann ihre Anwendung zumindest teilweise eben auch in den Dienst des Glaubens stellen.

Piepenbrink stellt also, geordnet nach diesen Kategorien und gegliedert in zahlreiche Teilaspekte, die Problematik von Identität und Akkulturation der Alltagschristen nach der Überlieferung der patristischen Literatur des untersuchten Zeitraums im Westen des Römischen Reiches zusammen. Hierzu hat sie die Werke der Kirchenväter, ohne zwischen ihnen zu differenzieren, systematisch gesichtet und die Belege ohne Rücksicht auf die Argumentationszusammenhänge, in denen sie in den Quellen verwendet werden, in die für ihre eigene Darstellung gewählte, bezüglich der Bandbreite der Befunde durchaus aspektreiche Anordnung gebracht. Sie verteidigt diese Vorgehensweise durch Bemerkungen über die gelegentliche Zusammenhanglosigkeit solcher Nachrichten mit den eigentlichen Absichten des Autors und daraus sich ergebender "Schlüsse auf die starke Verbreitung derartiger Vorstellungen" (S. 393). Damit bezieht sie letztlich aus der Ablehnung hermeneutischer Verfahrensweisen die Rechtfertigung für ihre Art der Präsentation, in der sie Kategorie für Kategorie, Gesichtspunkt für Gesichtspunkt durchgeht und als Belege Befund nach Befund präsentiert, bis am Ende für einen bestimmten Zeitraum und bestimmte Regionen die Ergebnisse zum Thema umfassend und wohlgeordnet vorzuliegen scheinen. Es ist allerdings zu fragen, ob die Intentionalität der einzelnen Kirchenväter und die Differenzierung zwischen den Personen und den Textgattungen in dieser Weise ausgeblendet werden dürfen, wenn man den "Problemen des Christseins in der Reflexion der Zeitgenossen", wie es im Untertitel heißt, wirklich gerecht werden will - zu deren rechtem Verständnis müsste man nämlich über bloße Aufzählungen und Belegreihen zum Zwecke der reinen Dokumentation von Zuständen hinausgelangen.

Hinzu kommt ein weiteres: Der Anschein der Objektivität und Allgemeingültigkeit des Befundes im untersuchten Zeitraum und in der ausgewählten Region wird dadurch unterstützt, dass im Text die Namen der ausgewerteten Kirchenväter nur selten genannt sind, stattdessen eine neutrale oder passive, dabei in unbestimmter Weise quantifizierende Ausdrucksweise favorisiert wird2, die einen allgemeinen Anspruch zu erheben scheint, auch wenn nur ein Quellenbeleg angegeben ist. Gewiss ist es utopisch, in diesen Zusammenhängen Belegvollständigkeit zu erwarten, doch die Häufung derartiger Angaben in der ganzen Untersuchung stimmt misstrauisch. Statt der so neutral aussehenden Befundreihung nach unterschiedlichen Kategorien wünschte man sich Interpretationen aus dem Begründungskontext der Quellen, um Hinweise zur Gewichtung von Argumenten zu bekommen, die quantitative Angaben so unbestimmter Art allein nicht hergeben. Es liegt auf der Hand und ist an den Fußnoten leicht nachzuvollziehen, dass Augustinus der bei Weitem wichtigste Autor für Piepenbrinks Thematik ist, mit Abstand gefolgt von Ambrosius und Hieronymus, während Kirchenväter wie Hilarius von Poitiers und Paulinus von Nola zu den seltener herangezogenen, weniger Einblicke ins Thema beisteuernden Quellenautoren zählen. Es wäre zu fragen, ob es im Interesse einer sachgerechten Auswertung der Autoren nicht angemessener gewesen wäre, zugunsten der Argumentation aus dem Kontext den in der von Piepenbrink praktizierten Weise auf tönernen Füßen stehenden Anspruch auf Allgemeingültigkeit fallen zu lassen und sich auf einen einzelnen Kirchenvater zu beschränken oder eine wohlbegründete Auswahl zu treffen.

Nach der Lektüre des Buches darf man auch die Frage nach Sinn und Nutzen der - gewiss in entsagungsvoller Arbeit entstandenen - systematisierten, aber eben auch anonymisierten Präsentation der Quellenbefunde stellen. Diese geben eine Unterschiede nivellierende Zustandsbeschreibung für einen bestimmten Zeitraum und bestimmte Regionen ab, binden die Ergebnisse aber nicht in den Kontext des historischen Wandels in der Spätantike ein - und das wäre im Interesse einer wirklichen Differenzierung dringend geboten. Einen Schritt von dieser statischen Betrachtung in Richtung einer historische Einsichten vermittelnden dynamischen Sichtweise zu tun fiele bei Beschränkung auf das Œuvre eines einzelnen Kirchenvaters sicher leichter.

Karen Piepenbrink stellt in den pastoralen, homiletischen, exegetischen und dogmatischen Werken der Kirchenschriftsteller des 4. und des beginnenden 5. Jahrhunderts heraus, dass das Leben gewöhnlicher Christen in der spätrömischen Gesellschaft vielfach von Kompromissen mit herkömmlichen paganen Gepflogenheiten gekennzeichnet war, die man bemühte, um - anders als Vertreter der Askese - gemeinsame Grundlagen herauszustellen. Im Interesse von Anhaltspunkten für die Beantwortung der Frage: cui bono? wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Untersuchung die Historisierung der zusammengestellten Beobachtungen aus patristischen Werken überzeugend einbezogen hätte, statt hierfür nur eine Basis zu schaffen. In diesem Sinne freilich ist die Publikation dank ihres kleinteiligen Inhaltsverzeichnisses, des Registers und der praktischen Kapitelzusammenfassungen zum Nachschlagen gut verwendbar.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Markus, Robert A., The End of Ancient Christianity, Cambridge 1990; Gnilka, Christian, Chresis. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur, 2 Bde., Basel 1984/1993.
2 Zum Beispiel: "An vielen Stellen wird hervorgehoben, […]" (S. 42); "Zudem wird ausgesagt, […]" (S. 43); "Oftmals wird thematisiert, […]" (S. 44); "Immer wieder bemerkt man, […]" (S. 45); "[…] bringen zuweilen als Argument vor, […]" (S. 47); "In vielen Fällen […]" (S. 49).

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