Rez. CD-ROM: Linne ueber "Der Nuernberger Prozeß...."

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Linne, Stiftung fuer Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts - Hamburg Email:

Nachdem das Protokoll des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher bereits 1947 in Buchform erschien – später gab es noch einen Reprint und eine Mikrofiche-Ausgabe –, liegt es nun in digitaler Form auf einer CD-Rom vor. Der "Jahrhundertprozeß" gegen die Spitzenfunktionäre des Dritten Reichs fand, geführt von den vier alliierten Siegermächten, vom 14. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 in Nürnberg statt. Der Prozeß ging als der "Nürnberger Prozeß" in die Geschichte ein, was dazu führte, daß man die zwölf sogenannten "Nachfolgeprozesse" weitaus weniger beachtete. Bis heute blieb der Prozeß Gegenstand von öffentlichen und wissenschaftsinternen Debatten. Bei den Völkerrechtlern war und ist er aufgrund seiner Vorbereitung, der Rahmenbedingungen und Begleitumstände umstritten; demgegenüber neigen die Geschichtswissenschaftler zu einem positiveren Urteil und nutzen die Prozeßunterlagen als eine wichtige zeitgeschichtliche Quelle. Auf die Prinzipien von Nürnberg wird bei den Überlegungen zur Einrichtung neuer internationaler Kriegsverbrechertribunale immer wieder rekurriert.

Pläne zur Bestrafung der Hauptschuldigen an Weltkrieg und Massenverbrechen gab es bei den Alliierten schon lange vor Kriegsende. Nach und nach einigte man sich auf die Einrichtung eines Militärgerichtshofs, dessen Zuständigkeit sich auf folgende Verbrechen erstrecken sollte: Verbrechen gegen den Frieden (Planung, Vorbereitung und Führen eines Angriffskriegs), Kriegsverbrechen (Verletzung der international anerkannten Kriegsgesetze), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an einer Zivilbevölkerung). Nach zweihundertachtzehn Verhandlungstagen wurden in diesem Mammumtprozeß die Urteile verkündet. Drei der Angeklagten (Franz von Papen, Hjalmar Schacht, Hans Fritzsche) wurden freigesprochen, vier Angeklagte (Karl Dönitz, Konstantin von Neurath, Baldur von Schirach, Albert Speer) erhielten Strafen zwischen zehn und zwanzig Jahren), drei Angeklagte (Walter Funk, Rudolf Heß, Erich Raeder) erhielten eine lebenslange Haftstrafe. Die übrigen Angeklagten (Hans Frank, Alfred Jodl, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Wilhelm Frick, Hermann Göring, Julius Streicher, Arthur Seyß-Inquart, Fritz Sauckel, Alfred Rosenberg, Joachim von Ribbentrop) wurden zum Tode durch den Strang verurteilt. Zur gleichen Strafe wurde – in Abwesenheit – auch Martin Bormann verurteilt. Robert Ley hatte während des Verfahrens Selbstmord verübt, Hermann Göring gelang dies unmittelbar vor seiner Hinrichtung. Angesichts der Fülle des von Anklage bzw. Verteidigung präsentierten Materials und nicht zuletzt wegen der zentralen Position der Angeklagten im nationalsozialistischen Herrschaftssystem sowie der Tatsache, daß der Prozeß die erste Bilanz der nationalsozialistischen Herrschaft darstellte, bildet das Protokoll nach wie vor eine überaus wichtige Quelle für die Zeitgeschichtsschreibung.

Auf der CD-Rom, die den Bänden 1 bis 23 der amtlichen Textausgabe des Internationalen Militärgerichtshofs in deutscher Sprache folgt, werden neben dem über 16.000 Seiten umfassenden Protokoll auch die Anklageschrift, das Urteil und die juristischen Grundlagen sowie weitere Materialien des Prozesses (Mitglieder des Gerichts, der Anklage und der Verteidigung etc.) präsentiert. Hinzu kommt eine knappe, aber nützliche Einleitung von Christian Zentner. Ebenfalls recht hilfreich sind die beigefügten zeitgenössischen Register (Sach-, Personen-, und Dokumentenindex), die mit ihrer Hypertextfunktionalität einen direkten thematischen Zugang bieten. Abgerundet wird die CD durch eine von 1918 bis 1945 reichende Zeittafel sowie ein Literaturverzeichnis zum Prozeß und den verhandelten Themen, das allerdings etwas veraltet erscheint und durch die neuere Literatur ergänzt werden sollte.

Die CD wendet sich natürlich primär an Wissenschaftler, ist nicht zuletzt dank ihres günstigen Preises aber auch für Lehrer, Studenten und Journalisten durchaus interessant. Die benötigten Systemvoraussetzungen sind erfreulich gering: Man braucht einen PC ab 486er, 8 MB RAM (16 MB empfohlen), eine Grafikkarte ab 640x480 Farben und als Systemplattform Windows 3.11, 95, 98 oder NT. Die zugehörige Software ist selbst für Anfänger problemlos installier- und leicht handhabbar. Die Benutzeroberfläche ist übersichtlich gestaltet, wodurch die Navigation leicht fällt. Die Suchfunktionen sind bei allen CDs der Digitalen Bibliothek gleich gestaltet und wurden bereits in früheren Rezensionen gerühmt. Zu Recht, wie ich meine, da sie über die Boolschen Operatoren, Klammern und Platzhalter selbst komplexe Volltextrecherchen erlauben. Ein Beispiel für eine – zugegebenermaßen sehr einfache – Suche sei hier als Screenshot eingefügt:

Das gesuche Wort kann, wie im oben gezeigten Beispiel, temporär markiert werden, wodurch man es im Text leichter findet. Darüber hinaus kann sich der Benutzer eine Fundstellenliste anzeigen lassen und zwischen den einzelnen Fundstellen hin- und herwechseln. Textpassagen und ganze Seiten können kopiert und in den eigenen Texten weiterverarbeitet werden. Hier muß man ein kleines Manko der Software erwähnen: Das Kopieren eines Textzitats über das Seitenende hinaus ist nicht möglich. Allerdings kann man bis zu acht Seiten am Stück über die Zwischenablage des Programms kopieren, wodurch dieser kleine Schönheitsfehler fast ausgeglichen wird.

Als praktische Nutzanwendung dieser Kopierfunktion und der Weiterverarbeitung des kopierten Textes sei hier ein Ausschnitt aus der Aussage von Otto Ohlendorf, dem Leiter der Einsatzgruppe D, präsentiert, die mit zu den Schlüsselszenen des Prozesses gehörte und Göring zu einem Wutausbruch veranlaßte. Die Distanziertheit, Kälte und Präzision, mit der Ohlendorf hier den Massenmord zugab und schilderte, wird selbst im geschriebenen Wort noch deutlich:

"OBERST AMEN: Wissen Sie, wieviele Personen durch die Einsatzgruppe D liquidiert wurden, und zwar unter Ihrer Führung?

OHLENDORF: In dem Jahre von Juni 1941 bis Juni 1942 sind von den Einsatzkommandos etwa 90000 als liquidiert gemeldet worden.

OBERST AMEN: Schließt diese Zahl Männer, Frauen und Kinder ein?

OHLENDORF: Jawohl. (...)

OBERST AMEN: Wissen Sie, wie diese Zahlen sich zu der Zahl der durch andere Einsatzgruppen liquidierten Personen verhalten?

OHLENDORF: Die Ziffern, die mir von anderen Einsatzgruppen bekannt sind, sind erheblich größer.

OBERST AMEN: Worauf ist das zurückzuführen?

OHLENDORF: Ich glaube, daß in den anderen Einsatzgruppen zu einem erheblichen Teil die Zahlen übertrieben wurden. (...)

OBERST AMEN: Haben Sie persönlich Massenhinrichtungen dieser Leute überwacht?

OHLENDORF: Ich bin bei zwei Massenhinrichtungen inspektionsweise dabei gewesen. (...)

OHLENDORF: Nach der Registrierung wurden die Juden an einem Ort zusammengefaßt. Von da aus wurden sie dann später an den Hinrichtungsort gefahren. Der Hinrichtungsort war in der Regel ein Panzerabwehrgraben oder eine natürliche Gruft. Die Hinrichtungen wurden militärisch durchgeführt, durch Pelotons mit entsprechenden Kommandos.

OBERST AMEN: Wie wurden sie zum Hinrichtungsort hinbefördert?

OHLENDORF: Sie wurden mit LKWs an die Hinrichtungsstätte gefahren, und zwar immer nur soviel, wie unmittelbar hingerichtet werden konnten; auf diese Weise wurde versucht, die Zeitspanne so kurz wie möglich zu halten, in der die Opfer von dem ihnen Bevorstehenden Kenntnis bekamen, bis zu dem Zeitpunkt der tatsächlichen Hinrichtung.

OBERST AMEN: War das Ihre Idee?

OHLENDORF: Jawohl.

OBERST AMEN: Und was geschah mit den Leichen, nachdem die Leute erschossen waren?

OHLENDORF: Sie wurden in dem Panzergraben oder in der Gruft beerdigt.

OBERST AMEN: Wie wurde festgestellt, ob die einzelnen wirklich tot waren oder nicht?

OHLENDORF: Die Einheitsführer beziehungsweise die Führer der Pelotons hatten Befehl erhalten, darauf zu achten und gegebenenfalls selbst den Fangschuß zu geben.

OBERST AMEN: Und wessen Aufgabe war dies?

OHLENDORF: Das tat entweder der Einheitsführer selbst oder ein von ihm dafür bestimmter Mann.

OBERST AMEN: In welcher Stellung wurden die Opfer erschossen?

OHLENDORF: Stehend oder kniend. (...)

OHLENDORF: Einige Einheitsführer verzichteten auf die militärische Liquidationsweise und führten die Tötung einzeln durch Genickschuß durch.

OBERST AMEN: Und Sie waren gegen ein derartiges Vorgehen?

OHLENDORF: Ich war gegen dieses Vorgehen, jawohl.

OBERST AMEN: Aus welchem Grund?

OHLENDORF: Weil es sowohl die Opfer als auch die, die zur Tötung befohlen waren, unendlich seelisch belastete."

[Der Nürnberger Prozeß: Sechsundzwanzigster Tag. Donnerstag, 3. Januar 1946, S. 25 ff. Digitale Bibliothek Band 20: Der Nürnberger Prozeß, S. 4110ff. (vgl. NP Bd. 4, S. 352 ff.)]

Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß es sich um eine sehr sinnvolle und brauchbare CD handelt. Wie bei allen digitalen Editionen dieser Art steht auch bei ihr zweifellos eher die Suche nach einzelnen Textstellen im Vordergrund. In der schnellen und unkomplizierten Form, in der dies möglich ist, liegt auch der entscheidende Vorteil gegenüber der Buchausgabe. Hingegen erweist sich das Lesen längerer Textabschnitte am Bildschirm – aufgrund der Größe des Ausschnitts – als etwas ermüdend. Der Verzicht auf die Aufnahme des weitere 18 Bände füllenden gedruckten Dokumentenanhangs wird damit begründet, daß die meisten als Beweismittel zugelassenen Dokumente während der Verhandlungen vollständig oder in Auszügen verlesen wurden und außerdem ihre Reproduktion den Preis vervielfacht hätte. Diese Begründung vermag aus meiner Sicht nicht zu überzeugen. Die Dokumente hätten den wissenschaftlichen Wert dieser Edition zweifellos enorm gesteigert. Geschichte hat Konjunktur, zumal wenn sie auf diesem vergleichsweise modernen Medium präsentiert wird. Die Tatsache, daß die CD sogar in einem Boulevardblatt wie dem Kölner Express lobend erwähnt wurde, gibt zu der Hoffnung Anlaß, daß ihr eine weite Verbreitung beschert sein könnte.

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