A. Jakir: Dalmatien zwischen den Weltkriegen

Titel
Dalmatien zwischen den Weltkriegen. Agrarische und urbane Lebenswelt und das Scheitern der jugoslawischen Integration


Autor(en)
Jakir, Aleksandar
Erschienen
München 1999: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
534 S.
Preis
€ 47,00
Rezensiert für Neue Politische Literatur und H-Soz-u-Kult von:
Sabine Rutar, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Aleksandar Jakir möchte mit seiner Studie über das Dalmatien der Zwi-schenkriegszeit "einen Beitrag zur Erforschung der Gründe des Schei-terns der jugoslawischen Integration leisten" (15), und stellt sich so einer hochbrisanten Fragestellung. In der Tat scheint die Ausgangslage bei diesem Forschungsthema doppelt erschwert, da nicht nur kommuni-stisch ideologisierte Blickwinkel der Nachkriegsjahrzehnte dechiffriert werden mußten, sondern auch die neueste, in der Tendenz nicht selten nationalistisch apologetische Historiographie nicht immer zum besseren Verständnis beiträgt und objektive Sichtweisen eher verstellt. Jakir ver-wahrt sich denn auch konsequent gegen einseitige Deutungen, die ent-weder nur den kroatischen Klagen über serbische Hegemonieansprüche Rechnung tragen oder aber letztere als reinen Mythos abtun möchten. Seine Studie ist ein wichtiger Beitrag zur Nationalismusforschung in der regionalen Vielfalt Südosteuropas, zu der es nach wie vor nur wenige Grundlagenstudien gibt. Auf eine gute theoretische Diskussion des Konzepts 'Nationalismus' folgt eine kongruente und interessante Über-tragung auf die südosteuropäischen und spezifisch dalmatinischen Ver-hältnisse. Große europäische Themen wie "wirtschaftlich-gesellschaftlicher Strukturwandel und Nations-/ Staatsbildung" (24) wurden bislang für Südosteuropa - und aus gegebenem Anlaß vor allem für die Länder des ehemaligen Jugoslawien - kaum erforscht.

Auf die Frage, "warum und wie […] die Konstruktion einer neuen, jugo-slawischen nationalen Identität" (15) scheiterte, kann es nur eine kom-plexe Antwort geben. Einerseits wird der Jugoslawismus als ein Begriff identifiziert, der von je her von den mit ihm operierenden Gruppen je-weils unterschiedlich definiert wurde. Andererseits zeigte sich, daß die kroatische Identität nach dem Ersten Weltkrieg schon zu gefestigt war, um von einem nicht ausreichend plausibel gemachten Jugoslawismus überlagert werden zu können. Die Begeisterung für den neuen Staat er-wies sich schnell als kaum mehr als ein Reflex auf die Bedrohung durch italienische Gebietsansprüche und der Jugoslawismus als eine von einer relativ kleinen Anzahl von Politikern und Intellektuellen getragene Idee, die nicht zuletzt in der Folge der Balkankriege und des Zusammen-bruchs Österreich-Ungarns an Wirkungskraft gewann. Serbien schließ-lich konnte als schon vor dem Krieg existierender Staat seine Kriegsteilnahme und seine repräsentative Funktion in Versailles zu einer Befrei-ungsideologie und einem Führungsanspruch den ehemals habsburgi-schen Südslawen gegenüber ummodellieren.

Neben die politischen Aspekte stellt der Autor die sozialen und interpre-tiert, Miroslav Hroch folgend, nationale Forderungen als verschlüsselten Ausdruck sozialer Bedürfnisse. Er untermauert in überzeugender Weise seine These, "daß es nicht zuletzt das Bewußtsein der eigenen Unterent-wicklung war, welches die nationale Emanzipation als Überwindungs-strategie […] hervorbrachte" (22). Die Konstrukteure des neuen Staates schafften es nicht, den Begriff des Jugoslawismus mit dem der Moderni-sierung zu verbinden. Identifiziert Jakir als zentralen Motor für den Er-folg der Kroatischen Bauernpartei, daß sie den Bauern konkrete Hilfen in der genossenschaftlichen Organisation und der Alphabetisierung bot, stellt er im Gegensatz dazu die Agitatoren der jugoslawischen Idee als an den tatsächlichen Bedürfnissen vorbei argumentierend dar, die ange-sichts ihrer Erfolglosigkeit die Bauern schließlich stereotyp als 'faul' und allzu verhaftet in ihrer traditionellen Lebensform abtaten.

Die enttäuschten Hoffnungen der dalmatinischen Städter auf der ande-ren Seite zeigt der Autor überzeugend am Beispiel Splits auf, das von an-fänglichen megalomanischen Modernisierungshoffnungen ernüchterte auf das reale Verbleiben im Provinzstatus ohne ausreichende Anbindung an das Hinterland. Gerade diese fehlende Eisenbahnverbindung, seit Ende des 19. Jahrhunderts gefordert und erst im titoistischen Jugoslawi-en tatsächlich gebaut, verkörpert symptomatisch das Scheitern der Inte-grationsversuche des ersten jugoslawischen Staates.

Ein interessantes und die These der Bedeutung sozialer Faktoren in der Herausbildung von Identitäten belegendes Moment ist die Entwicklung der in Dalmatien siedelnden serbischen Minderheit. Die sehr ähnlichen elenden Lebensbedingungen der kroatischen und serbischen Bauern - Jakir beschreibt eindrucksvoll die dalmatinische Variante der Weltwirt-schaftskrise - führten dazu, daß beide Gruppen einen Antagonismus zu Belgrad und zu großserbischen Aspirationen entwickelten. Die Demar-kationslinien verliefen also durchaus nicht nur entlang nationaler Defini-tionen, sondern schlossen eine regionale Komponente ein, die dem Ge-fühl entsprang, von Belgrad wirtschaftlich und infrastrukturell benachtei-ligt zu werden.

Als ein methodologischer Kritikpunkt ist anzumerken, daß sich hinter dem für den Untertitel gewählten Begriff 'Lebenswelt' kaum anderes als eine solide Sozial- und Politikgeschichte verbirgt. Obwohl der Autor sich einleitend in der Standortbestimmung überwiegend auf kultur- und all-tagsgeschichtliche Arbeiten (27) beruft, findet in der Folge eine (agrari-sche und urbane) Milieurekonstruktion unterhalb der Ebene des öffent-lichen Diskurses kaum statt. Die subjektiven Vorstellungswelten, die präsentiert werden, sind durchweg die von regionalen oder lokalen Poli-tikern, also von Personen, die im Lichte der Öffentlichkeit sprachen und schrieben. Auch werden deren Aussagen nicht immer in einen Rahmen gebettet, der es erlaubte, ihren repräsentativen Wert zu entschlüsseln. Daran ändert auch der Hinweis wenig, Aussagen über das dörfliche (aber nicht über das städtische) Leben beruhten, "wenn im Einzelnen nicht nachgewiesen durch Zitate" (132) auf Gesprächen mit Zeitzeugen.

Die Arbeit ist in einer grammatikalisch und stilistisch manchmal holpri-gen Sprache verfaßt; das Kartenmaterial ist zum Teil wenig informativ, weil zu klein abgedruckt und selbst für den des Kroatischen kundigen Leser nur schwer entschlüsselbar. Da die formulierten Thesen überzeu-gend untermauert werden, schadet es eher, wenn die gezogenen Schlüsse am Ende allzu abrupt und geradlinig auf das zweite, titoistische Jugosla-wien ausgeweitet und bis in die Gegenwart kolportiert werden. Dessen hätte es nicht bedurft, da viele Passagen, z. B. über großserbische Ideo-logien und ethnische Zwiste, Gedanken zu gegenwärtigen Ereignissen automatisch aufdrängen. In der Tat macht diese 'Aktualität' allein die Arbeit schon lesenswert.

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Rezension hervorgegangen aus der Kooperation mit der Zeitschrift Neue Politische Literatur (NPL), Darmstadt (Redaktionelle Betreuung: Simone Gruen). http://www.ifs.tu-darmstadt.de/npl/
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