D. Brandes; E. Ivanièková; J. Pesek: Erzwungene Trennung

Titel
Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938-1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien


Herausgeber
Brandes, Detlef; Ivanič ková, Edita; Pešek, Jiř í
Reihe
Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, 8; zugleich: Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 15
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
DM 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Zückert, Martin

Auch weit über fünfzig Jahre danach handelt es sich bei der Frage nach Vertreibung und Zwangsaussiedlung infolge des Zweiten Weltkriegs um ein „heißes Eisen“. Das „am meisten umstrittene Thema der deutsch-tschechischen, weniger der deutsch-slowakischen Zeitgeschichte“(9) sorgt auch heute noch für Irritationen. Die Frage nach der Gültigkeit der sogenannten Beneš-Dekrete, die der Aussiedlung der Sudetendeutschen vorausgingen, kommt etwa immer wieder ins Spiel, wenn es um die angestrebte EU-Mitgliedschaft der Tschechischen Republik geht. Um so mehr ist es zu begrüßen, daß seit geraumer Zeit ein Sammelband vorliegt, in dem in sachlicher Weise zum Teil aktuelle Forschungsergebnisse deutscher, tschechischer, slowakischer und ungarischer Historiker und Historikerinnen vereint wurden. In insgesamt 19 Beiträgen werden die Vorgeschichte, die Entwicklung der Aussiedlungspläne, die Durchführung der Vertreibung sowie zur selben Zeit in Ostmitteleuropa stattgefundene Bevölkerungsverschiebungen zur Darstellung gebracht. Aus dem Titel wie auch aus der Zusammenstellung ergibt sich die zentrale These des Bandes: Die Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei muß als Teil einer vielschichtigen Entwicklung interpretiert werden, die kein für sich allein stehendes Ereignis der Jahre 1945/46 war und zudem in einer Zeit stattfand, die geprägt war von der Idee des „ethnischen Prinzips“.

In den Beiträgen zur Vorgeschichte der Vertreibung wird die Komplexität der Entwicklung deutlich, ohne dem Leser das allzu einfache Schema einer Ursache-Folge-Logik aufzudrängen, nach dem die Vertreibung der Sudetendeutschen als bloßer Reflex auf antitschechische Maßnahmen der Nationalsozialisten zurückzuführen wäre. So zeigt Václav Kural in seinem Artikel auf, wie sich in den tschechischen Widerstandsbewegungen während des Zweiten Weltkriegs bis 1945 die Idee einer vollkommenen Aussiedlung der Deutschen aus den böhmischen Ländern durchsetzte (73-99). Statt einer von den Kommunisten in die Diskussion gebrachten antifaschistischen Lösung, nach der über jeden Sudetendeutschen anhand seiner Einstellung zum tschechoslowakischen Staat einzeln entschieden werden sollte, setzte sich das Modell einer antideutschen Lösung durch (95). Detlef Brandes beschreibt die im englischen Exil stattgefundenen Verhandlungen zwischen dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard Beneš und dem Hauptvertreter des sudetendeutschen Exils, Wenzel Jaksch (101-110). Dabei wird offensichtlich, wie gering die Chance war, im Kontext der Kriegsentwicklung das von Jaksch propagierte tschechisch-slowakisch-deutsche Föderationsmodell für die Nachkriegstschechoslowakei durchzusetzen.
Die Abhandlungen von Jaroslava Milotová zu Plänen zur Lösung der „tschechischen Frage“ (25-37) und Alena Míšková zu Rasseforschung und Oststudien an der Deutschen Universität in Prag (39-53) lenken den Blick auf Planungen nationalsozialistischer Organe zum Umgang mit dem tschechischen Volk und einer möglichen Umsiedlung. Aufgrund von Kompetenzwirren und des Kriegsverlaufs wurde weder die zuerst anvisierte „Germanisierung des Raumes“(27) noch die später von Adolf Hitler favorisierte „Germanisierung der Menschen“(ebd.) im Protektorat Böhmen und Mähren vorangetrieben.
Lediglich einen groben Überblick über die Migrationsbewegungen der Tschechen aus den an Deutschland angegliederten Gebieten in den Jahren seit 1938/39 bietet der Aufsatz von Jan Gebhart (13-24). Bei diesem Themenkomplex wird das Fehlen grundlegender Forschungen ersichtlich, die einseitigen Sichtweisen gegenübergestellt werden könnten.1

Sehr aufschlußreich für das Verständnis der Verhaltensweisen vieler Sudetendeutscher im letzten Kriegsjahr sind die Ausführungen von Volker Zimmermann (55-72). Daß es im Sudetengau 1945 nicht zum Aufbegehren gegen die nationalsozialistische Herrschaft kam, erklärt Zimmermann mit der Angst der Sudetendeutschen vor Heimatverlust und tschechischem Terror (71). Geschehnissen vor beziehungsweise während der Vertreibung und Aussiedlung der Sudetendeutschen widmen sich Tomáš Stanĕk, Vladimír Kaiser und Milan Skřivánek. Deutlich wird dabei, daß die Erforschung der Vorgänge in den Jahren 1945/46 in der Tschechischen Republik in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung erfahren hat, was sich gerade in zahlreichen Regionalstudien manifestiert. Mit der Frage nach der Zahl der deutschen Vertreibungsopfer befassen sich die Studien von Maria Rhode (183-199) und Rüdiger Overmans (153-181). Daß in diesem Bereich Klärungsbedarf herrscht, zeigt die Tatsache, daß die Opferzahlen, die für die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei vorgelegt werden, zwischen 30.000 und 270.000 Personen schwanken. Rüdiger Overmans kommt zu dem Schluß, daß die Erfassung der Opferzahlen in der Bundesrepublik seit den fünfziger Jahren politisch instrumentalisiert wurde. Erst in den letzten zehn Jahren ist es zu einer nüchternen Betrachtung und genauen Erforschung gekommen. (173f). Maria Rhode setzt sich anhand der Volkszählungsergebnisse der Jahre 1939 und 1950 mit der Frage der sogenannten „Nationalitätswechsler“ auseinander. Mittels innovativer Methodik kommt sie zu dem Schluß, daß die Zahl der bei den Vertreibungsopfern als ungeklärt geltenden Fälle reduziert werden muß (199). Insgesamt bleibt die Frage nach der Zahl der sudetendeutschen Vertreibungsopfer problematisch. Um so wichtiger ist der Hinweis von Rüdiger Overmans darauf, daß Aussagen über die Höhe der Verluste „kein Maßstab für Leid oder Schuld“(181) sein können.

Die Vertreibungs- und Umsiedlungsfrage in der Slowakei wird in den Artikeln von Ľubomír Lipták, Dušan Kováč und Jan Pešek thematisiert. Liptáks Beitrag (111-122) dürfte dabei derjenige mit dem größten Erkenntnisgewinn sein. Er verdeutlicht, daß der Gedanke „eines massenhaften organisierten Abschubs“(121) der Slowakeideutschen zwar als in das Land „importiert“ bezeichnet werden kann, das Geschehen an sich jedoch durch den Slowakischen Nationalaufstand 1944 eine eigene Dynamik erhielt. Die Auseinandersetzung zwischen den Aufständigen und den deutschen Einheiten spitzte sich sehr schnell zu einem als prodeutsch-antideutsch verstandenen Gegensatz zu, was sich auf die seit 1939 in exponierter Stellung befindlichen Deutschen in der Slowakei auswirkte. Neben den Deutschen war die ungarische Bevölkerungsgruppe im Süden des Landes von Umsiedlungsplänen betroffen. Hier kam es im Vergleich zur Frage der Deutschen zu einer anderen Entwicklung, die im Beitrag von Lászlo Szarka über die Pariser Friedenskonferenz 1946 ersichtlich wird (245-254). War zuerst die vollständige Aussiedlung der ungarischen Bevölkerungsgruppe anvisiert worden, um so das Modell des tschecho-slowakischen Nationalstaates radikal durchzusetzen, so wurde aufgrund der sich seit 1945 im Donauraum ändernden politischen Gesamtsituation ein begrenzter slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch angestrebt. Die Problematik dieses ungleichen Austausches zeigt Štefan Šutaj auf (255-272). Während über 100.000 Ungarn zur Aussiedlung aus der Südslowakei gezwungen werden sollten, konnten sich Slowaken aus Ungarn freiwillig melden. Dabei gab sich ein deutliches Ungleichgewicht, durch das auch die wirtschaftliche Dimension des Vorgangs offengelegt wird. Meldeten sich auf der einen Seite vor allem ärmere Slowaken, so sollten gerade reichere Ungarn ausgesiedelt werden (269).

In einer der vergleichenden Studien im Sammelband behandelt György Gyarmati die Aussiedlung der Deutschen aus Ungarn, wovon etwa die Hälfte dieser ethnischen Gruppe betroffen war (273-277). Gyarmati deutet dabei vorsichtig an, daß die Zwangsmigration der Ungarndeutschen zusammen mit den zahlreichen Bevölkerungsverschiebungen in der Region „als Kettenglieder eines Vorgangs“ (276) interpretiert werden können. An dieser Stelle wäre eine pointiertere Darstellung wünschenswert gewesen, wie sie Ágnes Tóth in einer inzwischen auch auf deutsch vorliegenden Studie aufgezeigt hat.2 Darin werden die Vertreibung der Ungarndeutschen, der slowakisch-ungarische Bevölkerungsaustausch sowie durch Landreformen verstärkte Binnenwanderungen in einen direkten Zusammenhang gebracht. Abgeschlossen wird der Sammelband durch die Studie von Piotr Madajczyk über die Vertreibung aus dem Oppelner Schlesien (279-293) und Marina Cattaruzza über den „Istrischen Exodus“ (295-322). Im Fall der italienischen Bevölkerung Istriens kam es nicht zur Vertreibung, sondern zu einer Migration, die durch soziale Nivellierung und nationale Beeinflussung forciert wurde.

Der vorliegende Sammelband bietet eine gute Zusammenstellung zum Komplex der Vertreibung aus der Tschechoslowakei. Offensichtlich wird dabei, daß in den letzten Jahren sowohl auf tschechischer wie auch auf deutscher Seite eine sachliche Beschäftigung mit diesem schwierigen Thema an Boden gewonnen hat. Gut getan hätte dem Band allerdings eine vertiefende Darstellung zur allgemeinen Entwicklung der Aussiedlungsfrage in der Tschechoslowakei bzw. zur Diskussion über diese Frage in Ostmitteleuropa nach dem Kriegsende 1945. Bei der Auswahl der Vergleichsstudien wäre zudem eine stärkere Fokussierung auf die Zusammenhänge und die Beeinflussungen durch die Entwicklung in der Tschechoslowakei wünschenswert gewesen, wie sie im Donauraum erkennbar sind. In der vorliegenden Form stellen die Studien zu Schlesien, Ungarn und Istrien interessante Einzelbeispiele dar, die Vergleichsebene jedoch zur Tschechoslowakei bleibt unklar. Die Stärke der Publikation liegt somit vor allem in den regionalen Studien. Trotz dieser wenigen Einschränkungen handelt es sich um ein sehr aufschlußreiches Buch, daß den Trend fortsetzt, die Frage von Flucht und Vertreibung aus dem „Abseits der Verbandskultur“3 zu holen.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Habel, Fritz Peter: Eine politische Legende. Die Massenvertreibung von Tschechen aus dem Sudetengebiet 1938/39. München 1996.
2 Tóth, Ágnes: Migrationen in Ungarn 1945-1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderungen und slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch. München 2001 (Studien des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte, 12).
3 Zitiert aus dem Vorwort von Hans Lemberg zu: Brandes, Detlef: Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. München 2001 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 94).

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